Das Amplituhedron - der Tesserakt der Quantenphysiker

Forscher haben eine geometrische Form gefunden, die die Physik ebenso umwälzen könnte wie der Hyperwürfel oder Tesserakt die Welt der Marvel-Comic-Verfilmungen

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Ein Tesserakt ist ein geometrisches Objekt in vier Dimensionen - eine Erweiterung des Würfels, so wie der Würfel das Quadrat um eine Dimension erweitert. Er besitzt 16 Ecken und 32 Kanten. Wie der Würfel von sechs Quadraten begrenzt ist, bestehen die Begrenzungen des Tesserakts aus acht dreidimensionalen Würfeln. Das Objekt kann sich ein Mensch, gefangen in der 3D-Welt, nicht vorstellen, und zeichnen lässt es sich nur in unterschiedlichen Projektionen auf drei Dimensionen. In der Welt der Avenger-Comic-Verfilmungen ist der Tesserakt ein Artefakt aus der Welt der Götter, das unglaubliche Kräfte besitzt - unter anderem kann er Portale in andere Dimensionen öffnen.

Ein ebenfalls mehrdimensionales geometrisches Objekt ist gerade unter Quantenphysikern in aller Munde: das Amplituhedron. Es vereinfacht auf den ersten Blick das Rechnen - auf den zweiten Blick jedoch könnte es eine physikalische Revolution auslösen. Denn damit kann, ja muss man plötzlich auf zwei wesentliche Grundlagen der Physik verzichten, die Lokalität und die Unitarität. Doch wie es bei Revolutionen so ist: Während man sich über die Rechenvorteile des Amplituhedron weitgehend einig ist, teilen längst nicht alle Forscher die weiter gehenden Folgerungen. Das wird verständlicher, wenn man sich ansieht, was das Amplituhedron überhaupt ist und woher es kommt.

7-point Amplituherdron in ℙ3

Seinen Ursprung hat das Objekt in der ebenen Form der vierdimensionalen supersymmetrischen Yang-Mills-Theorie. Das ist eine physikalische Theorie, die das komplette Universum auf Wechselwirkungen von Quantenfeldern in einer ebenen Raumzeit herunterbricht. Sie hat ein paar ganz besondere Eigenschaften: Alle Teilchen haben in ihr dieselbe Masse (nämlich 0) und dieselbe Ladung; die einzige Geschwindigkeit ist die Lichtgeschwindigkeit. Sie ist supersymmetrisch, das heißt, jedes Teilchen hat einen Superpartner, von dem es sich nur durch den Spin unterscheidet.

Die Natur verhält sich offenbar anders. Die Yang-Mills-Theorie ist denn auch eher mit dem Schalenmodell des Atoms vergleichbar: Die naive Annahme, Elektronen würden den Atomkern wie die Planeten die Sonne auf verschiedenen Bahnen umkreisen, hilft immerhin dabei, einen großen Teil der Chemie zu erklären. Valenzelektronen, die Hauptgruppen des Periodensystems, Atomspektren - das Schalenmodell ist zwar, wie man heute weiß, falsch, erleichtert aber die Erklärung und Berechnung der Wirklichkeit, zumindest in manchen Aspekten. Ähnlich verhält es sich mit der Yang-Mills-Theorie: Sie gibt zwar die Realität nicht wieder, ihr Studium gibt aber Hinweise darauf.

Als Quantenfeldtheorie beschreibt Yang-Mills die Wirklichkeit über Amplituden (Ausschläge) von Quantenfeldern. Um aus ihr tatsächliche Wechselwirkungen von Teilchen zu berechnen, muss man also lokale Amplituden bestimmen. Dazu brauchten Physiker bisher so genannte Feynman-Diagramme. Für ein, zwei oder drei Teilchen sind diese noch relativ einfach, doch zur Beschreibung der Realität genügt das leider nicht. Also galt es, eine große Anzahl von Feynman-Diagrammen zu summieren - eine wirklich aufwändige Tätigkeit.

Beim Amplituhedron, darin liegt sein besonderer Reiz, kann man sich das alles sparen: Die lokalen Amplituden ergeben sich ganz einfach als Volumen des zur jeweiligen Wechselwirkung gehörenden Amplituhedrons, das in einer 3D-Projektion wie ein vielzackiges Juwel aussieht. Aus Gleichungssystemen mit tausenden von Termen wird eine simple Gleichung; Berechnungen, die vorher selbst für den Computer zu kompliziert waren, lassen sich auf dem Papier ausführen.

Schön für die Physiker, die sich mit der Yang-Mills-Theorie befassen, könnte man sagen - wie oben beschrieben ist diese Theorie ja für die Beschreibung der Wirklichkeit unpassend. Doch dass sich plötzlich Eigenschaften von Teilchen-Interaktionen rein aus der Geometrie ableiten lassen, versetzt die Welt der Physik in Aufruhr. Raumzeit und Quantenfelder werden zu abgeleiteten Phänomenen einer tieferen, rein geometrischen Ordnung.

Dabei gehen zwei wesentliche Konzepte verloren, ohne die man bisher nicht auskommen konnte, die aber gleichzeitig Ursache für die Probleme beim Zusammenführen von Quantenphysik und Gravitation sind: Lokalität und Unitarität. Die Lokalität beschreibt die Annahme, dass sich zwei Teilchen an einem bestimmten Ort befinden müssen, um wechselwirken zu können. Die "spukhafte Fernwirkung" zweier verschränkter Teilchen, die schon Einstein so irritiert hat, scheint in direktem Widerspruch dazu zu stehen, sodass sich Physiker sogar schon Konzepte wie Wurmlöcher zwischen den Verschränkungspartnern ausdenken, damit die Lokalität gewahrt bleibt.

Die Unitarität wiederum beschreibt die dem gesunden Menschenverstand völlig klare Tatsache, dass die Summe der Wahrscheinlichkeiten für den Ausgang eines Experiments immer 1 ergibt. Beim Würfeln etwa beträgt die Wahrscheinlichkeit, irgendeine (beliebige) Zahl zu treffen, immer 1. Würfeln ist unitär - die Grundlage der Realität jedoch nicht. Zumindest, wenn sich das Amplituhedron auf physikalische Theorien unter Einschluss der Gravitation erweitern lässt - was die beteiligten Forscher hoffen.

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