Das Genre ist tief gesunken

Gespräch mit Else Laudan, Programmchefin beim Hamburger Argument Verlag, über Realität und Möglichkeiten von Science Fiction

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Vor zwei Jahren brachte der Argument Verlag, der sich zuvor sehr erfolgreich im Bereich der Kriminalliteratur engagiert hatte, eine eigene Science-Fiction-Reihe auf den Markt. Das Programm stellt eine Mischung aus Titeln neuer Autoren wie Myra Cakan und Marcus Hammerschmitt mit Klassikern von Ursula K. LeGuin, Maureen F. McHugh oder Bruce Sterling dar, wobei die Neuauflagen älterer Titel durchweg neu übersetzt wurden. Das Vorhaben, die verkannte SF-Literatur für den Diskurs über Politik und soziale Fragen zu nutzen, hat sich an der Buchhandelskasse bislang nicht ausgezahlt. Doch davon lassen sich die Argument-Betreiberinnen nicht entmutigen – zumal Titel aus ihrem Programm jetzt bei der Vergabe des Kurd Laßwitz-Preises in der Sparte Übersetzungen mit dem zweiten und dritten Preis ausgezeichnet wurden.

Frau Laudan, vor etwa zwei Jahren haben Sie Ihrem Verlagsprogramm eine SF-Komponente hinzugefügt. Wie ist seitdem die Resonanz darauf gewesen?

Else Laudan: Wir sind nicht unglücklich. Seit wir im Frühjahr 1999 mit einem ersten Einzeltitel und dann im Herbst ganz offiziell mit dem "Social Fantasies"-Programm auf den Markt gekommen sind, haben wir viel Zuspruch bekommen. Wir fühlen uns verstanden. Das erfreut auf jeden Fall das verlegerische Herz, wenn auch nicht unbedingt den Geldbeutel. Ökonomisch ist die Reihe noch kein Erfolg. Wir krebsen an den niedrigsten Auflagenzahlen herum, die sich ein Taschenbuchverlag überhaupt noch leisten kann. Dabei hatte ich eigentlich erwartet, dass der Durst nach sorgfältig übersetzter und edierter fantastischer Literatur größer sein würde. Meine Hoffnung war, dass nicht nur die eingeschworene Science-Fiction-Gemeinde uns wahrnehmen würde, sondern wir auch die Romanleser animieren könnten, sich einmal mit der großen utopischen Literatur auseinander zu setzen. Dieser Effekt ist bislang noch ausgeblieben.

Im Krimi-Bereich ist Ihnen das zuvor dagegen recht gut gelungen.

Else Laudan: Mit den Ariadne-Krimis, die wir seit Ende der achtziger Jahre verlegen, lief das geradezu rasant. Dieser fließende Übergang zwischen kategorischen Nur-Krimi-Lesern und Romanlesern, die auch gerne mal einen guten Krimi zur Hand nehmen, fehlt mir noch bei der Science Fiction. Da scheint die Berührungsangst um einiges größer zu sein. Die Science Fiction hat beim Buchhandel und in den Feuilletons einen Schmuddelcharakter, der sehr schwer zu durchbrechen ist.

Der Schmuddelcharakter ist für den überwiegenden Teil der Science-Fiction-Produktion ja leider zutreffend...

Else Laudan: ...hat aber auch damit zu tun, wie bei uns Science Fiction kulturell verhandelt wird. Mit Ausnahme von uns und ein, zwei "Wohnzimmerverlagen" ist das ein Genre, was komplett den großen, kommerziellen Verlagen überlassen ist. Führend ist weiterhin der Heyne Verlag, wo der SF-Lektor Wolfgang Jeschke ja auch sehr viel für das Genre geleistet hat. Aber eben immer unter der Vorgabe möglichst hoher Verkaufszahlen, was einen starken Druck in Richtung leichter Konsumierbarkeit bewirkt. In so einem von vornherein auf Trash ausgerichteten Kontext können literarisch hochrangige Titel, die Jeschke immer wieder ins Programm nimmt, gar nicht richtig zur Geltung kommen. So kann die Science Fiction nicht aus der Schmuddelecke herauskommen.

Natürlich gibt es die Trash-SF, vor allem in Form der Heftchenromane, die ihre eigene literarische Bedeutung und Berechtigung hat. Daneben gibt es aber eben auch die "gehobene Science Fiction", die im deutschsprachigen Raum stark vernachlässigt wird: utopische Literatur, die von ihrer sprachlichen Ausdrucksform und von den Inhalten her mehr sein will als Einweg-Lektüre. Die großen Utopien sind typischerweise Romane, die man gern mehrmals liest, weil sich jedes Mal neue Bedeutungsebenen erschließen, ähnlich, wie man sich gute Filme ja auch immer wieder ansehen kann.

Wolfgang Jeschke hat den Gedanken ins Spiel gebracht, dass Romane möglicherweise nicht mehr die angemessene Form für utopische Gedanken sind und die Science Fiction daher zunehmend auf andere Medien ausweicht. Sie setzen trotzdem weiterhin aufs Buch?

Else Laudan: Was heißt setzen? Das ist ja keine ökonomische Entscheidung, sondern vor allem eine libidinöse. Ich kann der These ein Stück weit folgen, empfinde sie aber als etwas spröde. Natürlich kann man sagen: Science Fiction handelt von Zukunft und sollte sich daher auch der Zukunftsmedien bedienen. Aber es geht in der Science Fiction ja gar nicht in erster Linie darum, wie die Zukunft genau aussieht und wie sie sich für uns manifestieren wird. Es geht darum, wie ich die Zukunft denken kann. Auch: Wie kann ich Vergangenheit denken? Wie kann ich das Mögliche und sogar das im Moment nicht Mögliche denken?

Utopische Literatur im besten Sinne ist für mich etwas, was man in der klassischen Form des Buches ungeheuer schön rüberbringen kann. Gerade der Roman ist ja ein Medium, das einem nahelegt, die Bilder im Kopf selbst zu erzeugen, das Tempo selbst zu bestimmen und so dem Denken sehr viel Raum zu geben. Insofern ist er immer noch ein ideales Medium für utopische Literatur.

Ist Science Fiction nicht auch eine Art experimentelle Geschichtsforschung?

Else Laudan: Auf jeden Fall. Es gibt in den USA die Auffassung, dass SF eigentlich "Speculative Fiction" heißen sollte. Und darum geht es ja tatsächlich: Was kommen könnte, was möglich wäre, was möglich gewesen sein könnte. Das wiederum ermöglicht einen anderen Blick, einen distanzierteren Fokus auf die Gegenwart.

Sie spielen ja auch mit dem Kürzel SF und übersetzen es mit "Social Fantasies". Hat das mit der Geschichte des Argument-Verlages als sozialwissenschaftlichem Verlag zu tun?

Else Laudan: Die SF-Reihe hat vor allem mit der jüngeren Verlagsgeschichte zu tun, die natürlich auf der älteren fußt. Soziale und soziologische Themen sind ein Schwerpunkt des Verlages, aber mit dem ganzen Ariadne-Bereich, also den Frauenkrimis und -romanen, haben wir auch den Gedanken gepflegt, dass die Politik des Kulturellen mit Lektüre gut zu verwirklichen ist. Man kann großen Lesespaß mit einem inhaltlichen Anspruch verbinden, kann etwas über die Gesellschaft lernen, in der man lebt, und sich dabei wunderbar unterhalten.

In den Frauenkrimis hatten wir, etwa in der Gestalt der starken Heldinnen, von vornherein immer auch ein utopisches Element mit drin. Und dann schrieben unsere Autorinnen, namentlich Marge Piercy, merkwürdigerweise auf einmal SF. Deren Roman "Er, Sie und Es" war für mich nicht die erste, aber doch die prägendste Berührung mit dem Genre. Wir stellten fest, dass viele der von uns für ihre Romane geschätzten Autorinnen immer wieder Ausflüge in den Krimi und in die Science Fiction unternahmen. Da lag es für uns als politischer Verlag nahe, die Frage nach der Zukunft und ihren Möglichkeiten einmal ernsthafter anzugehen. Hinzu kam, dass ich nach zehn Jahren fast ausschließlicher Beschäftigung mit Krimis einfach Lust hatte, mich mit einem anderen Genre zu beschäftigen, das einen ähnlichen Schmuddelcharakter hat wie der Krimi, aber auch ein ebensolches Potenzial, Inhalte zu vermitteln. Wir glauben, dass die Utopie sehr gut geeignet ist, das Soziale zu spiegeln und haben das daher im Titel der Reihe zum Ausdruck gebracht.

Im 19. Jahrhundert hatten utopische Romane ja noch eine sehr unmittelbare soziale und politische Bedeutung, ich denke da etwa an Autoren wie Charles Fourier, Etienne Cabet oder Wilhelm Weitling. Sehen Sie sich auch in einer solchen Tradition?

Else Laudan: 19. Jahrhundert geht mir etwas weit zurück. Wir lassen uns von den heute verfügbaren Büchern anregen, unsere Kriterien zuzuspitzen und unsere Tradition zu erforschen. Da bin ich vor allem in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts, namentlich die siebziger Jahre, eingestiegen. Das war eine Ära, in der die Science Fiction unheimlich explizit politisch wurde: Der Feminismus begann, die Utopie zu besetzen, der Sozialismus eignete sie sich von westlicher Seite noch einmal neu an, der Cyberpunk warf seine Schatten voraus. Die Politisierung des Persönlichen, die die siebziger Jahre geprägt hat, ist auch in der damaligen Science Fiction sehr präsent. In den Neunzigern dagegen musste man sich von politischen Anliegen klar distanzieren, wenn man seine Bücher verkaufen wollte. Das scheint sich jetzt aber wieder zu ändern.

Sie haben ja auch einige Klassiker aus den siebziger Jahren im Programm, etwa "Planet der Habenichtse" von Ursula K. LeGuin. In der Regel nehmen Verlage solche Titel als Zugpferde ins Programm, um damit die neuen und weniger bekannten Autoren zu stützen. Nun machen Sie sich aber auch noch die Mühe, diese Titel neu zu übersetzen. Lohnt sich das dann kaufmännisch überhaupt noch?

Else Laudan: Rein ökonomisch gedacht, ist das wahrscheinlich unklug. Aber ich bin der Meinung, dass das Genre schon genug unter strikt ökonomischen Vorgaben gelitten hat. Wir versuchen, in unserem kleinen Wirkungskreis eine Weichenstellung in eine andere Richtung vorzunehmen. Wir hoffen, auch im Bereich Science Fiction zu erreichen, was uns beim Krimi gelungen ist, nämlich einen Paradigmenwechsel in zweierlei Hinsicht. Zum einen hinsichtlich der Einordnung gehobener utopischer Literatur, zum anderen bei den Anforderungen an die Qualität der Übersetzungen. Es ist unglaublich deprimierend, die deutschen Übersetzungen von Weltklasseautoren zu lesen. Da ist ein regelrechter Kahlschlag betrieben worden, der sich quer durch alle Verlage zieht. Weltliteratur wird auf diese Weise auf das Niveau von Unterhaltungsheftchen heruntergezogen.

Ein Paradebeispiel dafür ist wohl "Neuromancer" von William Gibson. Werden Sie den auch neu übersetzen?

Else Laudan: Ich habe von Gibson selbst einen Text übersetzt, ein Vorwort zu einem Roman von John Shirley. Dazu muss ich sagen, dass ich eine recht routinierte Übersetzerin bin. Normalerweise brauche ich vielleicht eineinhalb Stunden pro Seite, wenn ich sehr sorgfältig arbeite, und schaue pro Absatz ein oder zwei Worte vorsichtshalber noch einmal im Lexikon nach. Bei diesem Vorwort musste ich dagegen ungefähr fünf Wörter pro Satz nachschlagen. Gibson verwendet unglaublich eigenwillige, aber genauestens durchdachte Metaphern. Seine ganze Semiotik ist ungeheuer liebevoll gebaut und berücksichtigt alles, den Sinn, die Form, den Inhalt, den Kontext. Ich nehme an, dass er das intuitiv macht. Aber nichts von alldem ist in der deutschen Übersetzung zu spüren, auch nicht in der jetzt erschienenen Neuüberarbeitung von "Neuromancer".