Das Jahr der Geisteswissenschaften - und die Wirklichkeit

Interview mit dem Psycholinguisten Gerd Kegel

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Dieses Jahr richtete das Bundesministerium für Bildung und Forschung gemeinsam mit der Initiative Wissenschaft im Dialog und zahlreichen Partnern aus Wissenschaft, Wirtschaft und Kultur das „Jahr der Geisteswissenschaften“ aus. Wie das Ministerium verkündet, wurde die Sprache in den Mittelpunkt gestellt, da sie „Ausgangsbasis jeder Art von Denken und Mitteilen“ sei. Die Psycholinguistik beschäftigt sich mit dem Zusammenhang von Sprache und Denken. Dazu zählen unter anderem Spracherwerb, Sprachverarbeitung, Rhetorik und der Zusammenhang zwischen Sprachverhalten und psychischen Prozessen wie Erinnern und Aufmerksamkeit. Aktuelle psycholinguistische Forschungsergebnisse werden beispielsweise für Bereiche der Sprachpathologie und Bildung fruchtbar gemacht. Das Fach forscht also eigentlich am Puls der Zeit - und das nicht erst seit den verstärkten Auseinandersetzungen zwischen Neurowissenschaftlern und Philosophen. Trotzdem wird das Institut für Psycholinguistik an der Ludwig-Maximilians-Universität ausgerechnet jetzt geschlossen. Telepolis befragte dazu den Psycholinguistikprofessor Gerd Kegel.

Herr Professor Kegel - Psycholinguistik hat sich in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts als Resultat eines transdisziplinären Symposiums herausgebildet und als Disziplin etabliert. Wie kommt es, dass ein Studienfach, das sich mit dem beschäftigt, was wir alle ständig (selbst schlafend) tun - nämlich Denken und miteinander oder mit sich selber Sprechen - geschlossen wird?

Gerd Kegel: Tatsächlich fördert die Psycholinguistik ganz entscheidend unser Verständnis von Sprache und Denken. Aber leider hat man der Psycholinguistik in Deutschland nie einen so hohen Stellenwert eingeräumt wie beispielsweise in den angelsächsischen Ländern. Das sieht man schon daran, dass das Institut für Psycholinguistik der Uni München das Einzige dieser Art geblieben ist. Natürlich ist die Schließung des Fachs höchst bedauerlich. Begründet wird sie, wie ich das verstanden habe, mit Sparmaßnahmen und verstärkter Konzentration der geisteswissenschaftlichen Fächer. Hinzu kommt, dass man zur Einstellung von Fächern auf das Freiwerden von Professuren, etwa durch Pensionierung oder Wegberufung, angewiesen ist. So gesehen hat die Psycholinguistik einfach Pech gehabt. Für die noch Studierenden verläuft die Schließung aber fair. Alle werden bis zum Studienabschluss fachlich intensiv betreut.

Das Department für Psychologie schließt ja auch ein Spezialgebiet, nämlich die „Reflexive Sozialpsychologie“. Das war deutschlandweit eine einzigartige Schwerpunktsetzung innerhalb der Psychologie. Prof. Heiner Keupp, der selber als Student bei Adorno Vorlesungen besuchte, hat sie in München institutionalisiert. Auch er geht in Rente und auch seine wissenschaftliche Arbeit wird nicht mehr fortgeführt. Wäre es in dem Zusammenhang voreilig, die LMU als „geisteswissenschaftsfeindlich“ zu bezeichnen?

Gerd Kegel: Ach, das würde ich so nicht sagen. Jedenfalls würde ich die LMU nicht negativ herausheben. Sparen bei den Geisteswissenschaften ist wohl ein aktueller Trend bei den bayerischen Universitäten, und vermutlich nicht nur bei diesen. Man glaubt, mit den Ergebnissen der Naturwissenschaften international besser punkten zu können, und das zählt halt im Zeitalter der Rankings. Ich möchte aber vor überzogenem Sparen warnen. Eine Reduktion der bayerischen Geisteswissenschaften um 25 oder gar 30 Prozent geht an die Substanz und gefährdet ernsthaft eine weitere innovative Entwicklung auf der Basis ihrer einmaligen und sehr lebendigen Wissenschaftstradition.

Zurück zur Psycholinguistik. Neben Schwerpunkten wie Sprachproduktionsforschung, Sprachpathologie, Rhetorik, Mündlichkeit und Schriftlichkeit, wurden etliche Seminare zu Sprechen und Denken angeboten, die sich auf die Forschungsarbeiten russischer Psychologen, Linguisten und anderer russischer Wissenschaftler bezogen. Der Großteil der Forscher war vor allem nach der Oktoberrevolution höchst produktiv. Mit so weit Zurückliegendem zu arbeiten, mag für eine Außenstehende anachronistisch anmuten...

Gerd Kegel: Gut, kommen wir auf die Wissenschaftstradition zurück. Darunter verstehe ich nicht Vergangenes und Überholtes aus der Wissenschaftsgeschichte, sondern das Fundament der aktuellen Forschung. Fehlt dieses Fundament, wird die Forschung leicht beliebig und ineffizient. Man erfindet dann jeden Tag das Rad aufs Neue. Wir greifen zum Beispiel auf Wilhelm Wundt zurück. Man kennt ihn meist als Begründer der experimentellen Psychologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Uns interessiert seine Sprachpsychologie, die neben heute noch aktuellen Erkenntnissen Maßstäbe für eine komplexe Theoriebildung setzt. Und das gilt auch für die von Ihnen angesprochene sowjetische Psychologie, deren Ergebnisse alles andere als überholt sind. Vygotskij etwa gilt international in der Psycholinguistik, Psychologie und Pädagogik zurecht als Klassiker, der Meilensteine in der Forschung gesetzt hat und dessen Weg moderne Forschung erfolgreich fortführt.

Es heißt, immer mehr Kinder hätten Sprachentwicklungsauffälligkeiten. Inwiefern glauben Sie wechselwirken da die äußeren Veränderungen, sprich die informationsbeschleunigte Außenwelt und der sich wandelnde soziale Kontakt mit der kindlich-kognitiven Entwicklung? Muss nicht doch auch in der Psycholinguistik politisch Stellung bezogen werden, um die im sprachpathologischen Bereich erzielten Ergebnisse für die Therapie fruchtbar machen zu können?

Gerd Kegel: Da uns zuverlässige Vergleichzahlen fehlen, wissen wir nicht sicher, ob Störungen der Sprachentwicklung signifikant zugenommen haben. Auf jeden Fall sind alle berichteten Prozentsätze erschreckend hoch. Und mit Sicherheit ist überzogener Medienkonsum als Kompensation für befriedigende soziale Kontakte ausgesprochen ungünstig für die sprachliche und kognitive Entwicklung des Kindes. Deutliche gesellschaftspolitische Appelle gibt es hierzu ja genug. Ein großer Teil meiner Studierenden ist heute in der Therapie tätig und kann dort die praxisorientierten Ergebnisse der psycholinguistischen Sprachpathologieforschung umsetzen. Das geschieht für die Öffentlichkeit eher im Verborgenen, bringt aber nachhaltige Verbesserungen für die betroffenen Kinder.

Kann psycholinguistische Forschung Umsetzungsmöglichkeiten für die Bereiche der Sprachpathologie und Bildung bieten, ohne die jeweils vorherrschenden politisch-ökonomischen Umstände zu kritisieren?

Gerd Kegel: Nun, das hat zwei Seiten. Erstens: Sprache und Denken spielt sich im sozialen Rahmen ab und kann ohne diesen nicht wirklich verstanden werden. Das führt in der Psycholinguistik zur Beachtung und Bewertung der politisch-ökonomischen Verhältnisse und ihrer Einflüsse etwa auf die Entwicklung des Kindes oder die berufsspezifischen Kommunikationsforderungen an Erwachsene. Zweitens: Psycholinguistische Forschung unterliegt gesellschaftlichen Verpflichtungen. Dazu gehört auch die Verdeutlichung negativer sozialer Entwicklungen wie Medienmissbrauch, Isolation und Kommunikationsarmut.