Chancenungleichheit ohne Kindergarten

Wie sich sozialer Status und Kindergartenbesuch auf den Zeitpunkt der Einschulung auswirken

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Dass insbesondere das deutsche Bildungssystem von Ausgrenzung und sozialer Ungleichheit betroffen ist, kann nicht mehr ernsthaft bestritten werden. Zahlreiche Studien und internationale Leistungsvergleiche haben eindeutig nachgewiesen, dass Kinder aus Akademikerhaushalten ungleich höhere Chancen haben, selbst einen erfolgreichen Ausbildungsweg zu absolvieren, als ihre Altersgenossen, die aus den viel zitierten bildungsfernen Familien stammen. Offen ist allerdings die Frage, ob und zu welchem Zeitpunkt diese Entwicklung noch korrigiert werden kann. Bislang gibt es nur vereinzelte Untersuchungen, die sich - unter dem Aspekt der späteren Bildungsbiografie und auf der Basis neuester Daten - mit den wichtigen frühkindlichen Phasen beschäftigen und beispielsweise genauer beschreiben, welche Kinder bei Schuleingangsuntersuchungen (Beispiel eklatante Entwicklungsdefizite aufweisen und deshalb nicht eingeschult werden können.

Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) glaubt nun, einen Großteil dieser Lücke geschlossen zu haben. Basierend auf Zahlen des Sozio-oekonomischen Panels, die vom DIW und Infratest Sozialforschung ermittelt wurden, konnten die Forscher eindeutige Erkenntnisse über die Bedeutung der sozialen Herkunft und des Kindergartenbesuchs für den Zeitpunkt der Einschulung gewinnen.

Rückstellungswahrscheinlichkeit und Bildungsgefälle

Die Autoren Jens Kratzmann und Thorsten Schneider stützen sich unter anderem auf Urie Bronfenbrenner Studie „Die Ökologie der menschlichen Entwicklung. Natürliche und geplante Experimente“, die bereits 1981 vier unterschiedliche, sich gegenseitig überschneidende Umweltstrukturen beschreiben konnte, welche die kindliche Entwicklung maßgeblich beeinflussen. Im labyrinthischen Beziehungsgeflecht von Mikro-, Meso-, Exo- und Makrosystemen spielt der Kindergarten insbesondere unter entwicklungspsychologischen und sozialisationstheoretischen Gesichtspunkten eine entscheidende Rolle.

Auf der Mikroebene ist aus entwicklungspsychologischer Sicht eine Förderung der Kompetenzentwicklung durch gezielte Anregungen des Personals anzunehmen. Kinder im Grundschulalter schneiden im Durchschnitt bei psychologischen Tests zum sprachlichen, sozialen und kognitiven Kompetenzstand, aber auch zur Wahrnehmung und motorischen Fähigkeiten besser ab, je länger sie den Kindergarten besucht haben. (...)

Sozialisationstheoretisch betrachtet stellt der Kindergarten die erste Institution außerhalb der Familie dar, die zur Vergesellschaftung der Kinder beiträgt. Im Laufe der Sozialisation werden gesellschaftlich definierte, komplementäre Rollenerwartungen erlernt, die zur Erhaltung eines sozialen Systems notwendig sind.

Studie „Soziale Ungleichheiten beim Schulstart“

Eine noch wichtigere Rolle spielt allerdings das familiäre Umfeld, in dem Kinder auf- und heranwachsen. Kratzmann und Schneider definieren die Familie im Anschluss an frühere Untersuchungen als „erste elementare Sozialisationsinstanz“, die unmittelbar auf die Kinder einwirkt, aber auch andere Einflüsse vermittelt – so zum Beispiel Vorstellungen vom Arbeitsplatz der Eltern, dem Lebensumfeld der Geschwister oder kulturelle Wert- und Normvorstellungen.

Diese unspektakulären Feststellungen verbinden sich zu einer durchaus dramatischen Bilanz, wenn es um die Bildungschancen von Kindern mit unterschiedlichem Familienhintergrund geht. Denn jedes zweite Kind, das im Alter von drei Jahren keine Kita-Einrichtung besucht und überdies aus einer bildungsfernen Familie stammt, wird später vom Schulbesuch zurückgestellt und kann seinen Ausbildungsweg dann unter Umständen erst mit einem Jahr Verspätung beginnen. Wenn die Eltern über einen mittleren Abschluss verfügen, liegt das Risiko nur noch bei 28 Prozent, in Akademikerhaushalten sinkt es schließlich auf 8 Prozent. Wenn die Kinder dagegen schon im Alter von drei Jahren einen Kindergarten besuchen, beläuft sich die „Differenz der Rückstellungswahrscheinlichkeiten zwischen höchstem und niedrigstem Bildungsabschluss der Eltern“ auf gerade einmal 5 Prozent. „Hier ist nahezu kein Bildungsgefälle zu beobachten“, konstatieren Kratzmann und Schneider.

Dieser Effekt lässt sich offenbar auch bei Migrantenfamilien beobachten. Ein früher Kindergartenbesuch kann dazu beitragen, Sprachbarrieren zu überwinden und die Rückstellungsquote deutlich zu verringern.

Kostenfragen

Unter diesen Umständen kann mit hoher Wahrscheinlichkeit von der „kompensatorischen Wirkung eines Kindergartenbesuches in Bezug auf die Kompetenzentwicklung“ ausgegangen werden. Doch wenn es um den frühzeitigen Besuch eines Kindergartens geht, hat vor allem der Westen Deutschlands erheblichen Nachholbedarf. Im Osten der Republik besuchten im Jahr 2004 bereits 83 Prozent der Dreijährigen eine entsprechende Einrichtung, während die westlichen Länder mit 69 Prozent deutlich hinterher hinkten.

Einige Bundesländer haben daraus bereits Konsequenzen gezogen und den Besuch des letzten Kindergartenjahres vor der Einschulung kostenfrei gestellt. Kratzmann und Schneider halten diese Maßnahme allerdings für wenig effektiv. Ein Jahr sei keineswegs ausreichend, um „Kompetenzunterschiede nach sozialer Herkunft“ auszugleichen, im übrigen ließen sich die geschilderten positiven Effekte nur dann erzielen, wenn Kinder möglichst frühzeitig gefördert und betreut werden.

Deutschland muss also mehr tun und das nicht nur, weil der Pestalozzi-Schüler Wilhelm Friedrich August Fröbel hier 1840 den ersten Kindergarten gründete. Bildungsungerechtigkeit resultiert aus sozialen Verwerfungen, die gleichzeitig zementiert werden. Überdies bedeutet der bewusste Verzicht auf herausragende Talente erhebliche ökonomische Einbußen und Nachteile im internationalen Wettbewerb.

Rheinland-Pfalz hat deshalb schon 2006 beschlossen, die Kindergartenzeit bis 2010 komplett beitragsfrei zu gestalten. Wenn dieses Modell bundesweit Schule machen sollte, überdies die Ausbildungsqualität der Erzieher verbessert wird und alle Kinder zwischen drei und sechs Jahren von dem Angebot profitieren können, müssten die öffentlichen Haushalte rund 3,6 Milliarden Euro investieren. Das ist viel Geld, aber durchaus bezahlbar, glaubt sogar die nicht eben sozialrevolutionäre „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ (INSM), die das Paket vor anderthalb Jahren schon einmal durchgerechnet hat.

Weil durch die Umsetzung (…) deutlich mehr Kinder vorschulische Bildung erfahren und die Qualität der Kindergärten steigt, fallen künftig deutlich weniger Kosten für teure Nachschulungen wie berufsvorbereitende Maßnahmen oder außerschulische Berufsbildung an. Die INSM-Studie rechnet hier mit einer Entlastung von mindestens 1 Milliarde Euro jährlich. Dank besserer Betreuungs-Infrastruktur ist außerdem mit einer steigenden Frauenerwerbstätigkeit zu rechnen - und entsprechend mit steigenden Steuereinnahmen. Darüber hinaus wird durch bessere Qualifizierung die Jugenderwerbstätigkeit zunehmen. Auch daraus ergeben sich positive steuerliche Effekte. Durch eine Herabsetzung des Einschulungsalters um ein Jahr könnte der Staat schließlich etwa 2,9 Milliarden Euro p. a. einsparen.

Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft

„Das ist langfristig vorbeugende Sozialarbeit und auch ökonomische Wachstumsstrategie“, meinte „Eltern“-Chefredakteurin Marie-Luise Lewicki seinerzeit und sprach damit vor allem der einschlägigen Stammleserschaft aus der Seele. Denn die Beitragskosten erreichen mitunter nicht nur astronomische Höhen, sondern weisen auch erhebliche regionale Unterschiede auf. Der aktuelle KindergartenMonitor zeigt, wie viel Geld die Eltern sparen können, wenn sie nur in der richtigen Stadt wohnen. Bei einem Jahresbruttoeinkommen von 45.000 Euro und zwei Kindern im Alter von 3,5 und 5,5 Jahren zahlen Heilbronner beneidenswerte 0 Euro, während die Bremer mit 3.096 Euro zur Kasse gebeten werden. Dazwischen ist so ziemlich alles möglich, von 396 Euro in Wiesbaden und 534 Euro in Göttingen über 996 Euro in Gelsenkirchen und 1.152 Euro in München bis zu 2.278 Euro in Gera oder 2.876 Euro in Lübeck. Nach weiterführenden Berechnungen von Bündnis 90/Die Grünen können sich die Kosten in einigen Fällen sogar auf knapp 10.000 Euro belaufen.

Brachliegende Erkenntnisse

Kein Wunder also, dass die Parteien sich nach und nach für den Gedanken erwärmen können, dem politischen Gegner auf dem Feld der frühkindlichen Erziehung entscheidende Prozentpunkte abzujagen. Hessen war hier besonders nah am Puls der Zeit, denn die Regierung Koch legte bereits kurz vor dem Urnengang im Januar 2008 ein "Bambini"-Programm auf. Dass der Vorstoß in diesem Fall ohne Auswirkungen auf das Wahlergebnis blieb, hatte kaum etwas mit dem Thema Kinderbetreuung zu tun, und so versuchte der bildungspolitische Sprecher der Sozialdemokraten im Deutschen Bundestag unmittelbar nach Veröffentlichung der DIW-Studie Akzente zu setzen. „Unser Ziel ist der beitragsfreie Kindergarten“, meinte Jörg Tauss, dessen Homepage gerade zur WebSozi Seite des Monats gekürt wurde. „Schüler, die nicht im Kindergarten waren, haben schlechtere Integrationschancen.“

Bei der CDU wird noch gezögert, auch wenn die rheinland-pfälzischen Christdemokraten vor nicht allzu langer Zeit schon einmal mit dem Versprechen in den Landtagswahlkampf zogen, alle Beiträge im Falle der Regierungsübernahme umgehend abzuschaffen. Bis auf weiteres stützt sich die CDU auf das neue Kinderförderungsgesetz, dem die christdemokratischen Einflüsse und das latente Misstrauen in öffentliche Betreuungseinrichtungen deutlich anzumerken sind. So hat die CDU für Paragraph 16 folgende Formulierung durchgesetzt:

Ab 2013 soll für diejenigen Eltern, die ihre Kinder von ein bis drei Jahren nicht in Einrichtungen betreuen lassen wollen oder können, eine monatliche Zahlung (zum Beispiel Betreuungsgeld) eingeführt werden.

Kinderförderungsgesetz

Bei der Linkspartei geht wie so oft alles schneller und einfacher. Schon im vergangenen Jahr wurden 15.000 Euro für eine KITA-Kampagne bewilligt, die einerseits der „Gewinnung von Bündnispartnern“ und der „Vernetzung von Organisationen, Verbänden, Einrichtungen vor Ort“, dann aber auch der Entwicklung von Initiativen dienen soll, „die bei kommunalen Aktivitäten (…) vor allem in den West-Bundesländern genutzt werden können.“ Mit der Beitragsfreiheit gibt sich DIE LINKE allerdings gar nicht erst zufrieden. Geplant sind überdies qualitative Verbesserungen bei der Ausbildung der Erzieher und der Umsetzung pädagogischer Konzepte.

Der Vorstand der Partei DIE LINKE plant für einen Zeitraum von ca. 6 Monaten eine öffentlichkeitswirksame Kampagne für kostenlose, öffentliche, steuerfinanzierte Kindertagesstätten für alle Altersgruppen. Die Einrichtungen sind als pädagogische Einrichtungen und nicht als Verwahrgelegenheiten einzufordern. Sie sind mit qualifizierten Kräften auszustatten, deren Arbeitsbedingungen tariflich geregelt sein müssen.

DIE LINKE

Bei Bündnis 90/Die Grünen steht die Forderung nach einem Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz seit Jahren ganz oben auf der Tagesordnung. Darüber hinaus verlangen vor allem die Landesverbände ein kostenloses letztes Vorschuljahr und perspektivisch die komplette Abschaffung aller Beiträge. Darüber hinaus spielt eine Qualifizierungsoffensive für die Beschäftigten auch hier eine wichtige Rolle.

In der Ausbildung der Erzieherinnen und Erzieher soll insbesondere der Erwerb von diagnostischen und pädagogischen Kompetenzen im Mittelpunkt stehen. Für die jetzt aktiven Erzieherinnen und Erzieher fordern wir eine Qualifizierungsoffensive, die die Anschlussfähigkeit hinsichtlich der neuen Ausbildungswege gewährleistet. Auch die in der Tagespflege Tätigen sollen in die elementarpädagogische Qualifizierungsoffensive eingebunden werden.

Bündnis 90/Die Grünen - Beschluss der Landesdelegiertenkonferenz NRW

Bei so viel großflächigem Konsens mag sich auch die FDP dem Thema nicht mehr völlig verschließen. Der ehemalige Vorsitzende Wolfgang Gerhardt forderte kurz vor dem Bundesparteitag seinerseits beitragsfreie Kindergärten. Überhaupt dürften die Liberalen „in der Gerechtigkeitsdiskussion nicht passiv bleiben“, meinte Gerhardt und empfahl seinen Parteifreunden, die neue soziale Frage, die durch Hartz IV nicht beantwortet sei, „mit einem solchen Paradigmenwechsel zu verbinden“.

Und so wissen wieder einmal alle, wo das Problem liegt und wie es zu beheben wäre. Ob aus diesem an sich erfreulichen Umstand zeitnah politische Konsequenzen gezogen und die streckenweise durchaus positiven Ansätze des gerade beschlossenen Kinderförderungsgesetzes weiterentwickelt werden, steht allerdings noch dahin.