Bücher werden nicht digitalisiert

Der Direktor der Library of Congress, der weltweit größten Bibliothek, ist dem Internet gegenüber skeptisch eingestellt

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Viele Internetenthusiasten gehen davon aus, dass die herkömmlichen Bibliotheken allmählich an Bedeutung verlieren, wenn wir von der Gutenberg- zur Turinggalaxy übergehen. Publikationen in Zukunft werden mehr und mehr direkt im Netz publiziert werden, während das Internet sich zu einer globalen Bibliothek umwandeln wird, wenn auch zunehmend mehr Bücher und andere Druckwerke aus der Vergangenheit digitalisiert werden. Doch James Billington, der Direktor der weltweit größten Bibliothek, sieht das anders und hat unlängst während eines Vortrags über die Zukunft der Library of Congress im Informationszeitalter gesagt, dass man nicht vorhabe, den Bestand an Büchern zu digitalisieren und ins Netz zu stellen.

Die Library of Congress hat einen Bestand von 119 Millionen Dokumenten, die sich in Regalen mit einer Länge von 530 Meilen befinden. Mehr als 18 Millionen Bücher, 14 Millionen Fotografien, 4 Millionen Karten, 53 Millionen Manuskripte und natürlich auch die weltweit größte Sammlung von Filmen, Videos und Tonaufzeichnungen werden täglich durch über 20000 Neuzugänge erweitert. Auf der Website der Bibliothek wurden bereits drei Millionen Dokumente aller Formate zur Verfügung gestellt.

Doch James Billington ist offenbar vom Internet nicht recht überzeugt, was ihn durchaus zu einem Außenseiter machen könnte. Zwar soll demnächst eine neue Website eröffnet werden, um, wie er sagte, "eines der frühesten Versprechen des Internet" zu realisieren: "Die Library of Congress jedem Jungen und jedem Mädchen unabhängig davon, wo er oder sie lebt, mit einem Tastendruck verfügbar zu machen." Aber hier sollen nicht ganze Bücher, sondern wenig benutzte Dokumente wie Karten oder Tonaufzeichnungen veröffentlicht werden: "Wir besitzen soviele Dokumente in speziellen Formaten, die noch nie jemand gesehen hat." Und diese der Öffentlichkeit über das Internet zur Verfügung zu stellen, sei weitaus wichtiger als ganze Bücher.

Die Weigerung, den Bücherbestand zu digitalisieren, entspringt für ihn aber nicht nur strategischen Überlegungen, was man zuerst veröffentlichen sollte, sondern auch einer offenbar tiefen Abneigung gegenüber dem Internet: "Bislang scheint das Internet weitgehend die schlimmsten Eigenschaften des Fernsehens mit dessen Neigung zu Sex und Gewalt, halbgebildetem Gestammel, verkürzten Aufmerksamkeitsspannen und nahezu völliger Unterwerfung unter kommerziellen Gesichtspunkten zu erweitern." Überdies gebe es einen "Unterschied zwischen dem Wenden von Seiten und Herunterscrollen einer Webseite". Ein Buch sollte eine Art der Achtung hervorrufen, während elektronische Bücher "verführen" und das Internet einsam mache. Man solle nicht alles, was man erhalten kann, auch elektronisch erhalten: "Sie werden keiner dieser geistlosen Futuristen sein wollen, die vor einem einsamen Bildschirm sitzen. Das isoliert. Es ist etwas Einsames", während "Bibliotheken ein Ort, etwas Gemeinschaftliches" seien.

Freie Bibliotheken bezeichnete er als "die absolute Plattform, die für unsere Demokratie wesentlich" seien. Auf die Frage, wie er zu der Forderung nach Filtern für den Internetzugang in Bibliotheken stehe, antwortete er nicht direkt, meinte aber, dass Bibliotheken an sich gegen Zensur angelegt seien. Die Library of Congress versuche vornehmlich, "ein Beispiel für das Gute" zu geben, während eine Regierung, die das Böse definieren wolle, damit schnell auf einen schlüpfrigen Pfad gerate.