Bush will den "totalen Sieg"

Gestern überstieg die Zahl der "nach dem Krieg" getöteten US-Soldaten die Zahl der während des Krieges Gefallenen

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"Our only goal, our only option, is total victory in the war on terror." Mit dieser Mission reist George W. Bush durch sein Land. Kriegsveteranen sind ein dankbares Publikum. Mitglieder der American Legion in St.Louis verstehen besser als andere die starken Worte und auch dies: "More progress will come in Iraq and it will require hard and sustained efforts." In simplem Deutsch beginnen damit Durchhalteparolen, die eines vergessen machen sollen: Am gestrigen Dienstag überstieg die Zahl der "nach dem Krieg" getöteten US Soldaten (140) die Zahl der während des offiziellen Krieges Gefallenen (138). Ein Ende ist nicht abzusehen.

"Die Fahrzeuge der US Streitkräfte sind zu gering armiert und besonders empfänglich für die Panzerabwehrraketen aus dem alten Arsenal der irakischen Armee", schreibt Victor O'Reilly in seiner 108-seitigen Analyse für James H. Saxton, den republikanischen Abgeordneten von New Jersey.

George W. Bush hingegen sieht sich auf dem rechten Weg. 1100 Gefangene, 8200 Tonnen Munition und Tausende von sichergestellten Waffen, 42 von 55 meistgesuchten Irakern gefangen oder getötet, 38000 Iraker als Polizisten angeheuert und bereit zur Ausbildung in einer ehemaligen ungarischen Kaserne, sowie 31 Länder, die insgesamt 21000 Soldaten in den Irak entsandt haben.

Aus der Umgebung des Präsidenten wird erklärt: die bisherige Unterstützung für den Irak und den Mittleren Osten ist ungleich geringer als für den Wiederaufbau Deutschlands. Der über 4 Jahre laufende Marshall-Plan hatte den Gegenwert von 100 Milliarden US Dollar. In den Irak sind von den vorgesehenen 70 erst 2,5 Milliarden US Dollar geflossen.

Die Senatoren Chuck Hagel (Republikaner aus Nebraska) und Joseph Biden (Demokrat aus Delaware), Mitglieder des Foreign Relations Committee, äußerten sich anlässlich der abendlichen Newshour bei PBS sichtlich beunruhigt über die Rede des Präsidenten, die da erst wenige Stunden zurücklag, und über das Ziel, nämlich bis zum totalen Sieg.

Chuck Hagel, kürzlich von einer Irakreise zurückgekehrt, betont: der Kampf im Irak ist nur einer von vielen Schauplätzen. Amerika benötige Hilfe von der ganzen Welt, weil auch die ganze Welt betroffen ist. Keine Nation allein sei mächtig genug, um diese Aufgabe zu bewältigen. Die Menschen im Irak sind ausgegrenzt, leiden an gesundheitlichen und wirtschaftlichen Problemen, sind sich uneins und hoffnungslos. Das schaffe Probleme über "years of years to come". "Solange der afghanische Präsident nicht mehr ist als der Bürgermeister von Kabul, und die indonesischen Islamisten und viele andere Terrorgruppen ungehindert aktiv bleiben, wird es keinen amerikanischen Sieg geben."

Joseph Biden wendet sich vehement gegen die vom US Präsidenten in seiner St.Louis-Rede benutzte Formulierung, Irak sei die amerikanische Herausforderung (challenge), an der die Zukunft gemessen werde.

Warum sollen wir darauf bestehen, dass die USA 95 Prozent der Truppen, der Kosten und des sonstigen Personals stellen? Ich würde es besser finden, wenn der Präsident sagt: ich habe mit Putin am Telefon gesprochen und mit den Chefs der Natoländer, und mich darüber verständigt, wie wir eine gemeinsame Lösung erzielen können. Ich weiß nicht, was der totale Sieg bedeuten soll. Für mich wäre es ein Sieg, wenn sich im Irak eine Republik aller Bürger bilden würde, ein Land, das zusammenhält, ein islamisches Land, das wie die Türkei säkular und stabil ist. Und wenn unsere jungen Männer und Frauen wieder zu Hause wären. So aber werden weder der Irak, noch die Roadmap für Palästina und Israel vorangebracht. Sollte gar unter dem Druck der militanten Islamisten Ägypten fallen, käme es zum Chaos.

Beide Senatoren gehören zu einer Gruppe, die versucht, den US-Präsidenten zu bewegen, die Last ehrlich mit den Gutmeinenden auf der Welt zu teilen. "Es wäre dumm (stupid), wenn wir nur wegen der Ölfelder und der Aufträge für den Wiederaufbau in den Irakkrieg gezogen wären", erklärt Joseph Biden. Wahrscheinlich, so formulieren beide Senatoren, ist der Vorstoß am Widerstand von Dick Cheney und Donald Rumsfeld gescheitert, auch wenn bisher die formale Antwort des Weißen Hauses aussteht.

Mit diesem Gespräch ist erstmals eine Bresche in die Mauer der Neocons (vgl. Die Machtergreifung der Neocons in Washington) geschlagen worden. Wenn sich Demokraten und Republikaner zusammentun, könnte passieren, was William Kristol in der Septemberausgabe vom Weekly Standard) befürchtet: Sollte Bush im Herbst die Wahl zum Präsidenten verlieren, hätten die Demokraten viermal hintereinander die Mehrheit gewonnen, und das würde manchen Republikaner veranlassen, mit den Demokraten gemeinsame Sache zu machen. Aus der Sicht der Neocons gibt es deshalb nur eine Konsequenz: Ein Fehler im Irak setzt "die amerikanische Außenpolitik, die Führungsrolle (world leadership) und die amerikanische Sicherheit aufs Spiel." So die Bewertung von William Kristol and Robert Kagan, ebenfalls im neuesten Weekly Standard. Mehr Soldaten ("there are too few good guys chasing the bad guys"), mehr Geld (put a little money in Iraqi pockets), und mehr westliche Umerziehung heißt demnach die Lösung.

Die Vorschläge der Senatoren Chuck Hagel und Joseph Biden haben viele Gemeinsamkeiten mit den Überlegungen von Leon T. Hadar vom Cato Institute, (vgl. Der amerikanische Macho-Mann und die kastrierten Euroweenies).

Weitaus radikaler kommt die Meinung von Lawrence F. Kaplan und John B. Judis in The New Republic daher. Die USA sollen die Truppen abziehen, bis an die Grenzen irakischer Anarchie, um dem imperialistischem Eindruck, der durch das Zusammengehen mit der früheren Kolonialmacht Großbritannien entstanden ist, zu begegnen. Ferner müssten die USA den jahrhundertealten Konflikt zwischen Imperialismus und Nationalismus entschärfen. Es sei wichtig, die Vereinten Nationen einzubinden, noch wichtiger sei es allerdings, die irakischen Nachbarn zu beteiligen. Man wird fragen: war es die Invasion wert? (Milliarden US Dollar, Tausende Kriegsopfer, und das Zerschlagen eines weltweiten Systems, das auf kollektive Sicherheit und internationalem Recht gegründet ist).

That is a question, unfortunately, that the geniuses in the Bush administration should have been asking last March.

Noch scheinen die Würfel nicht gefallen zu sein: Bush hat in St.Louis keine Truppenverstärkung in Aussicht gestellt und auch nicht mehr Geld. Möglicherweise ist es auch nur eine wohldosierte Kunstpause.