Bürger an die Macht: Ein neuer Ansatz zur Corona-Aufarbeitung

Bürger am Tag der offenen Tür vor dem Kanzleramt

Tag der offenen Tür: Bürger vor dem Kanzleramt. Bild: Mo Photography Berlin /Shutterstock.com

Wie effektiv kann ein zufällig ausgeloster Bürgerrat die komplexe Corona-Politik aufarbeiten? Experten zweifeln, Bürger hoffen.

Die Forderung nach einer systematischen Aufarbeitung der Corona-Zeit ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen.

Grundsätzliche Argumente dagegen zu finden dürfte auch schwer sein, schließlich gehören Evaluierungen schon lange zum Standard in Politik, Wirtschaft und auch Zivilgesellschaft.

Folgen von Gesetzen und Rechtsverordnungen müssen überprüft werden

So sollen ohnehin alle neuen Gesetze und Rechtsverordnungen, welche die Bürger in einem gewissen Ausmaß tangieren, nach drei bis fünf Jahren von der Politik auf beabsichtigte und unbeabsichtigte Folgen hin überprüft werden (siehe Sachstand Wissenschaftliche Dienste des Bundestags).

Uneinigkeit besteht allerdings bisher über die Methoden der Aufarbeitung und das Personal. Im Gespräch sind u.a. Untersuchungsausschuss, Enquete-Kommission und Bürgerrat.

Was kann ein Untersuchungsausschuss?

Einen Untersuchungsausschuss hatte die AfD im Bundestag bereits 2023 gefordert. Im Brandenburger Landtag gibt es einen, in Hessen setzt die AfD gerade einen ein, der über mehrere Jahre arbeiten soll.

Untersuchungsausschüsse sind vor allem ein Instrument für die parlamentarische Opposition, Regierungs- und Verwaltungshandeln zu überprüfen. Sie können Zeugen vernehmen, die Verweigerung einer Aussage kann mit Ordnungsgeld bis 10.000 Euro belegt werden.

Auch haben sie Einsicht in vertrauliche Dokumente. Bundesregierung und Behörden sind nach § 18 Untersuchungsausschuss-Gesetz zur Vorlage geforderter Beweismittel verpflichtet. "Gerichte und Verwaltungsbehörden sind zur Rechts- und Amtshilfe verpflichtet" (Art. 44 Abs. 3 GG). Beweiserhebungen finden in öffentlicher Sitzung statt.

Was bewirkt eine Enquete-Kommission?

Eine Enquete-Kommission besitzt nicht die Rechte eines Untersuchungsausschusses und wird regelmäßig mit Abgeordneten und externen Fachleuten besetzt. Sie dient vornehmlich der "Vorbereitung von Entscheidungen über umfangreiche und bedeutsame Sachkomplexe" (§ 56 Geschäftsordnung des Bundestags).

Die Einsetzung einer Enquete-Kommission mit dem Titel "Coronavirus – Fehleranalyse und Entwicklung besserer Handlungsansätze für künftige Pandemien" hat die AfD am 23. April 2024 beantragt (Drucksache 20/11137). Auch die FDP fordert eine solche Kommission, bereits seit März 2023.

Die Auslosung eines Bürgerrats

Als drittes Verfahren steht die Auslosung eines Bürgerrats im Raum. Die Regierungsparteien können sich offenbar damit anfreunden. Das Verfahren hat vor allem nach Erfolgen in Irland (dort: Citizens' Assembly) seit 2019 auch in Deutschland an Popularität gewonnen.

Im Februar hat ein erster vom Bundestag eingesetzter Bürgerrat sein Gutachten vorgelegt, weitere bundesweite Bürgerräte sind in der Haushaltsplanung berücksichtigt.

Aus der oppositionellen CDU kommt Widerspruch. Tino Sorge, gesundheitspolitischer Sprecher, befürchtet ein Tribunal, das nach Schuldigen sucht. Er fordert eine Bund-Länder-Kommission mit Politikern und Experten, aber ohne "Bürgerlotterie".

Die ebenfalls oppositionelle AfD ist grundsätzlich gegen Bürgerräte, für ihren stellvertretenden Bundessprecher Stephan Brandner sind sie schlicht "völliger Quatsch".

Themen für die Aufarbeitung

Doch bevor man über die Methode einer Aufarbeitung streitet, sollte feststehen, was eigentlich aufzuklären ist. Aus der Kritik der letzten vier Jahre extrahiert, ergibt sich ein Potpourri aus vielen Themen, die kaum in ein einziges Format passen werden.

Aus dem politischen Raum sicherlich besonders wichtig:

* Wie erfolgreich waren die einzelnen Maßnahmen wie Quarantänepflicht, Kontaktbeschränkungen, Geschäfts-, Schul- und Kita-Schließungen, (FFP2-)Maskenpflicht, Reise- und Versammlungsverbote (inkl. Demonstrationen und Gottesdienste), 3-G- und 2-G-Regelungen?

* Welche Nebenwirkungen hatten diese getroffenen Maßnahmen (Wirtschaftseinbruch, Bildungsdefizite, verringerte medizinische Versorgung außerhalb des Corona-Fokus, psychische Erkrankungen, Entwicklungsverzögerungen und -störungen bei Kindern und Jugendlichen)?

* Mit welchen Mitteln und welchen Konsequenzen wurden die Maßnahmen durchgesetzt? In welchem Umfang wurden die Anordnungen von den Bürgern befolgt, hatten bspw. Bußgelder bei Regelverstößen die gewünschte Lenkungswirkung?

* In welchem Umfang waren die Parlamente in die Corona-Politik und deren Vollzug eingebunden, wie beurteilen dies ex post Regierungsmitglieder und Abgeordnete in Bund und Ländern?

Zur Klärung all solcher Fragen wird es Fachleute brauchen, die ihre persönlichen Meinungen hintanstellen und stattdessen die zur Beurteilung nötigen Fakten zutage fördern. Dazu wird man auch auf "die Wissenschaft" zurückgreifen müssen.

Doch sie ist dabei nicht die externe Evaluationsinstanz, vielmehr müssen auch für die Arbeit der Wissenschaft während der Pandemie zahlreiche Fragen geklärt werden. Beispiele für Evaluationsfragen an die Wissenschaft:

* Wie unvoreingenommen, ergebnisoffen haben verschiedene Disziplinen zu Corona geforscht?

* Wie weit wurden Forschungen selbst initiiert, wie weit wurden sie durch Aufträge oder spezielle Förderprogramme gelenkt? (Hintergrund: Die vielfache Klage über einen Mangel an Daten aus der Pandemie zeigt, dass diese nicht selbstständig von der Wissenschaft erhoben wurden.)

* Welche Aspekte wurden dabei besonders in den Blick genommen, welche wurden vernachlässigt (siehe Nebenwirkungen der Maßnahmen)?

* Welche Prognosen waren zutreffend, welche mehr als nur knapp daneben? Was lässt sich daraus für künftige Modellierungen bzw. deren politische Bedeutung ableiten?

* In welchem Umfang wurden aus wissenschaftlichen Befunden konkrete politische Handlungsempfehlungen formuliert?

Fragen an andere Professionen

Auch an andere gesellschaftliche Teilbereiche gibt es Fragen zu ihrer Rolle während der Pandemie. Etwa an das Rechtswesen:

* Wie (umfangreich) waren die Tatbestandsermittlungen in Gerichtsverfahren zu Corona-Maßnahmen und der Befolgung entsprechender Rechtssetzungen?

* Mit welchen Aspekten hat sich die universitäre Rechtswissenschaft in der Zeit befasst? Wie weit wurde die Situation als neu betrachtet und entsprechend bewertet, wie weit wurde dabei auf etablierte Entscheidungswege und Güterabwägungen gesetzt?

* Wie sah die Wechselwirkung zwischen Rechtsprechung und Rechtswissenschaft aus?

Weitere Adressaten für Fragen zur Aufarbeitung sind das gesamte Bildungswesen (Rolle und Verhalten von Schulen/ Lehrern, Kindergärten/ Erziehern, freie Jugendarbeit/ Sozialpädagogen), das Gesundheitssystem (Rolle und Verhalten von Ärzten und Klinkverwaltungen, Krankenkassen etc.) oder die Polizei (Schwerpunktsetzungen und damit verbundene Vernachlässigung anderer Bereiche, Gleichbehandlung von Bürgern, Anwendung des Opportunitätsprinzips bei Regelverstößen).

Eine besonders relevante Schnittstelle für alle gesellschaftlichen Bereiche waren gerade in der Pandemiezeit die journalistischen Medien. Politiker, Wissenschaftler, Juristen und normale Bürger waren wesentlich auf medial vermittelte Informationen angewiesen, ihr Bild von der Lage wurde jedenfalls sicherlich von Medien beeinflusst.

Umgekehrt dürfte der Medientenor Rückwirkungen auf öffentliche Äußerungen aller Corona-Akteure gehabt haben. Zu den vielen Fragen, die sich auf die Leistung der Medien beziehen, sei auf die umfangreiche Fallsammlung hier bei Telepolis verwiesen.

Fragen an die Bürgerschaft

Aber auch die Bürger selbst müssen ihren Umgang mit der Pandemie aufarbeiten. Auch sie kommen nicht als externe Evaluationsinstanz in Betracht, da sie - ob sie wollten oder nicht - in das Geschehen eingebunden waren und sich irgendwie verhalten mussten. Einige der virulenten Fragen, deren Beantwortung teilweise auch nur mit wissenschaftlichen Daten möglich sein wird:

* Wie zutreffend waren Bürger zu den verschiedenen Zeitpunkten über das Pandemie-Geschehen informiert?

* Haben sich mit Beginn der Krise Grundeinstellungen verändert, etwa zur Bedeutung von individueller Freiheit oder demokratischen Prozessen?

* Wie diskussionsoffen waren "Maßnahmen-Kritiker" und "Maßnahmen-Befürworter", welchen Austausch gab es innerhalb der jeweiligen Gruppen und der verschiedenen Positionen miteinander?

* Hat sich die Gesellschaft tatsächlich (stärker) gespalten, wie oft behauptet wird, und wenn ja in welcher Form und mit welchen Folgen?

* Wurde das soziale Gefüge durch die Pandemie-Politik verändert?

* Unterscheidet sich die postpandemische Gesellschaft von der präpandemischen, gab es also messbare, bisher gebliebene Unterschiede zwischen der Zeit vor den Anti-Corona-Maßnahmen und der Zeit danach?

Funktion eines Bürgerrats

Um den möglichen Beitrag eines Bürgerrats zur Aufarbeitung der Pandemie-Zeit abschätzen zu können, muss man sich zunächst vergegenwärtigen, wie das Instrument grundsätzlich konzipiert ist.

Die Mitglieder eines Bürgerrats werden per Los aus der Gruppe all jener bestimmt, für die sie stellvertretend Sachfragen beraten sollen. Damit soll dann zweierlei gewährleistet werden.

Zum einen kommen anders als bei nicht-gelosten Bürgerbeteiligungsverfahren nicht nur diejenigen zusammen, die sich für das benannte Thema besonders interessieren (in der Regel, weil sie ihre individuellen Interessen vertreten wollen). Stattdessen soll die Beratungsgruppe möglichst repräsentativ für die heterogene Gesamtheit sein, aus der sie rekrutiert wird.

Zum anderen wird durch das Format gewährleistet, dass genügend Zeit für die Beratungen besteht. Wer für einen Bürgerrat ausgelost wurde und daran (bisher freiwillig) teilnimmt, verpflichtet sich für die gesamte angesetzte Zeit, normalerweise also mehrere Tage. Um dies familiär und beruflich zu ermöglichen, gibt es entsprechende (finanzielle) Hilfen.

Gewährleistet werden soll damit also, dass eine kleine Teilmenge der Gesellschaft miteinander etwas berät, was in der Gesamtheit der Bürger logistisch, zeitlich und finanziell nicht möglich wäre.

Ein solcher Bürgerrat nach dem derzeit in Deutschland praktizierten irischen Modell besteht aus 160 ausgelosten Personen. Um dabei die Repräsentativität zu erhöhen, wird teilweise mit geschichteten Stichproben gearbeitet (ausführlich dazu Philipp Verpoort im Podcast "Macht:Los!"). So soll dann etwa der jeweils höchste formale Bildungsabschluss im Bürgerrat seinem Anteil in der Bevölkerung entsprechen.

Da die Ausgelosten keinerlei spezielle Qualifikation für das Beratungsthema mitbringen müssen, ist ihre Aufgabe ganz wie bei Wahlen, sich als 'normale Bürger' für oder gegen etwas zu entscheiden. Der große Unterschied zu Wahlen ist dabei, dass sie sich zuvor intensiv mit den zur Entscheidung anstehenden Fragen beschäftigen und so für ihre Diskussionen miteinander alle auf einem einigermaßen gleichen Informationslevel sind.

Die entscheidende Annahme bei solchen auf Los basierenden Verfahren ist, dass die am Ende stehende Entscheidung bzw. Empfehlung ("Bürgergutachten") unabhängig von den konkret Mitwirkenden ist, das Ergebnis also reliabel ist: ein weiterer Bürgerrat sollte dann zu den gleichen Schlüssen kommen. Im deutlich älteren, Bürgerräten aber ähnlichen Verfahren "Planungszelle" wird dies tatsächlich durch die parallele Veranstaltung mehrerer solcher, voneinander unabhängiger Beratungsgruppen gewährleistet.

Stimmen hier die Ergebnisse überein und stellt die externe Evaluation keine Verfahrensfehler fest, darf man davon ausgehen, dass auch die Gesamtgesellschaft zu diesem Ergebnis käme, könnte sie entsprechend ausführlich und informiert miteinander sprechen.

Um zu ermitteln, was hinreichend informierte Bürger über einen auch sehr speziellen, komplizierten Sachverhalt denken und meinen, sind Bürgerräte bzw. Planungszellen sicherlich das derzeit beste Verfahren. Alle berechtigte Kritik daran muss stets den tatsächlichen Alternativen gegenübergestellt werden.

Expertenherrschaft und Volksabstimmungen

Da ist einmal das Expertentum, wie es insbesondere eine Enquete-Kommission abbilden soll. Hier kann zwar auf hohe sachliche Kompetenz gesetzt werden, es fehlt jedoch völlig das demokratische Element der Gleichheit aller Bürger, wenn es um die Entscheidungsbefugnisse über ihr eigenes Leben geht.

Zur Erörterung eines Themas braucht es zwingend die Fachleute, für eine demokratische Entscheidung am Ende aber die Bürger.

Die andere Alternative ist direkte Demokratie. Hier ist zwar in Form von Volksabstimmungen (bzw. auf kommunaler Ebene: Bürgerentscheiden) formal die Gleichheit der Bürger am besten verwirklicht, weil jeder (Wahlberechtigte) eine Stimme hat.

Doch wir haben eine völlige Ungleichheit bei der Informiertheit - und bei der Bereitschaft zur Teilnahme an der Abstimmung. Abgefragt wird eine Meinung, die keinerlei inhaltliche Begründung braucht, die keinerlei Beschäftigung mit der Vielfalt an Vorschlägen und dem zugehörigen Pro und Contra verlangt.

Bürgerräte sind keine Kreativwerkstätten

Aus der Zusammensetzung von Bürgerräten ergibt sich, dass sie sich ideal zur Entscheidungsfindung eignen, wenn der Sachverhalt schwierig ist.

Deshalb bieten sie sich besonders in zwei Fällen an: Wenn das Thema sehr speziell oder randständig ist, es in der Öffentlichkeit kaum (angemessen) diskutiert wird, aber gleichwohl eine Entscheidung getroffen werden muss. Oder wenn das Thema sehr konfliktbeladen ist und in der Öffentlichkeit überwiegend divergierende Meinungen aufeinander prallen, ohne dass eine gegenseitige Verständigung erzielt wird.

Aus der Zusammensetzung von Bürgerräten ergibt sich aber auch, dass sie ungeeignet sind für etwas, das ihnen jedoch oft als Aufgabe zugeschrieben wird, nämlich kreativ zu sein und eigene Lösungen für Probleme zu entwickeln. Denn wenn Kreativität gefragt ist, wenn nach neuen, guten Ideen gesucht wird, dann ist eine Begrenzung des Pools, aus dem geschöpft werden kann, gerade nicht sinnvoll.

Es sollte nicht dem Zufall überlassen sein, ob eine später von allen oder wenigstens den meisten akzeptierte Idee in der Gruppe der Ausgelosten geboren wird oder eben nicht. Viel mehr sollte man das gesamte Potential ausschöpfen, hier also alle Bürger nach ihren Vorschlägen und Erfahrungen fragen (und sicherlich auch über die jeweiligen geografischen Grenzen hinausblicken).

Für diese kreativen Prozesse gibt es u.a. Parteien, NGOs, Petitionen und viele Möglichkeiten offener Konsultationen. Für die Aufarbeitung der Corona-Politik wären daher offene Verfahren bereitzustellen, mit denen alle Bürger ihre Erfahrungen und Sichtweisen einbringen können.

Input und Output bei Bürgerräten

Bürgerräte (und noch deutlicher strukturiert Planungszellen) sind daher auf Input angewiesen. Ihre Mitglieder bringen die verschiedensten Lebenswirklichkeiten der Gesellschaft ein, vor deren Hintergrund sie über diesen Input diskutieren.

Damit alle Aspekte eines Themas berücksichtigt werden, ist daher weniger die konkrete Zusammensetzung eines Bürgerrats relevant, als vielmehr die professionelle Organisation der Input-Seite: Es müssen alle relevanten Fakten eingespeist werden, es müssen alle Meinungen zu Wort kommen.

Die Ausgelosten, die am Ende eine Entscheidung treffen bzw. bisher stets nur eine Empfehlung aussprechen sollen, müssen alles gehört und gesehen haben, was für eine sachgerechte Beratung notwendig ist. Das demokratische Gebot des Minderheitenschutzes verlangt dabei, gerade nicht nur den Mainstream zur Kenntnis zu nehmen.

In der Praxis werden daher Bürgerräte von externen Dienstleistern organisiert. Sie sollen und dürfen keine Eigeninteressen bei den verhandelten Themen verfolgen (wie dies etwa bei einer Stadtverwaltung oder einem Ministerium der Fall sein dürfte).

Ob das gelungen ist, wird standardmäßig am Ende jedes Prozesses überprüft, durch wissenschaftliche Beobachtung, durch Befragung der Teilnehmer - und sicherlich könnte man auch noch ein Feedback der Öffentlichkeit einholen, die ja schließlich dem Verfahren vertrauen muss, um das Ergebnis zu akzeptieren.

Weil Bürgerräte noch neu sind und Planungszellen, die es seit den 1970er Jahren gibt, im demokratischen Diskurs immer ein Schattendasein gefristet haben, gibt es hier sicherlich noch vieles zu optimieren.

Doch die Ergebnisse können sich bisher stets sehen lassen und übersteigen in ihrer Qualität reine Meinungsumfragen um Längen.

Aufklärung durch die verschiedenen Professionen

Bürgerräte (im Sinne der Reliabilität sollte es stets mehrere zu einem Thema geben) können sicherlich ein wichtiges Element bei der Aufarbeitung der Corona-Zeit sein (wie es übrigens auch schon während der Pandemie einige gab, allerdings nicht auf Bundesebene).

Aber sie gehören nicht an den Anfang, sondern ans Ende der Aufarbeitung. Denn zunächst muss der mögliche Input für sie generiert werden.

Dazu dürfte es nötig sein, dass jetzt alle während der Pandemie wichtigen Gesellschaftsbereiche ihre eigene Reflexion betreiben. Politiker müssen sich (selbst-)kritisch mit der Corona-Politik befassen, Wissenschaftler mit der wissenschaftlichen Arbeit, Juristen mit der Rechtsprechung, Journalisten mit der Berichterstattung, Verwaltungen mit Verwaltungshandeln und Bürgerinnen und Bürger mit ihrem Verhalten in der Gesellschaft.

Auch dazu wird es eine Vielzahl an Methoden geben und brauchen. Grundvoraussetzung in jedem gesellschaftlichen Feld ist dabei Erkenntnisinteresse, eingeschlossen natürlich die sog. "Maßnahmen-Kritiker". Für die Politik sind sicherlich ein Untersuchungsausschuss und/ oder eine Enquete-Kommission bewährte Verfahren.

Aber damit lässt sich keinesfalls das Gesamtgeschehen evaluieren - u.a. eben, weil die Experten selbst ihre Rolle in der Pandemie evaluieren müssen und weil Experten nicht den Dialog der Bürger untereinander ersetzen können.

Auch können Wissenschaftler grundsätzlich nicht entscheiden, was politisch richtig oder falsch war - nur, was für die jeweiligen politischen Ziele sachgerecht war (siehe dazu Streitgespräch zwischen Heribert Prantl und Jörg Phil Friedrich).

Wenn alle Bereiche ihre eigenen Fehler erkannt haben, können sie mit ihrer jeweiligen Profession auf die anderen Bereiche blicken und mit diesen in Austausch treten. Und am Ende können Bürgerräte über die dann sicherlich große Vielfalt an Erkenntnissen und divergierenden Empfehlungen beraten, soweit sie die Gesamtgesellschaft betreffen (siehe die sieben W-Fragen: wer will was von wem wofür wie warum).

Dabei wird es auch um Grundsatzfragen gehen, die vor der Pandemie als geklärt angenommen wurden, mit einem Schlag aber völlig neu beantwortet wurden. Beispielsweise die nach der Bedeutung individueller Freiheit.

Im derzeitigen Stadium wäre ein Bürgerrat zur Aufarbeitung der Corona-Politik jedoch völlig überfordert, weil schlicht fehlt, worüber er sinnvoll entscheiden könnte. Ganz gleich, welches Ergebnis er brächte: mit einer allgemeinen Akzeptanz in der Gesellschaft wäre - zurecht - nicht zu rechnen.

Damit kämen wir nicht nur nicht weiter, es würde auch ein junges, vielversprechendes Instrument für demokratische Beratungen beschädigt.

Hinweis: Der Autor setzt sich seit rund 20 Jahren für Beteiligungs- und Entscheidungsverfahren ein, die auf Auslosung beruhen. Zu seinem entsprechenden Buch wurde er 2013 von Telepolis interviewt.

Er betreibt die Website aleatorische-demokratie.de, schreibt Fachartikel zu losbasierter Bürgerbeteiligung, ist Host des Podcasts ?"Macht:Los!" und hat schon mehrfach als sog. Prozessbegleiter ("Moderator") an Planungszellen und Bürgerräten mitgewirkt.