Corona: Die "Merkel-Zahl" ist erreicht

Das RKI meldet über 19.000 Neu-Infizierte. Der Fraktionssprecher der Union bestärkt Zweifel am Ende der verschärften Maßnahmen im November. Virologe Streeck ist für eine Langzeitstrategie

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Über 19.000 Neu-Infizierte in Deutschland meldet das RKI heute. Die Größenordnung hatte Kanzlerin Merkel Ende September für Weihnachten als düsteres Szenario für Weihnachten vorhergesagt. Damals habe die Zahl viele schockiert, berichtet der Focus, der seinerseits noch Schock-Stress dazu mischt: Bei einer "konstanten Wachstumsrate von etwa 6,46 Prozent", rechnet er vor, könnten es bis Weihnachten täglich 380.000 Neuinfektionen sein.

Ab kommender Woche soll der Trend mit dem neuen Maßnahmenpaket "Lockdown Light" gestoppt werden. Die Bevölkerung ist geteilter Meinung; nur eine knappe Mehrheit äußerte beim jüngsten ARD-DeutschlandTrend Zustimmung. Der Eindruck aus Berichten und privaten Gesprächen ist, dass die Skepsis im Vergleich zu den Schließungsmaßnahmen im Februar gestiegen ist.

Irritierend ist die Unklarheit darüber, wie lange die verschärften Maßnahmen gelten sollen. "Es ist der Plan, dass wir zum Dezember lockern. Garantieren kann das niemand", sagte der Unionsfraktionschef Brinkhaus. Ohne etwas zu tun, werde man "sicher keinen guten Dezember haben". Brinkhaus schließt auch eine Verschärfung der Maßnahmen nicht aus:

Viel wird davon abhängen, ob alle mitziehen. Dann haben wir eine gute Chance, auf weitere Verschärfungen verzichten zu können. Wenn aber flächendeckend die Leute ihr Ding machen, dann kriegen wir ein Problem.

Ralph Brinkhaus

Was der Unionsfraktionschef mit dem salopp hingeworfenen Generalverdacht gegenüber "Leuten, die flächendeckend ihr Ding machen" genau meint, ist Teil des Problems. Es ist nicht einmal so sehr das nervig Erzieherische, sondern der Mangel an Präzision. Der zeigt sich nicht bloß an dieser Äußerung, die eine Breitseite Vorwurf Richtung Bevölkerung schickt, sondern an vielen wichtigen Stellen.

Viele der nun beschlossenen Schließungen erscheinen als unverhältnismäßig. Gastronomen, Hoteliers, Theaterbetriebe, Veranstalter, Geschäftsinhaber haben über Monate "Hygienekonzepte" ausgearbeitet. Nun müssen sie schließen. In Interviews äußern Vertreter dieser Branche, dass die Infektionszahlen diese harten Maßnahmen nicht rechtfertigen.

Wie solide ist das rigide Vorgehen begründet?

Die Theater sind keine Infektionsherde wird da zum Beispiel vorgebracht, ähnliches hört oder liest man von Hoteliers, Gastronomen und Vertretern kleinerer Einzelhandels- oder Handwerksbetriebe, z.B. Schuhmacher, die ohnehin schon eine wichtige Verkaufssaison verpasst haben. Eine nähere Betrachtung der österreichischen Clusteranalysen bestärkt die Skepsis darüber, dass Zuordnungen nicht wirklich sorgfältig gemacht werden - zum Nachteil der Kategorien "Hotel/Gastro" oder "Sport".

So stellt sich die Frage, wie solide das rigide Vorgehen - "Länder setzen Touristen Abreisefristen" - in Deutschland gerechtfertigt ist:

Am schnellsten müssen Touristen in Schleswig-Holstein den Heimweg antreten. Hier gilt bereits ab Montag ein Verbot für touristische Übernachtungen, demzufolge sollen Urlauber das Binnenland sowie die Insel Fehmarn bereits bis zum Wochenstart verlassen haben. Etwas mehr Zeit bleibt den Touristen auf den Nordsee-Inseln und Halligen: Um ein mögliches Verkehrschaos wegen der plötzlichen Abreise zu vermeiden, gewährt die schleswig-holsteinische Landesregierung ihnen eine Frist bis kommenden Donnerstag.

Tagesschau

Die pauschalen Maßnahmen, jenseits der Fallanalysen, ob die Hotels oder Gastronomiebetriebe zur Ausbreitung des Virus beigetragen haben, beruhen auf dem großen Einverständnis mit der Maxime, wonach Kontakte flächendeckend abgeschnitten werden, koste es, was es wolle für die Einzelbetriebe, die verschwinden schließlich schnell wieder aus den Brennpunkten der Medien.

Wie so oft ist es der Virologe Hendrik Streeck, der dem alternativlosen Vorgehen eine andere Option entgegenhält. Im Interview mit der SZ am Wochenende (mit online-Zahlschranke oder in der Printausgabe) erklärt er, dass er den Shutdown für zu früh halte.

Er bringt sicherlich die Infektionszahlen runter. Aber nach den vier Wochen werden sie wieder steigen, dann geht es von vorne los. Soll dann wieder ein Shutdown folgen? Man gibt den Menschen damit keine Perspektive. Das Virus geht ja nicht weg.

Hendrik Streeck

Der Bonner Virologe optiert für eine Langzeitstrategie, die mit einem Ampelsystem arbeitet, das die Infektionszahlen kombiniert mit dem Anteil der positiven Tests, der Belegung von Klinikbetten und von Intensivbetten, um regional gezielter vorgehen zu können. So könne man "in manchen Regionen etwas mehr Infektionen zulassen, ohne gleich Alarm schlagen zu müssen". Als konkretes Beispiel bringt er dafür Berchtesgaden, wo es trotz Alarmstufe rot wegen der hohen Infektionszahlen kein Problem in den Krankenhäusern gab.

Die Risikogruppen

Der neuralgische Punkt bei Strategien, die mehr auf punktuelles Agieren setzen und damit weniger auf harte generell einschneidende Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus setzen, sind die Risikogruppen. Man kann sie nicht anders so gut wie möglich schützen als auf der Basis einer allgemeinen Eindämmung der Coronavirus-Infektionen, lautet das Argument der Befürworter von harten weit übergreifenden, generellen Maßnahmen. Dem müssen sich diejenigen stellen, die andere Vorgehensweisen vorschlagen.

Streeck ist für die grundlegenden Regeln - Masken tragen und Abstand halten. "Was wir vermeiden müssen, ist eine unkontrollierte Durchseuchung", sagte er der Frankfurter Rundschau. Denn das bedeute, "dass das Virus irgendwann ungehemmt diffundiert zu jenen Menschen, die durch eine Infektion schwer erkranken oder daran sterben können. Das gilt es, um jeden Preis zu verhindern".

Man habe keine Barrieren errichtet "für die Personen, die wir schützen müssen. Dafür haben wir den Sommer nicht genutzt". Für die Risikogruppen schlägt er im SZ-Interview Folgendes vor: Schnelltestschleusen vor Altersheimen, Besucher und Personal dürfen nur mit negativen Tests und FFP2-Maske hinein, desgleichen für Ältere, die zuhause leben: Schnelltests und FFP2-Masken für die Rentnerin, "damit sie ohne Gefahr Besuch von ihren Enkeln bekommen kann".

Das ist wie die Nachbarschaftshilfe für den Einkauf, wie sie Hendrik Streeck vorschlägt, machbar, wie man in kleinen Orten im bayerischen Alpenvorland beobachten kann, kann sogar das Essenbringen sehr gut funktionieren, aber es ist sehr aufwendig. In der Stadt ist dies nur mit viel Hilfspersonal zu schaffen. Klar ist allerdings auch, dass eine Diskussion darüber, wie man den Älteren und anderen Risikogruppen helfen kann, besser ist als der dauernde Alarmstress, der "flächendeckend" mit der Existenzgrundlage so vieler spielt.