China: In eigener Sache

Bild: Michael Mandiberg/CC BY-SA-2.0

Wenn im Forum nur noch geholzt wird, bleibt der Diskurs auf der Strecke. Eine Entgegnung an die Superbescheidwisser über die Ereignisse in Peking 1989

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Nach dem Erscheinen des Beitrags "Mir stockte der Atem" - übrigens das Zitat einer chinesischen Studentin, die über die Ereignisse 1989 in ihrem Heimatland spricht, die Quelle ist ja angegeben - trommelt fast das gesamte Forum zum Angriff gegen den bösen Feind: Irgendwas passt nicht.

Mein bewusst knapp gehaltener und als "kalendarische Notiz" angelegter Text wird als "erbärmlicher Propagandaschmarn" angepöbelt, er sei ohne Recherche "dahingerotzt"; wer anderer Meinung ist (eine der eher selten gewordenen Stimmen hier), dem werden "Listen" angedroht etc. etc., das geht ganz rasch in Richtung Blockwartmethoden.

Diskurs, Propaganda, Schmutzkampagnen

Diskurs bleibt dabei leider weitgehend auf der Strecke, bzw. etwas, was man Diskurs nennen könnte - na ja. Eher entsteht hier fast der Eindruck, dass der lange Arm der KPCh bis ins Forum reicht und einige unter dem Einfluss des staatlicherseits propagierten Diskurses stehen, wie ihn Chinas alte Männer am liebsten sehen. Es scheint, Chinas Investitionen (sic!) - in ihrer ideologischen Variante - sind hierzulande wirklich gut angelegt: It works.

Ein Beispiel. Wie man weiß, wird Kritikern der chinesischen Gangart gerne unterstellt, sie würden im Auftrag ominöser westlicher Kräfte handeln, da ist dann ganz schnell ein Propagandamix aus Amerika, NATO, Waffenlobby, Geheimdiensten und anderen finsteren Zutaten zur Hand und wird dem Unaufgeklärten (der belehrt werden muss) übergestülpt, der von all dem keine Ahnung hat oder - noch schlimmer - der als imperialer Handlanger unterwegs ist. Da finden sich immer Claqueure. Schnell gerät dabei auch mal gleich das gesamte Medium - in dem Fall Telepolis - in die Schusslinie, da tönt es aktuell doch glatt: "Ein braunes Drecksloch haben die Admins aus Telepolis gemacht. Vorsätzlich."

Gewünschte Kontexte bleiben manchmal aus. Punkt

Zur Debatte an sich zwei Anmerkungen. - Es wird ja verlangt, die Ereignisse vom Frühjahr 1989 in einen Kontext zu stellen. Das war aber nicht die Absicht des Beitrags. Sondern - wie der Untertitel es zum Ausdruck brachte - die Absicht war eine schnörkellose Erinnerung an das Massaker in Form von Daten. Halt ohne zu viel Senf.

Man hätte, nebenbei, außer den geforderten geopolitischen und -strategischen Kontexten (ob solche jeweils zutreffend, das heißt politisch und sachlich triftig sind oder nicht, sei hier jetzt dahingestellt) z.B. auch die interne chinesische Herrschaftskrise der achtziger Jahre näher thematisieren können, die öffentliche Empörung über die Korruption verbunden mit Inflation, die ab Mitte der 1980er-Jahre den soziopolitischen Sprengstoff lieferte, aber wie gesagt - das war in dem schmalen Fenster gar nicht das Anliegen!

Wer möchte, kann sich über Herrschaft und Legitimation gerne hier weiterbilden, hier findet sich auch Näheres zum Terminus "Politisches Kapital".

Verordnetes Vergessen: Die Methode von Diktaturen

Ein weiterer Punkt, der von übereifrigen Foristen übersehen wird, ist das verordnete Vergessen. Davon spricht etwa der ehemalige Studentenführer Wu'er Kaixi. Davon redet aber auch etwa der Taiwaner Professor Lin Thung-Hong. Er prägte den Ausdruck "Kampf gegen Erinnerungen" - ein Kampf, an dem sich die Aktivisten des TP-Forums kopflos beteiligen, ohne eigentlich zu wissen, was sie da tun: Geschichte fälschen, Vergessen fordern, Li nennt das: die Methode von Diktaturen.

Es ist in der Tat nämlich so: Opferangehörige des Massakers von Tianamen treffen sich einmal im Jahr, um sich auszutauschen und auch, um Trost zu finden und Trauerarbeit zu leisten - viele sind gegängelt und schikaniert von den Behörden. Selbst Chinas Staatsfernsehen zeigte im Juni 1989 in den Abendnachrichten eine Sprecherin, die Schwarz (als Zeichen der Trauer) trägt; sie darf danach nicht mehr vor die Kamera. Das verordnete Vergessen beginnt. Es bezieht sich auch auf Schulbücher, Medien und Internet. Und auf ideologische Forenbeiträge in Deutschland?

Schilderungen grausamer Gewalt

Noch einmal kurz zu den Ereignissen selbst: Alan Ewen Donald, der britische Botschafter seinerzeit, schilderte brutale Gewalt bei der Niederschlagung der Proteste. Den Studenten sei zu verstehen gegeben worden, sie hätten eine Stunde zum Verlassen des Tiananmen-Platzes, "doch nach fünf Minuten griffen die Panzer an". Demonstranten und auch Soldaten seien von den Panzern regelrecht "niedergemäht" worden. Die Fahrzeuge seien immer wieder über die Opfer gerollt.

"Die sterblichen Überreste wurden angezündet und dann mit Wasser in Gullys gespült", schrieb Donald. Krankenwagen, die den Verletzen zur Hilfe kommen wollten, seien beschossen worden. Der Diplomat zitierte überdies den damaligen chinesischen Führer Deng Xiaoping mit dem Satz: "Zweihundert Tote könnten China 20 Jahre Frieden bringen".

Aber das ist ja wahrscheinlich auch wieder nur - Propaganda.

Zum Schluss sei ein Besuch des Hongkonger Tianmen-Massaker-Museums empfohlen. Es ist seit Ende April 2019 geöffnet. Richard Tsoi ist einer der Organisatoren des Museums. Das Museum, das von der Hongkonger Allianz zur Unterstützung Patriotischer Demokratischer Bewegungen in China betrieben wird, war 2016 vorübergehend geschlossen worden. Was kann man dort sehen?

Wer hingucken will ...

Zeitungsseiten, Fotos, Transparente, Kleidungsstücke und andere Zeugnisse dokumentieren das grausige Geschehen am 4. Juni 1989 auf dem Tiananmen-Platz. Höchst seltsam: Kurz vor der Neueröffnung war das umstrittene Museum verwüstet worden. Unbekannte hatten Anfang April laut Angaben der Polizei das Gebäude mit Wasser beschädigt und Einrichtungsstücke zerstört. Es wurde die Vermutung geäußert, dass die Täter die Eröffnung des Museums so verhindern wollten.

P.S.: Übrigens rügte mindestens ein Comment, man vermisse einen sachlichen Beitrag über die Rolle des Westens gegenüber China - dem sei stellvertretend empfohlen, einfach mal in TPs jüngerer Vergangenheit nachzublättern. Zum Beispiel hier.