Computerspiele: Kulturtheorie entdeckt Medium

Ein neues peer-review Journal soll dem Nischenthema einen Diskurs spendieren

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"Auch im Jahrhundert der Moderne dauerte es mitunter Jahrzehnte bis ganze Kunstgattungen Anerkennung fanden", schrieb Daniel Kothenschulte anlässlich des 20-Jahr Jubiläums von MTV dieser Tage im Feuilleton der "Zeit". Musikvideos finden mittlerweile allerdings nicht nur bei so manch respektablem Filmfestival Beachtung, auch die kulturtheoretische Auseinandersetzung mit ihnen ist längst ins Blickfeld des akademischen Mainstreams gerückt. 1 Ähnliche Anerkennung ist dem Populärmedium des Computerspiels dagegen bislang nur selten vergönnt: Seiner ständig wachsenden Akzeptanz in der Popkultur steht eine bestenfalls bruchstückhafte theoretische Bearbeitung gegenüber.

Die Gründe für die zögerliche Zuwendung von Seiten der Kulturwissenschaft sind vielfältig und mit der allgemeinen Trägheit des akademischen Betriebs wohl nur ungenügend erklärt. Auch die kritische Theorie, deren Stigmatisierung jeglicher Populärkultur als konsumideologische Gehirnwäsche tatsächlich jahrzehntelang die Akzeptanz ganzer Forschungsfelder verhindert hat, kann zu einer Zeit, in der die cultural studies zum akademischen Establishment zählen, nur mehr bedingt für diesen Mißstand verantwortlich gemacht werden. Denn selbst von jenen Kulturtheoretikern, die im Rahmen des "New Audience Research" sonst bereitwillig jedes nur erdenkliche kulturelle Phänomen - vom Barbecue-Grillen im US-Hinterland bis hin zu den Nippes-Sammlungen vorstädtischer Wohnzimmer - mit einer umfassenden Studie versehen, ist zum Thema Computerspiele bloß Schweigen zu vernehmen. Ein Schelm wer dabei denkt, dass das Publikum des Mediums - hauptsächlich weiße Mittelklassejungs - nicht gerade das Lieblingssubjekt der cultural studies Forscher darstellt.

Die Sprachlosigkeit der modernen Kulturwissenschaft ist tatsächlich beschämend, denn sie überlässt das Feld bereitwillig jenen Forschern, die sich ihre Hypothesen gerne von der Regenbogenpresse diktieren lassen: Geschätzte 90% aller Untersuchungen zum Thema kreisen um Fragen der Wirkungsforschung und den schädlichen Einfluss von Computerspielen auf unsere Gesellschaft. Sorgten vor fünfzehn Jahren noch Arbeiten über rechtsextreme Computerspiele für Schlagzeilen, so kam diese Ehre kürzlich etwa der Studie eines japanischen Neurologen zu, derzufolge Computerspiele bei Kindern die Verkümmerung des Frontallappens verursachen und so die Gewaltbereitschaft fördern. Pikanterweise sollte die Studie angeblich das Gegenteil beweisen, da Herr Professor Kawashima mit Sponsorgeldern aus der Spieleindustrie liebäugelte. Die Gelegenheit, gewissenhaft wie medienwirksam den moralischen Zeigefinger zu erheben, dürfte ihn für den Ausfall allerdings entschädigt haben.

Studien wie diese werden seit Jahren Woche für Woche publiziert, nicht selten mit völlig widersprüchlichen Ergebnissen. Für die Kulturtheorie sind sie ebenso nutzlos wie die grundsätzlich lobenswerte Empirie der Sozialpädagogik, liegt das Durchschnittsalter der Spielekonsumenten doch inzwischen bei Mitte zwanzig. Die für die Medienforschung grundlegenden Fragen nach Vermittlungsweise und Nutzung der Spiele harren nicht nur ihrer Beantwortung, sondern auch ihrer Formulierung. Tatsächlich scheint gerade die Wahl des wissenschaftlichen Zugangs ein Grundproblem für die Auseinandersetzung mit dem Medium darzustellen. So können Computerspiele etwa gleichzeitig kommunale Spielökonomien, visuelle Medien und kybernetische Steuerungssysteme sein, sie vermögen Geschichten zu erzählen oder gar als Vehikel der Identitätskonstruktion zu dienen - kurz: sie fallen in die Zuständigkeitsbereiche eines guten Dutzends akademischer Disziplinen, die wahlweise mit dem Thema nichts zu tun haben wollen oder es - konträr dazu - für den eigenen Diskurs zu vereinnahmen trachten.

Als symptomatisch für diese Entwicklung mag etwa der Umstand gelten, dass gerade die Literaturwissenschaft seit Jahren bestrebt ist, das Computerspiel in die Reihe ihrer Schäfchen einzuordnen. Auch wenn diese Bemühungen durchaus von interessanten Ergebnissen gekrönt sind - Brenda Laurels Klassiker "Computers as Theatre" etwa oder Janet Murrays "Hamlet on the Holodeck" - so muss sich dieser Forschungsansatz doch den Vorwurf gefallen lassen, einen gewissen theoretischen Kolonialismus zu praktizieren. Relativ unbekümmert werden da bewährte Theorien der Literaturkritik, etwa jene der französischen Strukturalisten, von ihrem kontextuellen Ballast befreit und an das sogenannte "interaktive storytelling" angelegt. Nur selten hält man sich dabei mit der Frage auf, ob - immerhin zehn Jahre nach dem Abschied vom Textadventure - der narrative Aspekt tatsächlich als bestimmendes Element einer Ästhetik der Computerspiele angesehen werden kann.

Neben der theoretischen haben Computerspiele aber auch mit einer Vereinnahmung zu kämpfen, die ruhigen Gewissens als ideologische bezeichnet werden darf. Im Windschatten von WIRED und des New-Economy Booms konnte sich eine Riege von meist US-amerikanischen Kulturtheoretikern mit der Anschauung profilieren, digitale Medien bewirkten bereits durch ihre Struktur eine Machtübergabe an den Rezipienten, eine Demokratisierung der Mediennutzung. Auch Computerspiele können sich bisweilen der Umarmung durch diesen euphorischen, medialen Determinismus nicht entziehen. So hielt etwa der New Yorker New-Media Apologet und Science-Fiction-Autor Douglas Rushkoff in einer Diskussion des feedmag allen Ernstes fest, er sehe in Computerspielen ein "Heilmittel für eine Kultur, die die Fähigkeit verloren hat, mit sich selbst zu kommunizieren". Dass der Kulturkritiker Mark Dery ("Flame Wars") im gleichen Dialog bemängelt, Computerspiele erreichten nicht einmal die literarische Qualität eines J.R.R. Tolkien, passt da nur ins Bild.

Geradezu als Lichtgestalt im Dickicht der theoretischen Verwirrung kann einem da jemand wie Espen Aarseth vorkommen, Professor für humanistische Informatik an der Universität Bergen, der 1997 mit seinem Buch "Cybertext: Perspectives on Ergodic Literature" erstmals international Aufsehen erregte. Aarseth versucht darin nicht weniger als eine kohärente Theorie partizipatorischer ("ergodischer") Texte zu entwickeln, die auf der einen Seite eingehend auf Diskurse der Semiotik und der Literaturwissenschaft Bezug nimmt, auf den anderen Seite schonungslos mit den "theoretischen und ideologischen Imperialismen" seiner Kollegen ins Gericht geht.

Dass Aarseths Buch wohl mit den Zweck erfüllen sollte, das Feld der Computerspiele für die geisteswissenschaftliche Bearbeitung aufzubereiten, wird spätestens dann deutlich, wenn man weiß, dass der Norweger vor wenigen Wochen das erste wissenschaftliche Journal zum Thema ins Leben gerufen hat. Die Game Studies getaufte Publikation, die von Aarseth selbst sowie seiner US-Amerikanischen Kollegin Marie-Laure Ryan herausgegeben wird, soll vierteljährlich ausschließlich im Web erscheinen und versteht sich als interdisziplinäre Plattform mit Fokus auf "ästhetische, kulturelle und kommunikative Aspekte" des Mediums. Den Schwerpunkt der ersten Ausgabe bildet - wie könnte es anders sein - die problematische Beziehung zwischen narrativer Theorie und Computerspiel. Dem Projekt ist zu wünschen, der theoretischen Auseinandersetzung mit dem Medium Computerspiel jene wissenschaftliche Grundlage bereitstellen zu können, die lange genug vermisst wurde: Einen kontinuierlichen und verbindlichen Diskurs.