Chodorkowski und die "Stalin-Spinne"
Das Moskauer Stadtgericht erließ dem ehemals reichsten Mann Russlands ein Jahr Haft
Michail Chodorkowski, der ehemalige Chef des Ölkonzerns Yukos, und sein Geschäftspartner Platon Lebedew müssen noch bis 2016 in Haft bleiben. Ihre Berufungsklage wurde gestern vom Moskauer Stadtgericht zurückgewiesen.
Die beiden Unternehmer waren im Dezember zu 14 Jahren Haft wegen Öldiebstahls verurteilt worden. Gestern erließ das Moskauer Stadtgericht Chodorkowski und Lebedew ein Jahr Haft. Das heißt, die beiden bekanntesten Häftlinge Russlands können nicht erst 2017 sondern schon 2016 in Freiheit kommen. Für Chodorkowski ist das jedoch nicht mehr als "Kosmetik, die dumm aussieht."
Die Summe des angeblich von Chodorkowski gestohlenen Öls wurde vom Gericht um 120 Millionen Tonnen reduziert. Nach dem gestrigen Urteilsspruch haben die beiden Manager in der Zeit von 1998 bis 2003 also angeblich 218 Millionen Tonnen Öl gestohlen.
Die Anwälte von Chodorkowski kündigten an, sie würden das Urteil in weiteren Instanzen anfechten und bis vor den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof gehen.
Säuberung der "staubigen Keller"
In dem gestriegen Berufungsverfahren spürte Chodorkowski wohl, dass er nichts mehr zu verlieren hatte. So griff er Richter und Staatsanwälte scharf an. "Ich habe nichts mit Kriminellen zu besprechen, auch nicht mit solchen in einer Richterrobe", erklärte der ehemalige Yukos-Chef, der zusammen mit Lebedew in einem Glaskäfig saß. Das Urteil vom Dezember sei von einer "Stalin-Spinne" geschrieben worden, die man aus einem "staubigen Keller ausgegraben" habe. Ohne Säuberung der "staubigen Keller" sei eine Modernisierung in Russland nicht möglich.
Die zahlreich versammelten Anhänger der beiden Verurteilten, die sich vor dem Gerichtssaal versammelten hatten, riefen nach dem Urteil "Schande, Schande". Die beiden Verurteilten blieben ruhig und lächelten. Die Mutter von Chodorkowski, Maria Filipowna, erklärte, sie habe kein anderes Urteil erwartet.
Wie konnte Yuko Steuern zahlen, investieren und den Geschäftsbetrieb aufrecht erhalten, wenn das gesamte Öl gestohlen wurde? Die Argumentation der Staatsanwaltschaft war extrem widersprüchlich, worauf Chodorkowski und seine Anwälte immer wieder hinwiesen. Das Öl zu stehlen sei nicht möglich gewesen, da es über das Pipeline-System des staatlichen Unternehmens Transneft geliefert wurde, erklärte der ehemalige Yukos-Chef. Auch der Vorwurf, Yukos habe Öl in Westeuropa zu einem höheren Preis verkauft als in Russland sei "absurd", denn Gewinne zu erhöhen, sei ein legales Ziel eines Unternehmers.
Die gestrige Verteidigungsrede des seit 2003 inhaftierten Chodorkowski klang wie ein politisches Manifest, mit dem der Unternehmer sein Rolle als Putin-Gegner bekräftigte. 15 Prozent aller Unternehmer in Russland seien "kriminellen Repressionen" ausgesetzt, erklärte der ehemalige Yukos-Chef. "Wir haben genug von der Willkür, wir haben genug von den Lügen. Wir haben genug von den Bestechlichen und Schwindlern an der Macht, die sich alles erlauben." Die Zerstörung des Rechts sei "Verrat an der Zukunft Russlands".
Wer hat Angst vor Chodorkowski?
Chodorkowski und Lebedew werden also noch weitere Jahre im Gefängnis sitzen müssen. Auch Kreml-nahe politische Beobachter bestreiten allerdings nicht, dass an den beiden Unternehmern ein Exempel statuiert wird. Chodorkowski hat sich in die Politik eingemischt und damit eine stillschweigende Übereinkunft zwischen Unternehmern und Kreml missachtet. Im Grunde wissen es alle: Der Yukos-Chef hat 2003 liberale Oppositionsparteien und die Kommunisten finanziert und damit Wladimir Putin die Stirn geboten.
Präsident Dmitri Medwedew hat sich zum Thema Chodorkowski immer zurückhaltender geäußert als Putin, der den ehemaligen Yukos-Chef im Dezember sogar beschuldigte, er habe Morde des Yukos-Sicherheitschefs gedeckt. Doch letzte Woche auf der großen Pressekonferenz des russischen Präsidenten wollte es ein russischer Journalist noch einmal ganz genau wissen. Ob die Freilassung von Chodorkowski "gefährlich für die Gesellschaft" sei, fragte der Journalist, worauf Medwedew einen sehr kühlen Gesichtsausdruck bekam. Der Präsident antwortete: "Die Frage ist kurz, und die Antwort ist auch kurz: Das ist absolut nicht gefährlich."
Diese Aussage muss man wohl so verstehen, dass Chodorkowski nicht der Mann ist, der das politische System in Russland heute in irgendeiner Art destabilisieren kann. Das stimmt wohl. Die Unternehmer, welche in den wilden 1990er Jahren reich wurden, haben in der Bevölkerung wenig Ansehen. Nur die russische Mittelschicht und die Intelligenz interessiert sich überhaupt für den Fall Chodorkowski. Denn sie hat erkannt, dass es dabei um mehr geht als um Geld. Es geht um die Frage, ob Russland ein autoritär regierter Staat bleibt oder nicht.