Chinas zweiseitiger Wandel

Gleicher unter Gleichen will China sein - neben der EU und den USA

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Wie verändert Asien die Welt? Die Welt müsse damit leben, dass Asien, insbesondere China, künftig als gleichberechtigter Akteur neben der EU und den USA stehe, so Ronnie C. Chan, Vorsitzender des Hongkonger Immobilienriesen Hang Lung Group. China strebe nach politischer Macht und sei ein “Gewinn für die Welt”. Da China 20 Prozent der Weltbevölkerung auf seinem Territorium beherberge, verfüge es auch über die größten intellektuellen Ressourcen. Experten rechnen mit einem Anstieg der chinesischen Bevölkerung auf 1,5 Milliarden Menschen bis zum Jahr 2037. Der Westen müsse lernen, China mehr Spiel- und Gestaltungsraum im Westen einzuräumen, erklärte Chan. Überschätzen sich die Chinesen? Oder in welchen Bereichen zeigen sie bereits ihre Weltmachtstärken?

Vielleicht spricht die Tatsache schon Bände, dass ein Land wie China Gastgeber für die Weltausstellung ist - unter dem Kunstwort balancity - , die als die bisher größte Weltausstellung mit 70 Millionen zu erwartenden Besuchern und 240 Teilnehmern gilt. Margot Schüller vom German Institut of Global and Area Studies (GIGA) in Hamburg beurteilt Chinas Wachstum als “gigantisch”. Zumindest wirtschaftlich hat sich die vor dreißig Jahren begonnene Politik der Öffnung und der Reformen der Marktwirtschaft sozialistischer Prägung ausgezahlt.

Das Wirtschaftswachstum

Das wirtschaftliche Wachstum ist in China nicht nur kontinuierlich mit 9,6 Prozent 2008 und 8,7 Prozent 2009 auf bemerkenswertem Niveau, sondern verzeichnet auch eine besondere Eigendynamik. “Die wichtigsten Wirtschaftszweige in der 18 Millionen Einwohner Metropole Shanghai sind die Biotechnologie, umweltfreundliche Energieformen sowie Forschung und Entwicklung mit Ausgaben in Höhe von 2,5 Prozent des BIP“, erklärt Schüller.

Auf dem globalen Markt steht China als Handelsnation an dritter Stelle mit einem Außenhandelsvolumen von 2562 Milliarden US-Dollar 2008, wobei es durch die Finanzkrise nur geringfügig gelitten hat. Die größten Handelspartner Chinas sind dabei an erster Stelle die EU, dann folgen die USA, Japan und an vierter Stelle Südkorea.

Chinas Eigenständigkeit und Reformgeist

Während Ronnie C. Chan Chinas Wirtschaft immer noch als entwicklungsfähig beurteilt, so betont er doch vor allem die Schnelligkeit des Wachstums, die sich langfristig vorteilhaft auf China auswirke. China will als Weltmacht gehört und respektiert werden, so der einhellige Tenor der Referenten auf einem Asien-Symposium in Hamburg.

Dafür habe China die wichtigsten Weichen gestellt, nämlich seine Eigenständigkeit auch in der Koalition mit der sowjetischen KP zur Mitte der fünfziger Jahre gezeigt. Diese Eigenständigkeit zahlte sich aus, als das politische wie wirtschaftliche System der UDSSR kollabierte und China seinen Kurs der kommunistischen Einparteienherrschaft weiter unangefochten in einer inzwischen kapitalistischen Einheitswelt verfolgen konnte.

Wang Hui, Professor für chinesische Sprache und Literatur an der Tsinghua Universität in Beijing, begründet die Eigenständigkeit Chinas mit der Fähigkeit, “Revolutionen länger, intensiver, unter Einsatz aller menschlichen Kräfte bis zum letzten Dorf in der Mongolei” durchführen zu können. Im Unterschied zur Sowjetunion zeichne Chinas Volk seine Aufopferungsfähigkeit und seine Beharrlichkeit aus. “The Chinese sacrified so much both in revolution and reform”, so Wang Hui.

So drang auch mit der Politik der Öffnung der Reformgeist nach innen und außen. Mit Hilfe der Verfassungsänderungen 1993, 1999 und 2004 wurden die sozialistische Marktwirtschaft, der Schutz des Privateigentums, sowie formalrechtlich der Schutz der Menschenrechte eingeführt. Damit gingen Debatten innerhalb der KP in den neunziger Jahren zur Demokratie einher. Wenn es auch formal keine Opposition zum Zentralkomitee gebe, so gab es doch regionale Fraktionen und Seilschaften, die Einbeziehung von Thinks Tanks sowie eine intellektuelle Debatte, u.a. mit Jürgen Habermas zur Legitimität des westlichen Demokratiemodells 2001, sagt Heike Holbig vom GIGA.

Selbst wenn dieser liberale Diskurs seit 2 bis 3 Jahren in den Hintergrund der aktuellen Parteipolitik getreten ist, werden Fragen wie Rechtsstaatlichkeit, Korruptionsbekämpfung, innerparteiliche Demokratie weiterhin im chinesischen Machtapparat diskutiert. Die Partei sei mit ihrer Ideologie nicht am Ende, sondern gleiche den Marxismus an globale Reform-Prozesse an, bilanziert Holbig die jüngste Geschichte des chinesischen Kommunismus.

Kulturelle Vielfalt: der größte Reichtum Chinas

Isabel N. Hilton von der Londoner Organisation Chinadialogue.net fragte die chinesischen Referenten auf der Asienkonferenz: “What is it like to be Chinese?” Die Antwort war kurz und prägnant. Zumindest gebe es in der Entwicklung der chinesischen Identität keine “straight lines”, meint Hilton.

Nach der neuen Verfassung des chinesischen Staates, der in sich schon keine homogene Verwaltungsstruktur hat mit 22 Regionen, 5 autonomen Regionen nationaler Minderheiten (Tibet, Xingjiang, Innere Mongolei, Ningxia, Guangxi) und 2 Sonderverwaltungsregionen (Hongkong, Macau), erkennt der Staat fünf Religionen, den Buddismus, Daoismus, Islam, das protestantische und katholische Christentum, an. Doch der Vielvölkerstaat China beruhe auf einer noch viel breiteren Identität, soweit überhaupt von einer chinesischen Identität aus der Perspektive des Nationalismus gesprochen werden könne.

China sei eine Mixtur aus traditionellem und modernem Denken. So heterogen wie ein Dorf mit den unterschiedlichsten Ethnien sein kann, ist China in der Gänze mit einem konfuzianischem Staat. “Die Chinesen könnten nur von ihrer eigenen Geschichte, ihren alten Dynastien, die die Gesellschaft zusammenhalten, lernen“, sagt der Linksintellektuelle Wang Hui. Ob es in der globalisierten Gesellschaft nur eine Identität gebe? Vor dieser Gefahr müsste sich die Weltgemeinschaft an sich schützen. Vielmehr sollten die Gesellschaften ihr unterschiedliches Wissen über sich selbst und ihre Geschichten erhalten.

Der malayische Intellektuelle Anwar Ibrahim sieht in Asien die Zukunft des 21. Jahrhunderts, denn dort verbinden sich uralte staatliche Traditionen mit lebendigen, tiefgreifenden ethischen Werten. Dazu gehörten die Kultur der ausdauernden Arbeit, die Achtung der Autoritäten, starke Familienbeziehungen und gegenseitiges Vertrauen.

Schattenseiten Chinas

Aber auch die Vielvölkerdynamik Chinas kann die Schattenseiten der Modernisierung Chinas nicht ausgleichen. Auch wenn zur Expo 2010 eine Hightech-Stadtsilhouette der Welt zur Schau gestellt wird, handelt es sich um eine geschminkte Wirklichkeit. Vertuscht werden die wachsende Ungleichheit der Einkommensunterschiede zwischen der Stadt- und Landbevölkerung sowie den Küsten- und Binnenregionen. Vertuscht wird ebenso, dass die oberen 10 Prozent der Bevölkerung 23 mal mehr als die unteren 10 Prozent verdienen.

Genauso wenig hat der Staat ein Interesse daran, dass die zahlreichen Übergriffe auf Eigentum um das Expo-Gelände in den Mediendiskurs gelangen. Obgleich sich die Menschen zunehmend wehren, ist der Polizeiapparat der KP omnipräsent und repressiv.

Günter Schucher vom GIGA zeigte ein Dia von den Bauarbeiten der Expo 2010 in Shanghai, auf dem inmitten einer riesigen Baugrube ein einzelnes Haus auf einen Erdwall genagelt war. Trotz heftigsten Protest wurden die Menschen auf dem Gelände zwangsumgesiedelt und erhielten als Ausgleich verteuerten Wohnraum. Wer sich gegen die Umsiedlung wehrte, dessen Haus wurde entweder direkt platt gemacht, es wurden Schlägertrupps angeheuert oder sein Haus bekam ein Zeichen. “18.000 Familien wurde auf dem Expo-Gelände umgesiedelt“, sagt Schucher. Die Vorgehensweise gegen die Hauseigentümer widerspricht dem Logo der Expo, „balancity“, das eine Balance zwischen wirtschaftlichem Wachstum und Stabilität bezeichnen soll.

Die Wanderarbeiter

Eine andere Schattenseite Chinas, die mit der Urbanisierung einhergeht, ist die prekäre Situation der Wanderarbeiter. 225 Millionen Menschen sind in China als Wanderarbeiter beschäftigt. Die Menschen reisen von einer Stadt zur nächsten und haben kein Recht auf eine langfristige Niederlassung, denn Städte wie Shanghai behandeln die Arbeiter schlecht. Sie haben kein Recht auf subventionierten Wohnraum und dürfen nicht jede Arbeit ausführen. Sie bekommen auch nur dann Arbeit, wenn kein Einheimischer diesen Arbeitsplatz besetzen kann.

Die Wanderarbeiter sind meist männlich und schlecht ausgebildet. Sie arbeiten in Minen, der Bauindustrie oder als Haushaltshilfen, leben von ihren Familien getrennt, wobei die Kinder von Verwandten aufgezogen werden. Für sie ergibt sich durch ihre Arbeit kein Statusgewinn. Sie kommen aus der Armut und gehen in die Armut, so Karsten Giese vom GIGA. Sie profitieren weder von einer Renten- noch von einer Arbeitslosenversicherung.

Im Rahmen von Stimulanzprogrammen der Regierung von 2009 wurden die Beschäftigungssektoren der Wanderarbeiter noch auf die Schwerindustrie und Infrastrukturprojekte ausgedehnt. An ihrem Beispiel zeigt sich jedoch, dass der erworbene wirtschaftliche Wohlstand immer noch sehr fragil ist.