Das Ende der Protestkultur in Indien - hat das säkulare Indien noch eine Chance?

Studentische Proteste in Delhi 2019. Bild: Christian Hobbie

Die indische Politik zeigt kein Interesse, studentischen Protest in bürokratische Prozesse zu übersetzen. Das erzeugt Resignation und ist für die größte Demokratie der Welt gefährlich

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Die Jawaharlal Nehru University in Delhi ist eine der renommiertesten Hochschulen Indiens. Zu ihren Alumni zählen Nobelpreisträger und Staats- und Regierungschefs. Es ist gerade ein halbes Jahr her, dass Indiens bekannteste Universität durch mehrere Schlägertrupps angegriffen und verwüstet wurde - ein Angriff auf den Geist der Universität. Mehr als 40 Universitätsangehörige wurden zum Teil schwer verletzt. Der Vorfall erhielt eine breite, weltweite Öffentlichkeit, löste landesweite Proteste aus und konnte doch nicht überraschen.

Dort, wo einst Intellektuelle aller Couleur debattierten, herrscht schon seit Jahren ein erbitterter ideologischer Kampf. Seit die Hindu-Nationalisten der Bharatiya Janata Party (BJP) unter Narendra Modi 2014 erneut in die Regierung gelangten, befürchten viele Akademiker die Erosion der säkularen Säulen der indischen Verfassung. Siebzig Jahre hat diese säkulare Verfassung im Geiste des Laizismus und des Gründervaters des indischen Staates Jawaharlal Nehru das heterogene Land zusammengehalten. Ein stabiles demokratisches Fundament für eine religiöse Gesellschaft.

Studentische Proteste in Delhi (4 Bilder)

Studentische Proteste in Delhi 2019. Bild: Christian Hobbie

Obwohl die BJP eine vergleichsweise junge Partei ist, die erst um die Jahrtausendwende bedeutende politische Erfolge auf der nationalen Ebene feiern konnte, schließt sie an eine traditionsreiche Ideologie an: den Traum von einem Hindu-dominierten Nationalstaat Indien (Hindutva). Dabei ist die Partei traditionell eng mit der radikal-hinduistischen und antimuslimischen Kaderorganisation Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS) vernetzt.

Kulturelle und identitäre Fragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens dominieren die politische Debatte in Indien und finden - obwohl die indische Verfassung laizistisch geprägt ist - Einzug in die Gesetzgebung. Auf der Ebene des sogenannten Personal Law haben sich beispielsweise Hindus, Muslime und Christen eigene religionskonforme Gesetze gegeben.

Der Säkularismus wird in Indien nicht als strikte Trennung von Staat und Religion verstanden, sondern als innere, distanzierte und respektvolle Haltung gegenüber den vielfältigen religiösen Einflüssen auf die eigene multikulturelle Gesellschaft. Mit der Hindutva-Politik konnte sich die BJP also erfolgreich als Gegenspieler zur traditionell säkular orientierten Kongresspartei etablieren.

Die Universität als ideologischer Kampfplatz

Die traditionell demonstrationsfreudigen Studentinnen und Studenten Indiens führen diesen Kampf um die kulturelle Identität seit Jahren. Immer wieder ist die JNU zum Zentrum regierungskritischer Proteste geworden. Die Universität gilt als Hochburg der intellektuellen Linken Indiens und geriet schnell in Konfrontationen mit der aktuellen Regierung.

Mit Demonstrationsmärschen, Kundgebungen, Menschenketten und öffentlichen Vorlesungen oder Debatten gelingt es den Angehörigen der Hochschule, gegen Regierungspolitik zu mobilisieren und auf die Diskriminierung von Minderheiten aufmerksam zu machen. Viele Studentinnen und Studenten beklagen das Fehlen einer echten Opposition. So seien sie es, die diese Rolle nun übernehmen müssen.

Plakatierung am Hauptgebäude der School of International Studies in der JNU (2019). Bild: Christian Hobbie

Auf der anderen Seite heben Angehörige regierungsnaher Studentenorganisationen gerne die Infrastrukturprojekte der BJP-Regierung hervor. Die kulturelle Hegemonie des Hinduismus schließe andere Religionen nicht aus, sondern bilde einen gemeinsamen Schild gegen die Verwestlichung Südasiens. Jeder Inder solle für ein ambitioniertes und selbstbewusstes Indien eintreten.

Eine Haltung, die aus der konservativen Gesellschaft Indiens spricht. Auch viele progressive Studentinnen und Studenten kommen aus traditionellen Familien und haben sich erst am Campus der JNU politisiert. Noch immer ist der Campus für viele Alumni ein besonderer Ort. Ein Wald im Herzen Delhis, der vor dem allgegenwärtigen Smog und der Schnelllebigkeit der Metropole, doch vor allem vor den Zwängen der Gesellschaft schützt.

Dieser Schutzraum ist nun in Gefahr. Wo früher Kastenzugehörigkeiten, Familienzwang und Durchlässigkeit diskutiert wurde, wird nun um Identität und Kultur gerungen. Seit Politiker die JNU verbal attackieren und repressive Methoden, wie die Erhöhung der Studiengebühren, einleiten, wird der Ton auch unter den Studierenden rauer.

Demonstrationen und eine Welle der Gewalt

Ende 2019 löste eine Reform des Einbürgerungsgesetzes eine massive Protestwelle aus. Die Reform ermöglicht Flüchtlingen eine schnellere Einbürgerung. Allerdings können diese Einwanderer von der Reform nur profitieren, wenn sie keine Muslime sind.

Neben zahlreichen abfälligen Äußerungen von Regierungsvertretern, der Innenminister bezeichnete muslimische Einwanderer mehrfach als "Termiten", löst ein neues Staatsbürgerregister bei vielen Indern Sorgen aus. Im Bundesstaat Assam hat ein solches Register bereits mehr als zwei Millionen Menschen - vor allem Muslime - staatenlos gemacht, da sie ihren Geburtsort nicht nachweisen konnten.

Neben der JNU bildete die Jamia Millia Islamia (JMI) in Delhi ein Zentrum der Protestbewegung. Nachdem die studentischen Proteste gegen das Einbürgerungsgesetz landesweit von unterschiedlichsten Bevölkerungsschichten aufgenommen wurden, eskalierte die Situation: Am 15.12.2019 wurde die JMI unter Einsatz von Tränengas und Schlagstöcken durch die Delhi Police gestürmt.

Mehr als 200 Menschen wurden verletzt, zwei Studenten wurden mit Schusswunden ins Krankenhaus eingeliefert. Am 05.01.2020 wurde eine Protestveranstaltung auf dem Gelände der JNU von 200 vermummten, mutmaßlich hindu-nationalistischen, Schlägern attackiert und Studierende und Dozenten gezielt angegriffen. Trotz zahlreicher Notrufe griff stundenlang weder die Polizei noch der Sicherheitsdienst der Universität ein.

Doch weder die Welle der Gewalt noch der Staatsempfang für den amerikanischen Präsidenten Trump konnten die Proteste bremsen. Während sich immer mehr Menschen mit den Studenten und der Protestbewegung solidarisierten, eskalierte die Situation immer deutlicher. In dieser Lage wurde der Konflikt durch eine neue Krise, die weltweite COVID-19 Pandemie, eingefroren. Er schwelt seitdem unter der Oberfläche, wurde über den Lockdown konserviert und kehrt nun zu den Studentinnen und Studenten zurück.

Obwohl die Pandemie den akademisch-ideologischen Konflikt eingefroren hat, führte das Krisenmanagement der Regierung zu neuen Problemen. Konnte sich die BJP bisher auf bildungsferne Wählerschichten verlassen, dürfte ihr Ansehen in der Krise erheblich gelitten haben. Die Wut ist in der Bevölkerung gewachsen. Fraglich ist nur, ob die Studentinnen und Studenten den Unmut kanalisieren und ähnlich stark mobilisieren können wie zu Beginn des Jahres.

Es wird nur dort protestiert, wo Hoffnung besteht

Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass Protest durchaus in der Lage ist, Wandel zu provozieren. So lässt sich die bundesdeutsche Geschichte beispielsweise auch als eine Protestgeschichte erzählen, wie der Soziologe Niklas Luhmann bereits in den 1990er-Jahren hervorhebt. Protest drängt sich auf, er zwingt eine Gesellschaft sich mit Problemen auseinanderzusetzen und auf ihn zu reagieren. Aus Protest werden Gesetze, Normen, Gremien und Institutionen - wenn die Gesellschaft ihn in bürokratische Formen übersetzen kann.

Plakatierung auf dem Gelände der JNU (2019). Bild: Christian Hobbie

Die Politik der größten Demokratie der Welt zeigt kein Interesse, den studentischen Protest in bürokratische Prozesse zu übersetzen. Bereits vor dem Lockdown reagierte sie mit Gewalt und Einschüchterung. Das ist nicht nur aus einer demokratisch-partizipatorischen Perspektive problematisch, sondern fordert eine Steigerung der Protestsemantik geradezu heraus.

Da der Protest unstetig ist und seine Mitstreiter immer wieder neu motivieren muss, neigt er ohnehin zur Übertreibung. Für die Studentinnen und Studenten bleibt nur die Resignation oder die Steigerung. Zwei Alternativen, die dem Vielvölkerstaat kaum helfen werden.

Diese Kontrapole beschreiben die aktuelle Stimmung am Campus der JNU anschaulich. Während sich die Pandemielage weiter zuspitzt, droht der ideologische Kampf um die kulturelle Identität Indiens erneut auszubrechen. Obwohl die BJP-Regierung in der Krise die Einheit beschwor, wurden im Schatten des Lockdowns dennoch oppositionelle Studentinnen und Studenten verhaftet.

Doch in dieser Situation sind neue Proteste eine Gratwanderung. Während die Steigerung der Protestsemantik einen Weg in die Institutionen versperrt und Solidarität der Bevölkerung verspielt, kommt die Anerkennung des neuen Status quo der Resignation gleich.

Hat das säkulare Indien noch eine Chance?

Während die anti-muslimische Politik der BJP zu Beginn des Jahres heftig unter Druck geraten ist, kann sie sich im Zuge der Pandemie still und leise verstetigen. Durch äußere Bedrohungen und dem schwelenden Grenzkonflikt mit China vermag die indische Regierung zusätzlich von den innenpolitischen Konflikten abzulenken und sich international neu zu positionieren.

Noch vor wenigen Monaten kritisierten Menschenrechtsorganisationen, wie die UN-Menschenrechtskommission, Human Rights Watch oder Amnesty International die Einbürgerungspolitik der indischen Regierung fundamental, doch seit dem Beginn der Pandemie hat sich die globale Aufmerksamkeitsökonomie weiterbewegt. Es sind die Universitäten, an denen der ideologische Kampf wieder aufgenommen wird, an denen sich Studentinnen und Studenten gegen die schleichende Verstetigung einer hindu-nationalistischen Politik wehren.

An den kommenden Protesten wird sich zeigen, ob das säkulare Indien noch eine Chance bekommt. Bisher konnte die akademisch-säkulare Protestbewegung durch ihr gewaltloses Auftreten und klare Argumente auf viel Sympathie hoffen, doch Protest hat immer einen Hang zur Gewalt. Die Eindeutigkeit der Tat verleitet zu Übersprungshandlungen, kann langfristig aber den Weg zurück in die Institutionen verbauen.

Dennoch hört man am Campus der JNU aktuell häufig, dass etwas passieren muss. Zwischen Resignation und Radikalisierung positionieren sich die Hoffnungsträger des akademisch-säkularen Protests. Doch ihre Stimmen werden immer leiser.