Conversationsspiel

Das "NetzkunstWörterBuch"

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»Es fand im Juni 1999 entlang Urbino ein vorbereitetes Conversationsspiel statt, gleich einem vor 500 Jahren von Castiglione beschriebenen, jetzt aber in einem chat-Raum im Internet.« Dass der Chat in Urbino abgehalten wurde gehe auf Conversationsspiele zurück, die dort um 1500 von Elizabetta Gonzagas veranstaltet und von Baldassare Castiglione beschrieben wurden. Dabei schlugen die TeilnehmerInnen »conversationelle Spiele vor, die von der Gruppe verworfen oder angenommen wurden« (siehe Eintrag "Conversationsspiel"). An diese Form der Conversationskunst anknüpfend entstand die Idee, einen "#urbino-chat" zu veranstalten. Kurd Alsleben und Antje Eske, die Initiatoren dieses Chats, haben nun gemeinsam das "NetzkunstWörterBuch" herausgegeben.

»Welches Wort ist das Wörterbuch?«

Wenn man »im Wörterbuch nachschlage und frage: 'Welches Wort ist das Wörterbuch?'«, schreibt Buckminster Fuller, dann sei das eine »sinnlose Frage«1. Ähnliches scheint dem eben erschienenen "NetzkunstWörterBuch" als Motto vorangestellt worden zu sein. So heißt es in der Einleitung: »Dass vorliegendes ein experimentelles Buch ist, wird die Leserin oder der Leser beim heutigen Stand der Netzkunst, so hoffen wir, gut heissen. Das Buch ist selbst Teil einer künstlerischen Praxis und Vorgabe für Netzarbeit. Bitte verfolgen Sie die Entwicklung der Wörter dieses Buches im Internet oder beteiligen Sie sich, wenn Sie möchten: www.hfbk.uni-hamburg.de/netz/kunst.html«.

Auf den Eintrag "Netzkunst" im "NetzkunstWörterBuch" braucht dennoch nicht verzichtet zu werden: »Netzkunst ist natürlich Computernetzkunst. Computerkunst gibt es seit ca. 1960«, leitet Kurd Alsleben zum Stichwort ein. Daneben findet sich der Verweis auf "Cybernetic Serendipity" - eine Ausstellung im Jahre 1968 in London, kann erfahren wer diesem Hinweis folgt. »Mit ihr wurde die elektronische Kunst bekannt.« Theoretischer Hintergrund dieser Ausstellung sei die "Informationsästhetik"2 gewesen, eine, so steht unter dem entsprechenden Eintrag zu lesen, »progressive Theorie der 60er Jahre«, die den »Anfang elektronischer Künste« begründet und als Prüfstein gegolten habe, um »Kybernetik und Geisteswissenschaft zu verbinden«.

An dieser Stelle kann dem Verweis auf "Partizipationskunst" gefolgt werden. Partizipationskunst sei ein Pleonasmus wird behauptet und unter anderem mit Marcel Duchamp begründet: »Der Künstler macht ein Kunstwerk nur zur Hälfte, die andere Hälfte steuert der Betrachter bei« zitiert Karl Gerstner indirekt. Wer sich erinnern mag, dem kann an dieser Stelle wieder die Einleitung des Buches in den Sinn kommen: »Das Buch ist selbst Teil einer künstlerischen Praxis und Vorgabe für Netzarbeit.« Soll heißen, die Herausgeber Kurd Alsleben und Antje Eske haben das Buch mit den 42 Mitautor-innen 'nur zur Hälfte' gemacht.

"Ach-So-Effekt"

Zeichnung von Ted Nelson

Eskes Eintrag "Ach-So-Effekt" kann folglich schon fast als Gebrauchsanweisung für den angemessenen Umgang mit dem "NetzkunstWörterBuch" gelesen werden: »Bei Formulierungen in Links, wie sie in Computer und Netz möglich sind, kann ich den wilden Gedankensprüngen eines anderen Menschen mittels Tastenverbindungen hinterher springen, was mich schnell in fremde Welten und unvorstellbare Verknüpfungen bringt. Ich kann diese Sprünge so oft und in aller Ruhe wiederholen, bis ich begreife. Und genau in diesem Moment entfährt mir ein unwillkürliches "Ach so! Ach so meint sie das!"« Entsprechend fragt sich Heiko Idensen in einem seiner zahlreichen Beiträge "Cut-up: schneiden, knüpfen, verknüpfen": »Ist das noch Cut-Up - oder schon etwas anderes? [...] Was Burroughs in seinen Experimenten erahnte, ist heute die strategisch wichtigste Operation im Netzschreiben geworden.« Eine Behauptung, die sich spätestens im Anhang des Wörterbuchs bestätigt findet.

Dieser besteht, neben einem bearbeiteten Mitschnitts des #urbino-chat, auch aus einer "Nacherzählung" zur Entstehung des chats, von der Idee, den Hintergründen bis zu kleinen Ausflügen zu den Problemen vor Ort. Interessant ist dabei der unverstellte Blick auf die Differenzen zwischen Planung und tatsächlichem Ablauf. So heißt es etwa, daß die Idee, ein Conversationsspiel der Renaissance nachzuspielen, von den Chattern »nur sehr kurz aufgenommen worden« (S. 564) war. »Der chat selbst ereignet sich, unvorhersehbar, improvisatorisch.« (S. 564) Im Bericht werden immer wieder auch die 'Probleme' des Chattens erwähnt. In den nur teilweise abgedruckten Gesprächen und eMail-Korrsepondenzen, die im Anschluß des #urbino-chats stattfanden, wird diskutiert wie der Chat als künstlerische Form entwickelt und durch die Conversationskunst bereichert werden kann.

Entsprechend der Idee des Conversationsspiels wurden zwei Regeln aufgestellt: »1) Vermeiden der zu erwartenden Diskursivität, "Steigrohre des Unbewussten", wie Gerhard Rühm sagt, sollten sich öffnen (statt diskursiven, einen intensiven oder ironischen Stil lancieren) und 2) das erfahrungsgemäss äusserst hohe chat-Tempo verlangsamen.« Wobei die erste Regel durch den Anreiz zu Reimen zu weiten Teilen als erfolgreich angesehen wurde, die zweite Regel allerdings im Nachhinein gar als »daneben gedacht« (S. 560) bezeichnet wird. Über "Reimform" schreibt Antje Eske, daß sie sich als »anregend für HyperCard-Konversationen und Chats erwiesen« habe.

Begrüßungsbildschirm: "Die längste Diskettenkorrespondenz der Welt" ein Hypertext-Briefwechsel zwischen Antje Eske und Volker Lettkemann.

»Oh Bruder Autor«

... heißt es unter "VerSchlusselte Worte", die förmlich dazu zwingen, an den Anfang zurückzuspringen und noch einmal unter dem Eintrag "assoziieren" nachzulesen: »Aus den Rezeptionsprozessen von Autor und Leser geht ein Impuls aus, eine Verdichtung und Konzentration: das Kunstwerk wird zu einem Gebrauchsmittel, eine Anleitung zur Realisierung ästhetischer Kommunikation.« Das Internet sei »eine neue Kunstsphäre«, schreiben die Herausgeber in der Einleitung und verstehen dieses Buch in doppeltem Sinne als ein »Gebrauchsmittel«: einerseits werden »kunsthistorische Referenzen angeführt« und andererseits legt es eine Rezeptionsform nahe, die wiederum das Entstehen ästhetischer Kommunikation unterstützt.

Weiter heißt es in der Einleitung: »Etwa 30 Netzkünstler und 10 Gelehrte, Frauen und Männer, erklären in diesem Buch« Wörter für »Gespräche« in der Kunstsphäre Internet. Auf die Autoren werden im Anhang noch dreißig Seiten für Vita und Bibliografie verwandt - nebst einer Liste der jeweiligen Beiträge: der Zugriff über Autorennamen wird also mehrfach ermöglicht - die Betonung liegt hierbei jedoch auf 'möglich'. Die Kürzel, die in der Stichwortliste auf die Autorennamen verweisen, eröffnen lediglich einen weiteren Adressraum, ohne dabei die Zugriffsweise auf das Material zu überschatten oder gar zu dominieren. Passend dazu Heiko Idensens Beitrag "Autorisieren": »Jeder Text ist Bestandteil verschiedener textproduktiver und -rezeptiver Prozesse: Textmaschinen, Sprachspiele, Auf- und Entladungen, Referenzen, die sich aufbauen, abbrechen, vertiefen und vernetzen ... Differenzen und Wiederholungen von Lese- und Schreibakten ...«

Spätestens beim Blick in die Biografien der zahlreichen Mitautoren wird die interessante Mischung deutlich. Schon auf der ersten Seite machen Vater Kurd und Sohn Jonas Alsleben den weiten Generationsbogen deutlich. »Die AutorInnen gehören mit einem Altersunterschied von 18 bis 80 Jahren unterschiedlichsten Generationen an«, heißt es bereits in der Einleitung des Buches. Dies führt zwangsläufig auch zu unterschiedlichsten Art und Weisen, sich dem weiten Feld Netzkunst zu nähern. Mit etwas Gewalt gegen das Material lassen sich vier Schwerpunkte setzen. Da sind zunächst die frühen Auseinandersetzungen im Spannungsfeld zwischen 'Kybernetik und Geisteswissenschaft', bzw. den Ansätzen zur 'Informationsästhetik' (etwa: Kurd Alsleben, Georg Nees, Elisabeth Walther-Bense), gefolgt von den Schlagworten 'Hypertext' (etwa: Antje Eske, Heiko Idensen), 'Interface' (etwa: Frank Fietzek, Detlev Fischer) und 'Netzwerkprojekte' (etwa: Matthias Lehnhardt, Achim Lipp oder Ole Lütjens).

"Zettelbuch, hybrider Zettelkasten in Buchform, 1689"

Daß der zunächst vielleicht irreführend an den "net art"-Diskurs erinnernde Begriff "Netzkunst" einen nur indirekten Bezug leistet, verdeutlicht nicht zuletzt diese grobe Skizze der verschiedenen Ansätze und Interessen. Das Buch gewinnt vielmehr gerade durch die Vermischung der unterschiedlichen Annäherungen an das Thema. Mit dem begrifflichen Instrumentarium, den historischen Beispielen und den zahlreichen Abbildungen wird eine Art Werkzeugkoffer bereitgestellt, mit zahlreichen Verweisen auf Techniken des Assoziierens, Imaginierens, Kommentierens, Schreibens, Verirrens, Verzettelns, Verknüpfens ... und nicht zuletzt des Conversierens.

Außer Verweisen innerhalb des Buchs, also von einem Eintrag zu einem anderen, finden sich am Ende zahlreicher Einträge auch kleine Ergänzungen, sogenannte Links. Am Ende des Eintrags "Antwortnot" heißt es Beispielsweise: »Link: Wau Holland schrieb in der "Datenschleuder 56": "Eine der übelsten Dinge ist es, einen Menschen von der Kommunikation auszuschliessen."« [dort: Holland, Wau: ds://finder/editorial.wau. In: Die Datenschleuder 56. Hamburg 1996] [zu Wau Holland siehe außerdem: Hacken als Form der Gesellschaftskritik]

»Phrasen des Links«

»Entsprechend den Inhalten, die in der verbindenden Bewegung des Hyperlinks in Computer oder Netzen zusammengebracht werden, ändert sich die Bedeutung,« heißt es einleitend im Eintrag "Phrasen des Links". Ein Umstand, den sich auch das Buch zu Nutze macht und die Intention der Macher-innen unterstützt. Wird der Anhang bei einer sprunghaften Nutzung des Buches mit einbezogen, verstärkt sich noch der starke Praxis-Bezug der versammelten Materialien. Das "NetzkunstWörterBuch" reizt zur künstlerisch-praktischen Auseinandersetzung mit den versammelten Techniken und Praktiken und regt zur Anwendung der aufgezeigten Schreibformen und -techniken im, zum und am Netz an. Folglich ist es nur Konsequent, daß zum Weiterschreiben im Web aufgefordert wird. Unter www.hfbk.uni-hamburg.de/netz/kunst.html ist eine Plattform eingerichtet, auf der an den einzelnen Begriffen weitergeschrieben oder neue angelegt werden können.

Im besten Sinne ist das "NetzkunstWörterBuch" also nur die eine 'Werkhälfte'. Ein Wörterbuch im Sinne des eingangs zitierten Fuller-Aufsatzes - »Das Leben ist synergetisch.« (Fuller, S.65) - bilden sich Synergie-Effekte beim Gebrauch des Buches, wenn man den Verweisen folgt, springt und frei assoziiert. Kurz: Die Qualität läßt sich weniger auf einzelne Teile zurückführen, sondern entsteht vielmehr aus der Gesamtheit der Einträge. So fasst der letzte Satz des Buches auch sehr passend die ersten Leseeindrücke zusammen: »Aber ich merke, dass etwas mit mir passiert, was ich noch nicht überblicke.«

Kurd Alsleben, Antje Eske (Hg.) "NetzkunstWörterBuch. www.hfbk.uni-hamburg.de/netz/kunst.html" - erschienen bei Edition KueCocoKue, Hamburg im Juli 2001. Mit Fotos und Illustr., Books on Demand, deutsch, ISBN 3-8311-2259-8.