Borniert analog

Zur ideologischen Dichotomie zwischen Digital Natives und Digital Immigrants

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Mit den Begriffen Digital Natives und Digital Immigrants spaltet der amerikanische Pädagoge Marc Prensky im Jahr 2001 die Medien nutzende Weltbevölkerung in zwei Gruppen. 2007 kehrt dieselbe Dichotomie in Johann Günthers gleichnamiger Monographie wieder, ein weiteres Jahr später verwenden die Juristen John Palfrey und Urs Gasser die Terminologie in ihrem Buch "Born Digital. Understanding the First Generation of Digital Natives".

In die Ecke,
Besen! Besen!
Seyds gewesen.
Denn als Geister
Ruft euch nur zu seinem Zwecke,
Erst hervor der alte Meister.

Johann Wolfgang von Goethe: Der Zauberlehrling

Zu den Digital Natives zählen nach Prensky junge Menschen zwischen Kindergarten- und College-Alter1, Günther übernimmt den Begriff ohne jegliche Definition und Prüfung, Palfrey und Gasser legen mit der Geburt nach 1980 eine striktere Grenze fest.2 Gemein sei den Digital Natives der selbstverständliche Umgang mit digitalen Technologien, denn: "They all have access to networked digital technologies. And they all have the skills to use those technologies."

Günther schreibt: "Natives sind jene Menschen, die mit dem Internet aufgewachsen sind und für die es ein Werkzeug, ein Instrument ist, das nicht mehr hinterfragt wird."3 Sie verfügen den Autoren nach über ein Maß an Medienkompetenz, das die theoretisch gegenübergestellte Gruppe der Digital Immigrants nur über vergleichsweise aufwendiges Einarbeiten erreichen kann - wenn überhaupt.

Jüngst fand der Begriff der Digital Natives Verwendung in der am 5.11.2009 erschienenen TNS-Infratest-Studie Zukunft und Zukunftsfähigkeit der Informations- und Kommunikationstechnologien und Medien. Dort wird er im Vorwort in einem Halbsatz deklariert als die "Generation, die mit dem Internet groß geworden ist" und auf den 300 folgenden Seiten nicht weiter spezifiziert.4

Hier zeigt sich, dass Prenskys idealtypische Spaltung von Anwendern digitaler Technologien und die resultierende begriffliche Unschärfe inzwischen weitgehend unhinterfragt in Alltags- und Wirtschaftssprache, aber auch das begriffliche Repertoire (populär-)wissenschaftlicher Publikationen hinein sickert. In dieser Entwicklung sehen wir Anlass genug, die von den genannten Autoren instrumentalisierten Begriffe, ihren rhetorischen und historischen Kontext und damit verbundene Ideologien kritisch zu hinterfragen.

Ungezähmte, Raum und Sprache

Das Oxford Reference Dictionary definiert das Substantiv native als "a local inhabitant [...,] a member of a non-European or less civilized indigenous people".5 Das Cambridge International Dictionary of English führt die Verwendung des Begriffs im Kontext des Kolonialismus weiter aus und ergänzt eine zeitgenössische Bewertung. Der Begriff native beschreibe eine Person, "who lives in a simple and traditional way in a country considered to be less developed than the speaker's own country. This usage is increasingly considered offensive".6

Europäer bzw. Repräsentanten der (westlichen) Hemisphäre betrachten Natives bzw. Eingeborene demnach aus einem herablassenden Blickwinkel, die Vorgefundenen werden als inferior und lebensunfähig beurteilt. Das Freie, Wilde und Ungezähmte muss daher in der Konsequenz dieser Logik durch politisch motiviertes Handeln der vermeintlich naturgemäß Überlegenen auf den rechten Weg gebracht werden. Diese Haltung markiert die Fehlannahme und den blinden Fleck in der Wahrnehmung der Kolonialisten, denn offensichtlich müssen die zu Belehrenden bereits vor Ankunft der Eindringlinge durchaus überlebensfähig gewesen sein.

Des Weiteren verweist der Begriff des native auf, "the country or place where you were born [...] rather than brought from somewhere else".7 Der Begriff verweist also auf eine Bevölkerungsgruppe innerhalb eines spezifischen geographischen Raums. Dass die Bewohner dieses Raumes mit ihm verwachsen und mangels Reflexion nicht im Stande seien, sich davon zu lösen, wird von den mobilen Kolonialisten ebenfalls angenommen und als Zeichen von Rückständigkeit und Minderwertigkeit gewertet.

Mit dem Raum verbunden wird darüber hinaus zumeist eine Muttersprache, im Englischen als native language bezeichnet. Der native speaker "acquires the L1 [language, d. A.] of which s/he is a native speaker in childhood [… or] is defined by early acquired knowledge".8 Das Zitat zeigt, auch die "native language", die begrifflich auf die Geburt verweist, ist ausschließlich dem Prozess der Sozialisierung zuzuordnen. Insofern sie keine Naturgegebenheit, sondern das Ergebnis eines Erwerbsprozesses darstellt, kann sie nicht Grundlage kolonialistischer Hierarchien sein, die wesentlich auf postulierten Naturgesetzen beruhen.

Natives vs. Immigrants: Wenn Populärwissenschaft auf Idealtypologie trifft

Zu betonen ist zunächst noch einmal, dass die strikte Trennung zwischen Digital Natives und Digital Immigrants rein idealtypischer und damit theoretischer Natur ist. Zwar ist es die Absicht jeglicher Theoriebildung, einen Ausschnitt der Realität zu beschreiben, allerdings geschieht dies mit unterschiedlicher Methodik. So ist der Idealtypus "kein klassifikatorischer Begriff mit scharfen Grenzen (wie es der Typus Mann im Gegensatz zum Typus Frau wäre), kein 'Grenzbegriff', sondern ein Terminus für Einheiten (beobachtbare, erschließ- oder rekonstruierbare), die sich mit den konkreten Objekten oder Erscheinungen in der Wirklichkeit grundsätzlich nur annäherungsweise decken können".9 Der Idealtypus repräsentiert also in besonderer Weise eine Form der Begriffsbildung, die zugunsten von Handhabbarkeit auf Vereinfachung und Stilisierung zurückgreift, diesen Abstand zur Realität aber bewusst hervorkehrt und reflektiert.

Alle genannten Autoren, von Prensky bis Palfrey/Gasser, unterlassen es aufgrund mangelhafter Begriffsbildung, auf diesen entscheidenden Umstand hinzuweisen. Vielmehr werden Natives und Immigrants alltagssprachlich mit "we" und "they" bzw. "diese" und "jene" angesprochen.10

Die von Palfrey/Gasser ins Feld geführte Zäsur des Geburtenjahrgangs unterstreicht einen Gestus, der sämtliche vorhandenen Graustufen in der Medienkompetenz über Bord wirft. Aber nicht nur Graustufen, sondern auch völlig gegenläufige Phänomene wie der "Silversurfer" oder junge Menschen, die sich der digitalen Kultur oder Teilen von ihr bewusst oder unbewusst entziehen, fallen über den schmalen Tellerrand der Natives-Immigrants-Dichotomie. Letztgenannte belegen überdies, dass sich der Zugang zu und das Verständnis von digitalen Medien nicht allein über eine rein alters- oder generationenbasierte Argumentation herleiten lässt.

Die mangelnde Präzision der Arbeit der Autoren setzt sich in der unreflektierten Wahl der Begriffe Native und Immigrant und deren Begriffsgeschichte fort. Wie bereits gezeigt, wird das Wort "native" im Kontext des Kolonialismus auf problematische Weise hierarchisch verwendet. Um politischen Interessen nachgehen zu können, wird den damit Bezeichneten eine Lebensuntauglichkeit konstatiert, die vorgeblich durch Angehörige der westlichen Welt behoben werden muss – notfalls mit Gewalt. Die vermeintliche Überlegenheit von Außenstehenden gegenüber Natives verläuft, wie gezeigt, entlang geographischer und sprachlicher Grenzen und nicht an denen von Alter bzw. Generation, wie Prensky, Günther, Palfrey und Gasser behaupten.

In ihrer Terminologie steht Sprache zudem metaphorisch für einen allgemeinen Begriff von Medienkompetenz: Digital Natives sprechen eine andere "Sprache" als Digital Immigrants. Letztere sehen sich einer fremden, für sie unverständlichen Welt ausgesetzt, auf die sie mit verständnislosem Staunen ("Chances are, you've been impressed with some of the skills these Digital Natives possess."11), aber auch Verärgerung und Angst reagieren. Günther zitiert hierzu Peter Henisch, der sich über den Verfall von Kommunikationsformen beklagt.12 Palfrey und Gasser schreiben, dass "there's also a good chance that a Digital Native has annoyed you. […] Maybe you're even a bit frightened by these Digital Natives."13 Die Fremden sind hier "these”: die anderen, auf die man mit dem Finger zeigt.

Diese simplifizierte Trennung geht so weit, dass Sprache und Medienkompetenz nicht als erlernte und sozialisationsbedingte Fähigkeiten erkannt werden. Vielmehr werden sie naturalisiert und damit dem unkontrollierbaren Kontext der Evolution zugeordnet. Was Palfrey und Gasser nicht verstehen, bezeichnen sie daher nicht als kulturelle oder technische Kompetenz, sondern immer wieder als "Instinkt". Dieser benötigt, ganz im Sinne einer kolonialistischen Logik, Zähmung und Hilfe: "It's crucial to help them put both their own instincts and what they are watching others do into perspective."14

Der virtuelle Raum, mit dem diese (Medien-)Sprache verknüpft ist, definiert sich nicht mehr vorrangig über geographische Grenzen. Während sich geographischer und territorialer Raum nur sehr langsam durch Erosion oder durch Kriege hervorgerufene Grenzziehungen verändern, ist der virtuelle Raum von fließenden Grenzen geprägt. Während im Falle des historischen Kolonialismus Europa von den Natives noch durch räumliche Grenzen und ganze Ozeane getrennt war, sind diejenigen, die als Digital Natives bezeichnet werden, bereits Teil der bestehenden Gesellschaften - eine physisch-räumliche Trennung ist unmöglich geworden. Obwohl die Autoren Prensky et al. den Raum aus ihrem Begriff vom Native scheinbar ausklammern, arbeitet er so unter der Oberfläche weiter und bietet einen weiteren Ansatz zur Erklärung der angstgetriebenen Rhetorik.

Wenngleich niemand bestreiten würde, dass sich aus dieser Beschleunigung ernstzunehmende Veränderungen ergeben, ist Palfreys und Gassers Reaktion darauf vor allem von Überforderung geprägt. "Die" Kinder – also Digital Natives – werden als in einer bedrohlichen Lage befindlich gesehen und daher erneut mit gönnerhafter Top-Down- Pädagogik bedacht:

Too often, we are leaving our children alone to shape their identities in a fragile, fast-moving, hard-to-control environment online. And too often, the decisions that we make in favor of convenience mean giving up control that, at some point in the future, we may wish we had retained.

Palfrey/Gasser

Zwar ist es die Generation der Digital Immigrants, welche für die Schaffung der technischen Infrastruktur des virtuellen Raums verantwortlich ist bzw. "den Boden für die Natives aufbereitet"15 hat, der aber nun maßgeblich von nachfolgenden Generationen genutzt und gestaltet wird. Da Medienkompetenz zunehmend auch Weltbewältigungskompetenz bedeutet, sind die nachwachsenden Generationen ihren Eltern daher oft nicht mehr nur in der bloßen Nutzung der Technik überlegen.

Mit den mahnenden Worten der Digital Immigrants wird daher auch eine profane Angst verschleiert, Macht und Kontrolle zu verlieren. Auch insofern sind die Begriffe Digital Natives und Digital Immigrants in interessanter Weise in ihrer Verwendung verdreht: Während Immigrants mit Bewegung und Fortschritt assoziiert sind, ist mit Natives ein Beharren auf Raum und Tradition verbunden. Tatsächlich sind aber Prensky, Günther, Palfrey und Gasser keine Einwanderer, die mit leeren Händen in ein neues Land kommen, sondern etablierte Dozenten, die weitgehend bewegungslos auf die Dynamik der nachwachsenden User starren.

Begriffsschöpfer Marc Prensky begegnet "den" Digital Natives noch mit bloßer Pragmatik, die sich aber als nicht weniger hilflos geriert. Wer sich nicht an die Dynamik und Veränderung anpasst, so Prensky, hat ausgedient.16

Sowohl hinter Günthers verkappter und Palfreys/Gassers offener Top-Down-Rhetorik, als auch Prenskys Aufruf zur pragmatischen Anpassung versteckt sich die Befürchtung, bald abgemeldet zu sein. Die Konzepte der Autoren gehen zudem von einem weitgehend widerspruchs-, reflexionsfreien und leichtfertigen Umgang von Digital Natives mit Technik aus. Diese Auffassung resultiert sowohl aus Selbstüberschätzung, als auch einem sehr enggeführten Verständnis von Reflexion und "common sense", den Palfrey und Gasser immer wieder als wenig stichfestes Allheilmittel ins Feld führen17. So werden zum einen die Relevanz und Wirkungsmacht von Handlungen als Mittel des praktischen Erkenntnisgewinns, zum anderen verschiedene "common senses", die z. B. auch im Netz existieren und von Usern ausgehandelt werden, ignoriert.

Goethes Zauberlehrling ist mit der Magie und ihrer Macht, die ihm anvertraut wurde, noch überfordert. Erst der schicksalhaft zum rechten Zeitpunkt wiederkehrende Meister, dessen Weisheit gefordert und gebraucht wird, vermag die etablierte Ordnung der Welt wiederherzustellen und dem Chaos ein beruhigendes Ende zu setzen. Prensky, Günther, Palfrey und Gasser warten heute jedoch vergeblich auf den aufatmenden Ausruf "Ach! Da kommt der Meister!" ihrer Digital Natives. Letztere rütteln derzeit kräftig an der etablierten Ordnung und Machtverteilung, was manchem ihrer Vertreter ein Dorn im Auge ist.

Die Veränderungen, die dieser Prozess auf vielen Ebenen mit sich bringt, ist in seinen vielseitigen Wirkungen nicht zu unterschätzen. Anstatt dem Prozess aber in gegenseitigem Dialog zu begegnen, bauen die hier zitierten Autoren auf eine Reihe von Konzepten, die, wissentlich oder unwissentlich, unter dem Deckmantel von Wissenschaftlichkeit operieren, tatsächlich aber krass verallgemeinernd, dogmatisch, ideologisch und von einer Kultur der Angst gezeichnet sind. Und Angst hat schon zu vielem geführt – sicher aber nicht zu einem besseren Verständnis des Fremden, das die Autoren vorgeben zu suchen.

Andreas R. Becker, Matthias Koch und Antonio Roselli haben die AG Digitalität und Gesellschaft gegründet. Als Medienwissenschaftler und Nachwuchsforscher beschäftigen sie sich mit Phänomenen der Digitalisierung, im Speziellen des Internets. Dazu zählen die kritische Betrachtung medienspezifischer Begriffe und der Wechselwirkung technischer und sozialer Entwicklungen sowie die Kontextualisierung von aktuellen Ereignissen, Debatten und medialen Strategien.