Charlies letztes Abenteuer

Eines Tages war Charlie Chaplins Grab leer. Seit genau 30 Jahren ist seine entführte Leiche aber wieder, wo sie hingehört

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Als Charlie Chaplin am Weihnachtstag 1977 in seinem Schweizer Altersdomizil am Genfer See verstarb, stand dem friedvoll Verschiedenen statt der ewigen Ruhe, zu der man ihn in Corsier-sur-Vevey bettete, noch ein letztes, makaberes Abenteuer bevor. Es sollten nämlich kaum zwei Monate vergehen, da schlichen sich eines Nachts zwei dunkle Gestalten auf den Friedhof, und als der Wärter am nächsten Morgen, am 2. März 1978, zur Arbeit erschien, fand er Chaplins Grab geöffnet vor.

Der Sarg war spurlos verschwunden und die Zeitungen übertrumpften einander mit aberwitzigen Erklärungen: Man habe es mit der späten Rache der Nazis zu tun, die Chaplin seine Hitler-Parodie Der große Diktator nicht verziehen hätten, mutmaßten die einen; es handle sich um fanatische Bewunderer, die sich die sterblichen Überreste ihres Idols unter den Nagel reißen wollten, behaupteten die anderen; und irgendwer setzte das Gerücht in die Welt, der Sargraub sei nichts anderes als eine Aktion von Antisemiten, die verhindern wollten, dass ein Jude (der Chaplin eigentlich nur für Goebbels’ Propaganda war) in christlicher Erde bestattet wird.

Darüber hinaus ließ der Fall Erinnerungen an den gekidnappten Leichnam Benito Mussolinis wach werden, der am 23. April 1946 von einem Trupp unverbesserlicher Duce-Fans unter dem Kommando des späteren neofaschistischen Abgeordneten Domenico Leccisi aus seinem anonymen Mailänder Grab entführt und erst dreieinhalb Monate später wiedergefunden worden war.

Fahndungshilfe aus dem Jenseits

Sogar das FBI öffnete am 8. März 1978 noch einmal Chaplins alte Akte, um die Aussagen eines spiritistischen Mediums zu protokollieren, das meinte, sachdienliche (und wie sich zeigen sollte: völlig falsche) Angaben über den Verbleib der Leiche machen zu können. Die arg von Visionen gebeutelte Informantin ließ das FBI wissen,

dass sie den Körper Charlie Chaplins im Keller eines Wohnhauses in Deutschland vor sich gesehen habe. Der Leichnam sei von zwei Männern und einer Frau gestohlen worden. Einer der beiden Männer heiße Shloeman oder Schloemann, allerdings sei die Vision, die sie von dieser Person empfangen habe, nicht besonders gut gewesen und sie konnte daher keine weitere Beschreibung liefern. Sie erklärte, dass der zweite Mann Richter heiße und dass sein Nachname entweder Hiemann oder Hieburter laute. Diese Person soll den Plan zum Leichendiebstahl ausgeheckt haben. Die weibliche dritte Person ist Gretchen, Richters Ehefrau.

Sogar die exakte Adresse diktierte das Medium dem FBI durchs Telefon. Das Haus mit der sprichwörtlichen Leiche im Keller befand sich demnach in „2708, Bittenburg oder Rittenburg, Düren, Deutschland (...), im älteren Stadtteil, da wo die Häuser eng beieinander stehen“. Die mitteilungsbedürftige Informantin war sich zudem sicher, dass hinter dem Grabraub keine Lösegeldforderung, sondern ganz andere Motive stünden. All das habe nämlich vielmehr „etwas mit dem Krieg zu tun und etwas mit dem Hass auf die Amerikaner“.

Nach einiger Zeit erreichte dann aber der Telefonanruf eines geheimnisvollen „Monsieur Cohat“ (oder „Rochat“) die Trauerfamilie in Corsier, der für die Rückgabe der Leiche ein Lösegeld von 600.000 Dollar verlangte. Eine Fotografie des verschwundenen Sargs sollte der Forderung den nötigen Nachdruck verleihen. Die Entführer – zwei tollpatschige Kleinganoven, die von einer eigenen Autowerkstatt träumten – waren ihrem Vorhaben allerdings bei weitem nicht gewachsen. Schon die Exhumierung drohte zu scheitern: Über zwei Stunden brauchten sie, um im strömenden Regen den Sarg freizuschaufeln, und weil sie es nicht schafften, ihn im selben Grab einfach wie geplant etwas tiefer zu verstecken, mussten sie den schweren Eichensarg quer über den Friedhof schleppen und umständlich auf ihr Auto laden.

50 Franken für Charlie

Vor allem aber hatten die beiden nicht mit dem Starrsinn von Chaplins Witwe OonaTochter des US-Dramatikers Eugene O’Neill gerechnet: Elf Wochen hielten sie und Chaplins Tochter Geraldine die Entführer hin. Sogar mit der Drohung, dass den jüngsten Kindern auf dem Schulweg etwas zustoßen könnte, bissen die Entführer bei Oona auf Granit. Die kämpferische Witwe dachte nicht daran, auch nur einen Cent herauszurücken; ihr verblichener Charlie sei schließlich nicht wirklich verschwunden, sondern nach wie vor „im Himmel und in meinem Herzen“. Und außerdem, war sie überzeugt, „hätte er das ziemlich lächerlich gefunden“. So dauerte es nicht lange und die Entführer willigten ein, sich auch mit einem Bruchteil der Lösegeldsumme zufrieden zu geben. „Und wenn wir weiter verhandelt hätten“, prahlte der Familienanwalt Jean-Felix Paschoud später, „hätten wir den Sarg auch um 50 Franken wiederbekommen.“

Insgesamt 27 Mal klingelte bei der Familie das Telefon, bis die Leichendiebe, die zunächst die Spur ihrer Anrufe noch sorgfältig verwischt hatten, allmählich nachlässig wurden und zu guter Letzt einfach die Fernsprechzellen ihrer Heimatstadt Lausanne benützten. Die Polizei musste jetzt nur noch sämtliche Telefonkabinen der Stadt überwachen, bis ihr Roman W. (28) und Gantscho G. (36) im Mai 1978 tatsächlich ins Netz gingen. Den Sarg hatten die beiden unweit von Lausanne an einem idyllischen Plätzchen in einem Feld versteckt – so gut, dass es ihnen Mühe kostete, die Polizei zur richtigen Stelle zu dirigieren. Der Bauer, auf dessen Grundstück Chaplins geraubte Überreste gefunden wurden, errichtete dort später ein Holzkreuz, das er mit einem chaplinschen Spazierstock schmückte.

Wenige Monate darauf kam es in Vevey zum Gerichtsprozess, in dem Geraldine Chaplin, die einen Großteil der telefonischen Verhandlungen mit den Leichenräubern geführt hatte, als Hauptzeugin aussagen musste. Im Dezember 1978 wurde das jämmerlich gescheiterte Gaunerduo dann wegen Störung der Totenruhe und versuchter Erpressung zu einer Haftstrafe von viereinhalb bzw. einer Bewährungsstrafe von eineinhalb Jahren verurteilt.

Italiens leere Gräber

Vor Gericht gaben sie zu Protokoll, dass sie die Idee zur makaberen Tat einer Zeitungsmeldung entnommen hatten, die 1977 von der Entführung der Leiche des Großindustriellen Salvatore Matarrese berichtete. Überhaupt scheint das traditionsreiche Gewerbe des Leichenraubs in Italien besonders tief verwurzelt zu sein: Dort verschwanden nacheinander die Überreste der Unternehmer Giuseppe Serra (1978), Luigi Pezzullo (1981), Serafino Ferruzzi (1987) und Guido Vece (1992). Ende 1992 entführten Erpresser sogar die Leiche des dreijährigen Sohnes des Fußballstars Salvatore Bagni; und zuletzt sorgte im März 2001 das leere Grab des Bankiers Enrico Cuccia weltweit für Schlagzeilen.

Fast immer traf es die sterblichen Überreste aus den Reihen des Großkapitals; bisweilen gerieten aber – wie im Fall Mussolinis – auch die starren Körper der Politprominenz ins Visier der Friedhofsräuber: So fehlen dem Leichnam des argentinischen Präsidenten Juan Péron ebenso bis heute beide Hände wie dem von Che Guevara.

An Chaplins Körper machte sich jedoch zum Glück niemand mit Axt oder Kettensäge zu schaffen Seine Leiche landete – vor exakt dreißig Jahren – wieder wohlbehalten in der alten Gruft: Am 23. Mai 1978 wurde Chaplin nämlich die seltene Ehre einer zweiten Bestattung zuteil – allerdings hielt man es diesmal für angebracht, den Sarg vorsorglich in Beton einzugießen.