Brüssels Scherbenhaufen Kosovo

Der Grenzkonflikt zwischen Belgrad und Priština hat die EU kalt erwischt. Nun versuchen Vermittler zu retten, was zu retten ist

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Die Diplomaten sind gescheitert, nun sollen es doch die Soldaten richten. Eine Woche nach massiven Zusammenstößen an der Grenzen zwischen der Republik Serbien und dem Kosovo hat die NATO-Truppe KFOR 600 Mann der sogenannten Operativen Reservetruppe (ORF) an die Demarkationslinie entsandt, um eine weitere Eskalation der Lage zu verhindern. Neben 550 Bundeswehrsoldaten sind mit dieser Aufgabe 150 Mann des österreichischen Bundesheers betraut. In der kosovarischen Hauptstadt Priština bemüht sich derweil EU-Vermittler Robert Cooper, Vertreter Serbiens und des Kosovos an einen Tisch zu bekommen. Der Ausgang ist ungewiss. Für die Europäische Union ist der Konflikt der GAU ihrer Westbalkan-Politik. Entsprechend hilflos reagieren EU-Spitzenpolitiker.

Der Konflikt zwischen Belgrad und Priština hatte sich zunächst auf die diplomatische Ebene beschränkt, als die kosovarische Führung vor zwei Wochen überraschend die Einfuhren serbischer Waren sperrte. Sie reagiere darauf auf eine entsprechende Beschränkung auf serbischer Seite. Die Behörden in Belgrad hatten vor drei Jahren ein Einfuhrstopp für Waren aus dem Kosovo beschlossen, weil sie den Zollstempel des Kleinstaats nicht anerkennen.

Nach der Sanktionsmaßnahme ließ die kosovarische Führung die beiden Grenzposten Jarinje und Brnjak von einer Sondereinheit ihrer Polizei stürmen, um das Importverbot durchzusetzen. Daraufhin schlugen bewaffnete Gruppen der im Nordkosovo lebenden serbischen Minderheit zurück und brannten einen Grenzposten nieder. Ein Polizist wurde erschossen. Seither blockieren Bewohner der serbischen Enklave Kosovska Mitrovica die wichtigsten Zugangsrouten. Mehrere Fristen der NATO-Truppe KFOR sind verstrichen.

Am vergangenen Freitagnachmittag musste KFOR-Kommandeur Erhard Bühler unverrichteter Dinge abdrehen. Der Generalmajor und Kommandeur der 10. Panzerdivision der Bundeswehr konnte sich gegen die aufgebrachten und in Teilen bewaffneten Demonstranten nicht durchsetzen, die eine Rückgabe der Grenzposten an Serbien fordern.

Vom Frühstück in den Grenzkonflikt

Die Blamage für die verantwortlichen EU-Politiker könnte kaum größer sein. Noch knapp zwei Wochen vor dem Gewaltausbruch an der serbisch-kosovarischen Grenze hatten deutsche EU-Politiker Erfolgsmeldungen aus Brüssel nach Berlin gefunkt. Bei einem Arbeitsfrühstück mit Mitgliedern der Westbalkan-Arbeitsgruppe der EU habe Kosovos Außenminister Enver Hoxhaj erklärt, Priština habe 90 Prozent des Anfang 2007 erstellten Ahtisaari-Plans zur Befriedung der Region umgesetzt. Als "besonders stolz" habe sich Kosovos Chefdiplomat darüber gezeigt, dass seine Regierung einen wirksamen Minderheitenschutz gewährleiste, heißt es in einem internen Papier des Auswärtigen Amtes. Im Norden des Kosovos müsse nun ein funktionierendes Gemeinwesen geschaffen werden, so Hoxhaj, der Bedenken anwesender EU-Vertreter zerstreute: Der EU-Beauftragte Peter Feith könne seine Mission als erledigt ansehen und auch die KFOR-"Schutztruppe" könne reduziert werden.

Wenig später explodierte die Lage an der Grenze - und die Selbstzufriedenheit in Brüssel war passé. Der neuerliche Ausbruch von Gewalt sei "bedauerlich", sagte EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton, die sich im üblichen Diplomatenjargon "besorgt" zeigte und die das Geschehen "zutiefst verurteilte". Die Ratlosigkeit in Brüssel wiegt umso schwerer, als die EU von der UNO im September 2010 als Vermittlerin zwischen Belgrad und Priština ernannt wurde. Dabei hat die Union untereinander anhaltende Probleme in der Kosovo-Frage. Fünf Mitgliedsstaaten - Griechenland, Rumänien, die Slowakei, Spanien und Zypern - lehnen die anvisierte vollständige Anerkennung des Balkan-Kleinstaates ab. Diese Kritiker fürchten eine Präzedenzwirkung für ethnische und Grenzkonflikte in den eigenen Ländern. Für die EU ist das keine gute Verhandlungsbasis.

EU verliert in der Region an Zustimmung

Das widerspiegelte sich deutlich im Krisenmanagement Brüssels. Tagelang versucht EU-Vermittler Robert Cooper nun schon einen Kompromiss zu erzielen. Nachdem am Donnerstag vergangener Woche die für außenpolitische Fragen zuständigen EU-Botschafter zusammenkamen, legte Cooper einen Kompromissvorschlag vor. Die Grenzposten sollen demnach von Personal aus Serbien und dem Kosovo geführt werden. Im Gegenzug sollen die serbischen Demonstranten die Straßenblockaden räumen. Die beiden Checkpoint würden künftig nur für PKW und Busse zugelassen, um den Warenstreit zu umgehen. Und schließlich sollen beide Seiten im September die Verhandlungen um den kosovarischen Zollstempel fortführen.

Der Vorschlag wurde zunächst nicht angenommen. Vor allem die Führung in Priština sperrt sich, während Regierungschef Hashim Thaci vor einer "Öffnung der Grenzfragen in der gesamten Region" warnte, sollten die Forderungen nach einer vollständigen Kontrolle der Grenzen zu Serbien nicht erfüllt werden. Auch die kommissarische Übernahme der beiden Grenzübergänge durch die KFOR hat das Kosovo zurückgewiesen.

In Serbien wagt die pro-westliche Regierung von Präsident Boris Tadić derweil eine Gratwanderung. In einer zehnstündigen Parlamentsdebatte hatte Tadic alle Mühe, eine von nationalistischen Teilen der Opposition geforderte robuste Reaktion abzuwenden. Am Ende forderten die Abgeordneten in einer gemeinsamen Resolution eine "diplomatische Lösung" des Konflikts an der "administrativen Grenze". Zugleich erhob das Parlament in Belgrad - in deutschen Medien kaum berichtet - schwere Vorwürfe gegen externe Akteure. KFOR und EU-"Rechtsstaatsmision" EULEX hätten der Eskalation tatenlos zugesehen, während "einzelne Vertreter der internationalen Gemeinschaft" die kosovarische Führung zu dem Vorgehen an den Grenzübergängen ermuntert haben soll - eine Seitenhieb gegen die USA.

Den Schaden der andauernden Krise wird vor allem die EU davontragen. Brüssel stützt die Vermittlung zwischen Serbien und dem Kosovo vor allem auf das Versprechen einer Einbindung in die Union. Doch die Wirtschaftskrise im Süden der EU lässt für weitere Aufnahmen strukturschwacher Staaten kaum mehr Raum. Die Zeit rennt davon: Kosovos Außenminister Hoxhaj wies die EU-Diplomaten Mitte Juli auf den Widerstand in den eigenen Reihen gegen eine Annäherung an Serbien hin. Viele Abgeordnete erwarteten mehr "Belohnungen", auch aus Brüssel. In Serbien muss Präsident Tadić angesichts der Parlamentswahlen kommendes Jahr konkrete Ergebnisse, etwa einen Kandidatenstatus für die EU, vorweisen. Schon Anfang April ist die Zustimmung für einen EU-Beitritt in Serbien erstmals deutlich unter 50 Prozent gesunken.