Das Böse in Amstetten

Nachrichten aus dem Reich der Schatten: Die Medien, ein unglaublicher Fall und der Exzess als System

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"So sieht das Böse aus." Dies titelte dieser Woche eine Boulevardzeitschrift unter einem Bild des heute 73-jährigen Josef F., dem Täter in jenem nun sogenannten "Inzestfall von Amstetten", der gestanden hat, seine eigene Tochter in einem technisch komplexen Kellerverlies seines eigenen Wohnhauses fast ein Vierteljahrhundert gefangengehalten, missbraucht und mit ihr sieben Kinder gezeugt zu haben. Natürlich ahnte man spätestens seit dem Fall der Natascha Kampusch schon, welches Unglück noch in manchen Kellern auch unserer zivilisierten Länder haust. Natürlich konnte, musste man das schon längst ahnen, wenn man jemals Bilder des Hieronymus Bosch oder Filme von David Lynch gesehen oder auch Geschichten von Edgar Allen Poe gelesen hat. Und es ist das Deprimierendste an Amstetten, dass wir nahezu sicher sein können, dass dies kein Einzelfall ist. Dass wir vielmehr fragen müssen: Wie viele solche Keller gibt es noch? Gerade jetzt? Gerade hier? Jeder anders, aber jeder gleich schrecklich.

Wenn Du lange genug in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in Dich hinein.

Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse

30 Jahre Missbrauch, sechs Geburten, sieben Kinder, eine Leiche im Ofen spurlos verbrannt, die Überlebenden ohne Licht und ärztliche Versorgung in käfigähnlichen Verwahrräumen gehalten. Vor der Monstrosität mancher Verbrechen versagen die Worte und erst recht alle Erklärungen. Die Medien aber können nicht schweigen qua ihrer Natur und sie - wenn dieser moralische Begriff in diesem Zusammenhang erlaubt ist - dürfen es auch nicht. Sie müssen reden. Und da kommt dann so etwas raus.

Weil es Geschehnisse gibt, die sich jeder Nachvollziehbarkeit entziehen und die schon jede Schilderung schwierig machen, beginnen die Medien unter dem Druck, dennoch berichten, neue Nachrichten liefern zu müssen, mit dem, was sie gerade tun: Sie weichen auf mediale Nebenkriegsschauplätze aus. Sie stellen Fragen wie "Warum hat das keiner gemerkt?", "Was haben die Behörden getan und unterlassen?", "Gab es Helfershelfer?", "Was hat das jetzt für Folgen für die Betroffenen?" "Was sagt Natascha Kampusch dazu?"

Sie erinnern an jene angebliche spezielle österreichische Tradition von bizarren Kapitalverbrechen, an den Briefbomber Franz Fuchs, den Jet-Set-Hochstapler, Betrüger und Mörder Udo Proksch, den Wolfgang Priklopil, der Natascha Kampusch über acht Jahre in einem Kellerverlies festhielt. Sie fragen, wie eine süddeutsche Tageszeitung, gekonnt naiv und indirekt: "Wenn so etwas zweimal in einem Land passiert, sucht man nach Gründen für diese relative Häufung." Und finden, wie der gleiche Autor, so hübsche, kaum weniger gekonnt poetische Formulierungen wie die von den "Verliesen in den Köpfen".

Sie wissen, "selbst in der Populärkultur thematisieren die Österreicher das Grauen", und spekulieren dann über das Ansehen Österreichs und vergessen auch Falco und seine "Jeanny" nicht, der "die Hintergrundmusik für die Tragödie von Kampusch wie der Familie F. lieferte":

Sie kommen dich zu holen. Sie werden dich nicht finden. Niemand wird dich finden! Du bist bei mir.

Voyeurismus, Ferndiagnostik, Betroffenheitspoesie, Bürokratieprosa, Psychologenlyrik

Die Medien werfen eine ganze Maschinerie der Ferndiagnosen an, fahren Kohorten von Experten für alles Mögliche auf, geben aber jenen Ärzten, Psychologen, Erziehern, Religionswissenschaftlern, Trauma-Experten und Medienwissenschaftlern Raum, die sich jetzt ungefragt zu Wort melden, um die Opfer und den Wirbel auch noch zu ihren ureigenen Gunsten zu instrumentalisieren. Sie konstatieren den Opfern "eine gefühlsmäßige Vollnarkose", eine "schwere Depression", "sicherlich einen stark verwirrten Eindruck", "ein großes Entwicklungsdefizit", "Reizüberflutung", etc, dem Täter "hohe kriminelle Energie", "sexuelle Perversion und Allmachtsfantasien", "keine Gefühle … nicht einmal Reste von Gefühlen" - soweit nur beispielhaft ein einziges Interview in der Boulevardgazette AZ München.

Ein Abgrund an Voyeurismus und Ferndiagnostik, der das schwer vorstellbare Martyrium der Elisabeth F. und ihrer Kinder mit Betroffenheitspoesie und Bürokratieprosa, mit Psychologenlyrik und Medizinerlatein zudeckt und zum Verschwinden bringt. Wie im Fall der Natascha Kampusch sind die Opfer auch hier (diesmal mehrheitlich) Frauen und die, die reden, einordnen, Begriffe schaffen, auch hier Männer.

"Wir müssen was machen"

Das und wie dies geschieht, folgt der heute auch in den Verlagen und Redaktionen längst alles dominierenden, überaus durchschaubaren und auf ihre Art immer hilflosen Logik der Medien- und PR-Berater: "Wir müssen was machen." Oder: "Wir müssen gezielt rausgehen". Damit es nicht ungezielt passiert. Das ist natürlich auch eine naive Herrschaftsphantasie, der Wahn, Öffentlichkeit kontrollieren zu können, obwohl man es doch besser wissen müsste.

Aber auch Enthaltsamkeit wäre eine andere Form von Abhängigkeit und Kapitulation. "Wir berichten nicht" kann schließlich nicht die Antwort von Institutionen sein, deren einziger Daseinszweck das Berichten ist. Die eigentlich dümmste und zugleich interessanteste Kategorie unter den vielen, die hier aufgeboten wurde, ist nun aber die des Bösen. Auch wenn sie genaugenommen so gut wie nichts über den Fall verrät, so verrät sie aber alles über die Öffentlichkeit.

Das Böse liegt im Auge des Betrachters

Das Böse also. Vor der Monstrosität mancher Verbrechen versagen, wie gesagt, alle Erklärungen. Und da kehrt das dann das Böse zurück in die Medien der modernen Gesellschaften. Das Böse ist auch hier zumindest zweierlei: ein ethisches Verhalten und ein ästhetisches Verfahren.

Wo zum Beispiel Hitchcock oder Kubrick versuchen, Bilder für das Böse zu finden, sind sie nicht selber böse - wenn auch solche Verwechslung bzw. Identifikation von Künstler und Werk mittlerweile schon klassischen Charakter hat. Sie müssen freilich das Böse gut kennen, genau erforscht haben, um es so zu zeigen, dass es den Zuschauer fasziniert und seine Wirkung nicht verfehlt. Wie die Filmemacher es zeigen, sagt dann mindestens so viel über sie aus, wie über ihren Gegenstand. Denn was einer als "böse" qualifiziert, ist letztendlich eine Frage der Perspektive. Das Böse liegt im Auge des Betrachters.

Diese Einsicht findet sich im Übrigen gleichfalls bereits in einem Basistext der christlichen Tradition: Als Eva von den Äpfeln des Paradieses naschte, vollzog sie die erste Sünde, brachte das Böse in die Welt und verlor stellvertretend für die Menschheit ihre Unschuld. Zugleich bedeutet dieses Ende des Glücks auch den Anfang der Freiheit - und so erscheint der Sündenfall auch als womöglich größte zivilisatorische Leistung der Menschheitsgeschichte. Erst durch ihn wurden die Menschen als Menschen geboren, waren mehr, als dumme nackte Tiere.

Bereits hier hängt also von der Perspektive ab, ob sich überhaupt das Böse ereignet und ob es in Evas Tat liegt, oder ob es nicht vielleicht schon durch einen Gott selbst geschaffen wird, der einen Katalog aus Verboten und Strafen aufstellt und damit Eva überhaupt erst mit der Existenz des Bösen vertraut macht. Das Böse, so scheint es jedenfalls, setzt Wissen voraus; es kennt nur, wer auch das Gute kennt - und viceversa. Das Böse als moralischer Begriff, als Gegenstück zum "Guten" hängt also zusammen mit dem Bösen als zusammenfassende ästhetische Chiffre für diverse Phänomene des Schreckens, des Grauens, Entsetzens, Ungeheuren und Unvertrauten.

"manierlich" und "wohlerzogen"

In beiden Varianten ist der Begriff derzeit in den Medien präsent, wenn auch so oder so etwas unglücklich gewählt. Denn was ist "das Böse"? Für gläubige Christen hat es teuflischen Ursprung. Die moderne Sozialphilosophie erklärte es dagegen lange Zeit mit den Lebensumständen von jenen, die Böses tun.

Der plötzlich anhand solcher Fälle wie nun Amstetten für kurz aufbrechende Diskurs über das Böse erinnert an den bei anderer Gelegenheit ebenfalls gern aufkommenden Diskurs über die angebliche Rückkehr von "Werten", "Manieren" oder natürlich "der" Religion. Man spürt die heimlich brennende Hoffnung von interessierter Seite, manchmal auch nur der naive Glaube oder die kaum weniger naive Ideologie, nun ließe sich mit Hilfe eines menschgewordenen Teufels auch der Beelzebub der Moderne gleich mit austreiben, nun ließe sich Nietzsches Einsicht, dass es in einer pluralistischen Gesellschaft keine gemeinsamen obersten ethischen Werte mehr gibt, rückgängig machen. Wenn wir wissen, was das Böse ist, ist auch der Rest klar.

Von wegen. Widersprüchlicher- aber notwendigerweise gehört zum Diskurs über Amstetten auch der Hinweis, wie "manierlich" und "wohlerzogen" die drei am Tageslicht aufgewachsenen Inzestkinder seien, wie "anständig" der Großvater nach Außen gewirkt habe. Man sollte vielleicht einfach Hannah Arendt nachlesen, um sich zu erinnern, dass das schiere Festhalten und Beharren auf klaren und/oder traditionellen Normen keineswegs ausreicht, um dem Abdriften in Unmoral zu entgehen. Oft, schreibt Arendt, verhielten sich vielmehr jene Menschen, wenn es darauf ankäme moralischer, die "sowieso schon von der objektiven Nichtgültigkeit der Normen als solcher überzeugt gewesen waren".

Das Gesicht des Bösen

Dass das Böse ein Gesicht haben könnte, dass man es lesen könnte, das lernen wir zwar täglich aus der Populärkultur wie Kinder aus ihren Märchenbüchern, es bleibt aber naive Physiognomik. Woran das Polizeibild des Josef F., seine Hobbyfilmchen vom Thailand-Urlaub, die Aufnahmen seines Hauses und das Wenige, was wir einstweilen über das Leben von Täter und Opfern während der letzten zweieinhalb Jahrzehnte wissen, in diesem Zusammenhang am ehesten erinnert, ist Hannah Arendt und ihre Formel von der "Banalität des Bösen". Auch Josef F. wirkt wie der "Hanswurst", wie Arendt Eichmann genannt hat.

Aber die Rede vom Bösen bleibt fragwürdig. Jenseits von kulturellen Absprachen ist heute schon ein Satz wie "Hitler ist böse" unklar. Das "Böse" selbst ist in der Moderne fragwürdig, zumindest schillernd geworden. Wer kulturhistorisch informiert und philosophisch aufgeklärt ist, weiß, dass das, was in früheren Zeiten als "das Böse" galt, aus heutiger Sicht so böse gar nicht ist, dass es sich vielmehr oft genug nur um ein Ausgegrenztes, Unterdrücktes handelt. Die Möglichkeit, dass man Josef F. einmal so verstehen dürfte, ist aber gering.

Amstetten wird zur Projektionsfläche

Die Ästhetik, die Auseinandersetzung mit bedeutender Kunst aber führt schnell zu der Einsicht, dass das Böse, so Karl Heinz Bohrer in seinem Buch "Imaginationen des Bösen", "zum Kern des zivilisatorischen Prozesses" gehört. Es ist ein Phantasma für Kreative. Das Böse ist, ob uns das gefällt oder nicht, auch eine ästhetische Kategorie. Und darin, in der Ästhetisierung, liegt die Unmoral der jetzigen Berichterstattung über Amstetten. Sie macht aus der Tat einen Roman, einen Film, überwuchert die Fakten durch Aneignung, Intimisierung und Einverleibung. Amstetten wird zur Projektionsfläche. Die Gesellschaft trägt sich in die Geschichte und in diesem Fall in das Unvorstellbare ein und nimmt sie so in Besitz. Sie wird umgeschrieben und gehört allen. Aber nicht mehr den Opfern.

Der Umgang mit Kunst und Ästhetik lehrt, dass die Frage nach dem Bösen - Was ist, was heißt "böse"? - immer dazu führt, das Böse nicht einfach nur als "Kitzel", als Motor der Dramaturgie zu verstehen, sondern zu begreifen, dass es etwas genuin Menschliches besitzt. Das Böse kann hässlich oder schön sein, bedrohlich oder banal; der Teufel hat vielerlei Gestalten, heißt es. Aber es ist immer faszinierend - weil es einem dort, wo es normal und alltäglich erscheint, ebenso wie dort, wo es als monströs und extrem auftritt, die versteckten Seiten des Eigenen enthüllt, Möglichkeiten seiner selbst.

Man graut sich davor, aber man will es auch entdecken, will sich selbst kennenlernen, alles wissen. Daher die Neugier, daher der Voyeurismus. Darum spielt man böse Taten zumindest im Traum gelegentlich durch – also im Film, in der Literatur, in anderen Künsten. Darum gibt es Romane wie Litells "Die Wohlgesinnten".

Ein privater KZ-Wärter

Wenn man also die Rede vom Bösen überhaupt akzeptieren will, was könnte es heißen? Wenn überhaupt, dann ist das Böse hier nicht so sehr der Exzess als solcher, nicht so sehr die Tatsache, dass der Vater einmal seine Tochter missbraucht hat, sondern das Böse ist, dass er daraus ein System gemacht hat, einen Apparat. Er ist ein privater KZ-Wärter, eine private Ausgabe von Eichmann, der im Keller eine organisatorisch komplexe Vergewaltigungsfabrik errichtet hat, ein Gegenreich, in dem es keinen Gott und kein Gesetz gab, sondern nur ihn und seine Willkür.

Und er hat es geschafft, ein Lügen- und Täuschungssystem zu kreieren, das er darüber stülpen konnte. Den Sündenfall haben wir alle hinter uns. Das Böse hier ist nicht der Exzess, sondern es ist der Schritt, aus dem Exzess ein System zu machen und den Exzess zu integrieren und ihn dadurch nicht mehr Exzess sein zu lassen, sondern Normalität.

Aber Begriffe, auch mythologische, dienen der Beruhigung. Das Böse ist ein metaphysischer Begriff, er bezeichnet etwas Übernatürliches, etwas, das nur für Gläubige existiert. Faktische Geschehen werden erst zum Bösen, wenn wir sie metaphysisch über ihre Faktenwirklichkeit hinaus überhöhen. Fragen wie "Wie sieht das Böse aus?", "Woher kommt das Böse" oder "Wie gehen wir mit dem Bösen um?" verschieben daher die Fragestellung bereits erheblich. Denn sie nehmen das Böse und damit die Metaphysik als Tatsache.

Wenn in Amstetten das Böse hauste, was wohnt dann in Guantanamo?

Aber wenn Josef F. das Böse ist, wenn in den Kellern von Amstetten das Böse hauste, wie sehen dann die Wächter von Abu Ghraib aus, und was wohnt dann in Guantanamo?

Vielleicht braucht man die Kategorien des Guten und des Bösen gar nicht. Zumal diese schnell in Tugendterror münden. Vielleicht wäre dem Menschen mehr geholfen mit einfachem Anstand und einem moralischen Geschmackssinn für Dinge, "die man nicht tut". Den Fall von Amstetten hätte das, diese skeptische Einsicht kann man sich nicht ersparen, leider aber wohl genauso wenig verhindert wie die Rückkehr des Bösen in unseren Sprachgebrauch.