Das Gehirn der Siliziummaus

Hirnforscher haben ein neues neuronales Netzwerk entwickelt und fordern ihre Kollegen zu einem Wettbewerb heraus, dessen Eigenschaften aufgrund von unvollständigen Beobachtungsdaten deduktiv zu erkennen

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Wissenschaftler, zumal wenn sie sich mit Wahrnehmung und Neurobiologie beschäftigen, wissen um die Bedeutung der Aufmerksamkeit auch in ihrem Fach. Normalerweise werden neue Entdeckungen in einer möglichst renommierten wissenschaftlichen Zeitschrift als Artikel veröffentlicht. Aber da es nicht nur immer mehr Wissenschaftler, sondern auch Zeitschriften, Artikel und Neuigkeiten gibt, besteht die Gefahr des Untergehens in der Informationsflut.

Ob es nun wirklich darum ging, mehr Aufmerksamkeit zu finden, oder ob tatsächlich die Hoffnung überwog, andere Wissenschaftler zum Tüfteln herauszufordern, so hatten John Hopfield von der Princeton University und Carlos Brody von der New York University jedenfalls einen originellen Einfall. Bevor sie ihre Entdeckung eines neuen Algorithmus für ein neuronales Netz zur Mustererkennung in einem Aufsatz detailliert vorstellen, bitten sie auf einer Webseite die Wissenschaftlerkollegen, aufgrund der dargestellten empirischen Untersuchungsdaten oder durch weitere Experimente deduktiv abzuleiten, wie das Gehirn dieser "Siliziummaus" funktioniert, oder eine andere Methode vorzuschlagen, mit der ein neuronales Netz dieselbe Leistung realisiert.

John Hopfield ist in der Neurobiologie und im Bereich der Künstlichen Intelligenz ein bekannter Wissenschaftler. 1982 hatte Hopfield, ursprünglich ein Physiker der über die Molekularbiologie zur Hirnforschung kam, ein Modell für neuronale Netze zur Simulation von Leistungen des Gehirns vorgeschlagen, das man heute "Hopfield-Netz" nennt. Es ist ein einfaches Netz, bei dem jeder Knoten zwei Werte - Hemmung oder Erregung - annehmen, aber viele Inputs durch hintereinander geschaltete "Synapsen" erhalten kann. Jede dieser Synapsen hat eine bestimmte Stärke, die immer wieder zu einem bestimmten Zeitpunkt addiert werden und deren Summe den "Neuronen" einen Wert zuweisen, der sich dadurch immer verändern kann. Die Stärke der Verbindungen wird so eingestellt, dass das Netz etwas speichern kann, die Berechnungen werden so lange durchgeführt, bis das Netzwerk stabil geworden ist, also etwas erkannt. Schon die Stärke dieses neuronalen Netzes lag darin, dass es etwas auch dann identifizieren konnte, wenn ihm nur ein Teil des Musters zugänglich war. Möglich war auch, dass das Netz mehrere Muster wiedererkennen kann, wenn diese einander nicht zu ähnlich sind. Die Erinnerungen überlagern sich, weil die einzelnen Muster als Zustand gespeichert sind, die den Stärken der Verbindungen entsprechen.

Bei dem neuronalen Netz, das Hopfield und Brody erst einmal nur unvollständig vorstellen, sollen die Kollegen anhand der ausgeführten Hinweise herausbekommen, wie die Siliziummaus funktionieren könnte - was durchaus möglich sei, versprechen die Wissenschaftler, die zudem beteuern, keine Finten eingebaut zu haben. Das Geld, das dem Gewinner winkt, der die Lösung bis zum ersten Dezember einreicht (500 US-Dollar), kann das Motiv nicht sein, sich der Herausforderung zu stellen. Schon eher ist es vielleicht der Anreiz, als erster bei einem so ungewöhnlichen Wettbewerb die Lösung gefunden zu haben.

Hopfield sieht den Wettbewerb durchaus auch als erzieherische Aufgabe an. Schließlich haben Hirnforscher niemals alle empirisch erhebbaren Daten zur Verfügung und müssen aus dem, was sie haben, ein Phänomen bestmöglichst erklären. Um das ein wenig lebendiger zu machen, wird das neue Netz so beschrieben, als würde es das Gehirn eines biologischen Organismus sein: einer Sand- oder Siliziummaus eben. Auch wenn nur die neuronale Informationsverarbeitung einer Leistung beschrieben wird und es im Unterschied zur "nassen Biologie keine weiteren Zellen, Kanäle, Kanaleigenschaften oder Synapsen" gibt, sei das Netzwerk doch "ein ideales Testfeld für ein deduktives neurobiologisches Denken". Das nämlich käme gegenwärtig in der Wissenschaft etwas zu kurz, wo man gerne vermeidet, sich der Mühen des deduktiven Schlussfolgerns aus einer stets begrenzten Datenmenge zu entledigen, indem man darauf hofft, durch immer weitere Datenbeschaffung eine Erklärung finden zu können. Die dadurch freigesetzte Datenflut aber sei für das selbständige wissenschaftliche Denken auch hinderlich.

Der simulierten Sandmaus haben die Wissenschaftler eine eigene Website eingerichtet. Dort wird das Gehirn der Maus so vorgestellt, als wäre es ein richtiges Tier, dessen kognitive Leistung beobachtet und experimentell untersucht wurde. Die Maus wurde anästhesiert, Elektroden wurden in ihr Gehirn eingeführt und die Signale eines bestimmten Areals gemessen, das aus 650 "Neuronen" besteht. Die Leistung dieses Areals besteht darin, einsilbige Worte zu erkennen - allerdings auch dann, wenn sie schnell oder langsam, laut oder leise, von unterschiedlichen Sprechern und auch bei gleichzeitigen lauten Geräuschen gesprochen werden. Trainiert wurde die "Maus" dann, das Wort "One" zu identifizieren. Das geschehe, wie man durch Messung mit den Elektroden herausgefunden habe, in einem Areal W, in dem sich ein bestimmter Neuronentypus findet, der auf die akustische Stimulation "One" reagiert. Untersucht wurde nur eine dieser Gamma-Zellen, die erstaunlicherweise schon beim einmaligen Hören von One durch den Testsprecher das Wort auch bei anderen Sprechern in der Hälfte der Fälle identifizieren konnte.

Das Netzwerk bzw. die Neuroanatomie ist aus verschiedenen Schichten aufgebaut. Akustische Informationen kommen bei Neuronen der Ebene A an, die ihre Informationen in das Areal W projizieren, wo sich ihre "Axonen" auf Ebene 4 verzweigen und mit zwei unterschiedlichen Zelltypen in Verbindung stehen. Die Alpha-Zellen scheinen zu erregen, die Beta-Zellen zu hemmen. Die einzelnen Neuronen beider Zelltypen haben jeweils 100 bis 200 synaptische Verbindungen untereinander, und sie stehen auch mit den Gamma-Zellen auf den Ebenen 2 und 3 in Verbindung, die jeweils 30-80 Inputs von Alpha- oder Beta-Zellen erhalten. Mit Diagrammen, Statistiken und Grafiken werden dann ebenfalls die gemessenen "neurophysiologischen" Daten beschrieben. Die zum Training verwendeten Wav-Dateien lassen sich nicht nur hören, man kann das Netzwerk auch durch andere Tondateien stimulieren oder eigene Aufnahmen ins Netz stellen und vorspielen, um durch diese Experimente vielleicht weitere Hinweise zu gewinnen.

Für Hopfield zeigt das beschriebene Netzwerk ziemlich gut das Prinzip, wie biologische Gehirne arbeiten. Denn auf ähnliche Weise sollen Gehirne und das neuronale Netz nicht nur akustische Signale, sondern auch andere sensorische Wahrnehmungen erkennen. Entscheidend an diesem neuen Hopfield-Netzwerk ist, dass es zumindest eine kurze Zeitspanne umfasst und so eine in der Zeit stattfindende Mustererkennung darstellt. Die Aussprache des Wortes benötigt Zeit - und auch das Gehirn/Netzwerk, um das Wort zu erkennen. In aller Regel muss sich auch das Gehirn mit einer Welt auseinandersetzen, die permanent in Bewegung ist. Oft erkennt man erst etwas, wenn es näher kommt oder wenn man etwas betastet. Solche Wahrnehmungen benötigen einige Bruchteile von Sekunden. Das Gehirn fasst andauernd Informationen in solchen unterschiedlich langen Zeitfenstern zusammen, aber man habe wissenschaftlich noch nicht verstanden, wie es das genau macht. Und um eben dies zu erklären, habe er sein neues Netzwerk entwickelt, sagt Hopfield.

Das Netzwerk sei nicht nur neuartig, sondern auch einfach und sehr tolerant, wie dies auch bei nassen Gehirnen der Fall ist. Daher können von ihm Muster in vielen verschiedenen Variationen erkannt werden, wobei das Netz die Neuronen kollektiv einsetzt, so dass auch dann, wenn man zufällig die Verbindungsstärken der Synapsen bis zu 50 Prozent verändert, die Reaktionen stabil bleiben. "Die Berechnung bezieht einen kurzen Ausschnitt aus der Vergangenheit in eine "gegenwärtig" stattfindende Entscheidung ein, in diesem Fall über die Kategorie, in der ein eben gehörter Ton gehört. Trotz der Komplexität und Robustheit der Berechnung, sind die Elemente, aus denen das System besteht, und die Inputs in es bemerkenswert einfach." Allerdings ist es sicher nicht einfach, aus den angegebenen empirischen Daten die Funktionsprinzipien des Netzwerks abzuleiten oder gar vergleichbare andere Netzwerke zu entwickeln, die dieselbe Leistung erbringen können.