Chinesische Sonderwirtschaftszone in Sachsen-Anhalt

Endlich blühende Landschaften im Osten Deutschlands?

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Mitte September wunderten sich die Bewohner der Saalestadt Halle unter Umständen über Plakate, die Interessenten zu einer öffentlichen Anhörung mit Vertretern der Industrie- und Handelskammer sowie anderen regionalen Verbänden, Stadtplanern, Kommunalpolitikern, Sozialwissenschaftlern und Architekten einluden. Geklärt werden sollten hier Fragen hinsichtlich der bevorstehenden Errichtung einer Sonderwirtschaftszone der Volksrepublik China im Großraum Halle.

Vielleicht war das Erstaunen der Bevölkerung gar nicht so groß, denn von Regionalpolitikern ist sie einiges gewohnt, überbieten die sich schon seit längerem gegenseitig in ihrer richtungsweisenden Experimentierfreude. So hatte der Landtag Sachsen-Anhalts das Bundesland beim Bundeswirtschaftsminister als "Modellregion für Deregulierung und Bürokratieabbau" empfohlen.

Da kommt die Mainland Developments Group aus dem chinesischen Shenzen wie gerufen, um die seit 15 Jahren vergeblich herbei gepredigten blühenden Landschaften doch noch Realität werden zu lassen. Eine chinesische Sonderwirtschaftszone soll her. Nicht nur Vertreter der Wirtschaftspolitik werden sich freuen: Das Lieblingsland aller Wachstumsapologeten wird nun direkt vor der Haustür vorexerzieren, wie es geht.

Die öffentliche Anhörung fand unter dem Konfuzius zugeordneten Motto: „Wenn Du den Hahn auch einsperrst, die Sonne geht dennoch auf“ statt. Quelle: Exterritories

Auf einer Fläche von mehr als 8.000 Quadratkilometern soll Sachsen-Anhalt nebst Bewohnern durchglobalisiert werden. Dazu müssen nur noch ein paar Gesetze geändert bzw. das betreffende Gebiet aus dem bestehenden rechtsstaatlichen Rahmen der Bundesrepublik Deutschland ausgeklinkt werden. Laut Mainland Developments ist ein Staatsvertrag zwischen Deutschland und China bereits in der Entstehung begriffen.

Das Hauptaugenmerk gilt der industriellen Entwicklung der Chemie-, Automobil- und Textilbranche, der Harz ist für den Tourismus reserviert. In einer weiteren Phase soll der Dienstleistungssektor entfaltet werden. Die Hallenser haben dabei gute Chancen, an den entstehenden Arbeitsplätzen teilzuhaben. Erfreulich für die Chinesen ist nämlich die Tatsache, dass die Einheimischen bereits vielfach Erfahrung mit Ein-Euro-Jobs haben; sie sind zuversichtlich, dass sich daraus in naher Zukunft „Cent-Beträge“ machen lassen werden.

Exterritories: Konvergenz, Formalität, Migration, Vitalität. Quelle: Exterritories

Alles nur ein schlimmer Traum?

Die Anhörung ist Bestandteil des Gedankenexperiments Exterritories, das vom österreichischen Architektenbüro Fiedler-Tornquist in Zusammenarbeit mit dem Complizen Planungsbüro Halle ins Leben gerufen wurde, und verkörpert lediglich – jedenfalls momentan noch – eine fiese Zukunftsparodie. Nur die leibhaftigen Experten des Podiums waren über den rein fiktiven Charakter der Veranstaltung vorab aufgeklärt. Doch Reaktionen des Hallenser Publikums zeigten, dass das vorgestellte Szenario nicht im Bereich des Undenkbaren angesiedelt zu sein scheint und dass für eine Arbeit an der Saale in saure Äpfel gebissen wird - wenn es sein muss, auch in chinesische.

Ergebnisse und Reaktionen sind ab 26.11.2005 im Rahmen der Ausstellung Schrumpfende Städte – Interventionen in der Galerie für Zeitgenössische Kunst in Leipzig zu sehen.