Bundesrat lehnt Hartz IV-Reform ab

Regierung schiebt die Schuld auf die Opposition

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Seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar diesen Jahres steht fest: die Berechnung der Hartz IV-Sätze ist verfassungswidrig (Berechnungssätze verfassungswidrig). Für die Bundesregierung, die immer wieder darauf hinwies, dass ihr rot-grüner Vorgänger für die Berechnung verantwortlich sei, sollte dies eigentlich eine Aufforderung zu schnellem Handeln sein. Doch abgesehen von Polemik gegen die Betroffenen, ausgehend insbesondere von Vizekanzler Westerwelle, geschah lange Zeit nichts Konkretes. Erst Ende September stellte das Bundesministerium für Arbeit und Soziales einen Referentenentwurf zur Regelsatzberechnung vor, demzufolge die Betroffenen künftig fünf Euro mehr, Kinder jedoch gar keine Erhöhung erhalten sollen. Der Regelsatz sollte damit auf 364 Euro steigen.

Starke Proteste der Opposition folgten auf dem Fuße. Denn die Bundesregierung strich nicht nur Tabak und Alkohol aus dem Bedarfssatz. Vor allem änderte sie die Referenzgruppe, so dass jetzt nur noch die untersten 15 Prozent der Einpersonenhaushalte zur Berechnung des Bedarfs herangezogen wurden. In vorherigen Berechnungen dienten die untersten 20 Prozent als Referenz – somit waren wesentlich ärmere Haushalte die Grundlage für die Hartz IV-Berechnung.

Zudem verzichtete die Bundesregierung darauf, Aufstocker und die so genannten verdeckt Armen, die eigentlich ein Anrecht auf Hartz IV hätten, dies jedoch nicht in Anspruch nehmen, herauszurechnen. Vor allem stand die Erhöhung von Anfang an in dem Ruf, nicht Ergebnis von Berechnungen, sondern eine politische Festlegung zu sein. Denn bereits im Jahr 2008 findet sich die Erhöhung von Hartz IV auf 364 Euro im Entwurf des Existenzminimumberichtes wieder. Auch das Bildungspaket, das Teil der Hartz IV-Erhöhung ist, stößt bei Experten auf Kritik, da es vollkommen ungenügend ist Note mangelhaft für von der Leyens Bildungspaket). Dass die Regierung nicht bereit war, auf den umgehenden Protest der Opposition mit Gesprächsbereitschaft und Nachbesserungen zu reagieren, rächt sich nun im Bundesrat.

Nachdem sich auch die Grünen an der Saar gegen das Gesetz ausgesprochen haben, enthielt sich das Saarland heute im Bundesrat. Damit fand die Neuregelung in der Länderkammer keine Mehrheit. Gleichzeitig lehnte der Bundesrat einen Vorschlag aus Rheinland-Pfalz ab, wonach trotz der Ablehnung des Gesetzes der Bundesregierung der Hartz IV-Regelsatz um fünf Euro erhöht und das Bildungspaket gewährt werden soll. Nun wird die Bundesregierung den Vermittlungsausschuss anrufen. Ein Termin für die Sitzung des Ausschusses ist noch nicht bekannt. Zwar kann der Ausschuss fristgemäß erst am 23. Dezember zusammentreten, jedoch hatten sich CDU, FDP und SPD schon im Vorfeld dafür ausgesprochen, das Verfahren zu beschleunigen. Möglicherweise kommt der Vermittlungsausschuss bereits heute zusammen. Eine schnelle Einigung bedeutet dies freilich nicht. Die Sozialdemokraten haben bereits "harte und zähe" Verhandlungen angekündigt.

Die von der Bundesregierung angestrebte Regelung in letzter Minute hätte die Umsetzung des mit hohem bürokratischem Aufwand verbundenen Bildungspaketes zum 1. Januar ohnehin äußerst schwierig gemacht. Doch nun nutzt das Regierungslager die Niederlage im Bundestag, um der Opposition den Schwarzen Peter zuzuschieben. Bereits im Vorfeld forderte Bundeskanzlerin Merkel sie auf, dem Gesetz "im Sinne der Kinder und Erwachsenen, die auf das Geld und die Bildungsangebote warten", zuzustimmen.

Im Bundesrat selbst qualifizierte der stellvertretende Ministerpräsident Schleswig-Holsteins, Heiner Garg (FDP) die Kritik der Opposition als "altes Ritual" ab und warf ihr vor, sie wolle sich dafür feiern lassen, dass sie die Bundesregierung auflaufen lässt. Die Kritik an der Datenbasis der Hartz-IV-Berechnung sei vorgeschoben, die Forderungen unerfüllbar. Er fühle sich wie in einer Geisterdebatte, so Garg. Der hessische Sozialminister Stefan Grüttner erklärte, es sei merkwürdig, dass die Opposition die Zustimmung zu dem Gesetz von einem Spitzengespräch abhängig mache. Dies hatte die Opposition im Vorfeld beantragt, was die Regierung jedoch ablehnte.

Auch Sozialministerin von der Leyen verteidigte ihren Gesetzentwurf vor dem Bundesrat als "Punkt für Punkt" verfassungsgemäß. Allerdings betonte sie, dass der Regelsatz auch Geringverdienern erklärt werden müsse, und berief sich damit auf das Lohnabstandsgebot. Dieses jedoch war zu keinem Zeitpunkt Gegenstand der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Das Lohnabstandsgebot zu nutzen, um ein niedrig angesetztes Existenzminimum zu begründen, entspricht nicht dem Geist des Grundgesetzs.

Mit dem Hinweis, die Frist des Bundesverfassungsgerichtes sei nicht verhandelbar, wollte von der Leyen die Opposition doch noch zur Zustimmung zu dem Entwurf bewegen, der sich "jetzt auf der Zielgerade" befinde. Nach der Ablehnung im Bundesrat dürfte nun vermehrt Arbeit auf die Sozialgerichte zukommen. Denn diese könnten nun selbst die Höhe der Hartz IV-Sätze festlegen, so der Rechtsexperte Johannes Münder. Die Schuld dafür liegt jedoch nicht bei der Opposition, die mit der heutigen Ablehnung lediglich von ihrem demokratischen Recht Gebrauch macht, sondern bei der Regierung, die erst kurz vor dem Ablauf der vom Verfassungsgericht gesetzten Frist einen Gesetzestext auf den Weg gebracht und zudem Gespräche mit der Opposition verhindert hat.