Corona-Krise: Ein Weckruf zur umfassenden Aufklärung

Seite 3: Selbstkritik und Entschuldigung

Es ist nicht weiter möglich, um die Ereignisse und Maßnahmen der Corona-Jahre mit dem lauwarmen Hinweis, in einer Krise seien Fehler leider unvermeidlich, den Mantel des Schweigens zu hüllen. Die Erinnerung an die Spaltung der Gesellschaft sitzt zu tief. Die Spaltung ist zu tief.

Ein mehr als bedenkliches Zeichen für die Notwendigkeit einer Untersuchung: ein knappes Drittel der Deutschen möchte "Politiker bestrafen, die in der Pandemie Verantwortung übernommen haben", laut einer Umfrage von Forschern u. a. der Unis Erfurt und Bamberg.

Die Maßnahmen der Politik – so wohlgemeint sie auch gewesen sein mögen – haben sehr viel von den Menschen verlangt. Das mindeste, was die Menschen nun von der Politik verlangen können, ist eine kritische und transparente Untersuchung.

Ein moralischer Imperativ

Alle Menschen, die unter den Maßnahmen gelitten haben, die Menschen, die allein sterben mussten, die Kinder, die den Anschluss in der Schule verloren oder depressiv geworden sind, die vereinsamten Menschen, die Ausgegrenzten, die Menschen, die ihren Beruf verloren haben, die Impfgeschädigten, die Menschen, die ihre Angehörigen nicht auf ihrem letzten Weg begleiten konnten und nicht zuletzt die Gesellschaft insgesamt muss eine Aufarbeitung erwarten können, die den Namen verdient. Es ist ein moralischer Imperativ!

Zu Recht betont der gesundheitspolitische Sprecher der Unionsfraktion Tino Sorge, die große Mehrheit der Bevölkerung vermisse einen selbstkritischen Rückblick der Politik:

Beispielsweise mit dem klaren Eingeständnis: Den Kindern und Jugendlichen wurde Unsägliches zugemutet. Und Ungeimpfte hätte man nicht diffamieren dürfen, zumal der Impfstoff nicht perfekt ist.

Und vielleicht wäre auch die ein oder andere Entschuldigung angebracht und könnte für das Verheilen der Wunden in der Gesellschaft und der Überwindung der Polarisierung hilfreich sein.

Das gemeinsame Gespräch

Die Politikwissenschaftlerinnen Claudia Meier und Cordula Reimann machen in der Berliner Zeitung einen vielvesprechenden Vorschlag zur Überwindung der gesellschaftlichen Spaltung, der es verdient ausführlich zitiert zu werden:

Wir glauben […], dass es zusätzlich zur politischen Auseinandersetzung eine gesellschaftliche Aufarbeitung braucht. Wir müssen gemeinsam lernen, Zwischentöne zu hören, und nicht nur die lautesten Stimmen. Nur so kommen wir aus der emotionalen Polarisierung, der Entmenschlichung und der Verrohung wieder auf eine sachlich-inhaltliche Debatte.

Wir schlagen vor, diese Dynamik mit einem persönlich anteilnehmenden Ansatz zu durchbrechen: Wie ging es denn unserer arbeitslosen Nachbarin oder dem einsamen Arbeitskollegen wirklich in der Zeit? Wie war es für Menschen mit Beeinträchtigungen, erst bei der Triage zu merken, dass sie gar nicht mitgedacht wurden?

Wie lebt es sich mit Long Covid? Wie gehen Mitbürger mit Migrationsbiografie heute damit um, dass ihre Gemeinschaft viel stärker von Krankheit und Sterblichkeit betroffen war als die Gesamtgesellschaft? Was für Spuren hat die Zeit bei unseren Kindern hinterlassen? Wie hat die Bevölkerung die Rollen der Medien erlebt?

Persönliche Geschichten bieten die Grundlage und den Auftakt für lokal organisierte Gesprächskreise. Diese Dialoge sammeln Impulse für die Fragestellungen einer möglichen Untersuchungskommission. Gleichzeitig werden Erkenntnisse aus dem politischen Prozess laufend mit diesen Gesprächskreisen geteilt. Mitglieder des Untersuchungsausschusses oder der Enquete-Kommission erklären den Stand der Diskussionen und nehmen Impulse auf. Diese Verschränkung stärkt das Vertrauen in den politischen Prozess.

Es ist an uns allen, jetzt anzufangen und die Gesellschaft als Teil der Lösung mitzudenken – wenn nicht jetzt, wann dann?

Bürgerräte

Eine Woche nach diesem Vorschlag erklärt Katja Mast, erste Parlamentarische Geschäftsführerin der SPD-Bundestagsfraktion:

Wir schlagen als ersten Schritt einen Bürgerrat vor, in dem zufällig ausgewählte Menschen ihre Erlebnisse schildern und Empfehlungen für die Zukunft aussprechen können. […] Ein Bürgerrat und eine neu zu schaffende Kommission bieten die Chance, diese Debatten ohne Schaum vor dem Mund zu führen.

Sicher ist das gemeinsame Gespräch, insbesondere in der Art, wie oben beschrieben, ein wichtiger Weg, um über Empathie und Zuhören die Spaltung der Gesellschaft zu überwinden.

Es ist aber zwingend, dass die Untersuchungskommission, von der Katja Mast auch spricht, ebenfalls eingerichtet wird und eine transparente Untersuchung stattfindet. Gespräche dürfen kein Ersatz für eine Untersuchung sein.

Der wissenschaftliche Imperativ

Und nicht zuletzt: Die getroffenen Maßnahmen in den Corona-Jahren haben in ihrer Gesamtheit keinen historischen Vorläufer, sodass man es ohne jede Wertung und Vorwurf als ein wissenschaftliches Experiment bezeichnen kann, weil niemand vorab wissen konnte, welche exakten Konsequenzen diese oder jene Maßnahmen haben würden. Ein wissenschaftliches Experiment, in dem man – so die offizielle Losung – der Wissenschaft bestmöglich folgen wollte.

Aber kann es allen Ernstes sein, dass am Ende dieses Experimentes der wichtigste Teil der wissenschaftlichen Arbeit einfach übergangen wird: die wissenschaftliche Auswertung der Daten des Experiments?

Es wäre das Gegenteil von Wissenschaftlichkeit. Weshalb hat bis zum Frühjahr 2024 keine Untersuchung stattgefunden. Die Auswertung der Daten ist ein wissenschaftlicher Imperativ!