Das Mädchen, das mit nur einer Gehirnhälfte sieht

Dreidimensionale Rekonstruktion der linken Hemisphäre des Großhirns. Farbig hervorgehoben ist die primäre Sehrinde im Hinterhauptlappen (Okzipitallappen). Auf der anderen Seite sieht man einen Schnitt der strukturellen Aufnahmen, der das Fehlen der rechten Hälfte des Großhirns veranschaulicht. Der Hohlraum auf dieser Seite ist mit Hirn-Rückenmarksflüssigkeit ausgefüllt. Quelle: Muckli, Naumer & Singer (2009). Copyright 2009 National Academy of Sciences, U.S.A.

Bisherigen Annahmen widersprechend weist die junge Versuchsperson kaum Beeinträchtigungen auf

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Das Gehirn ist das wohl komplexeste Organ und sein Wachstum, seine Struktur und seine Funktion gibt auch heute noch den Forschern zahlreiche Rätsel auf. Über das visuelle System ist seit langem bekannt, dass die linke und rechte Seite des Gesichtsfelds in der jeweils gegenüberliegenden Gehirnhälfte verarbeitet wird. Der Fall eines Mädchens, das wohl schon im Mutterleib eine Entwicklungsstörung erlitt, liefert jedoch einen Beleg für die enorme Anpassungsfähigkeit des Gehirns. Obwohl ihr die rechte Hälfte des Großhirns vollkommen fehlt, kann sie beinahe normal sehen und sich bewegen. Deutsche Hirnforscher haben jetzt genauer untersucht, wie ihr Gehirn diese Aufgaben löst.

Die Ärzte dürften nicht schlecht gestaunt haben, als sie die Gehirnaufnahmen des Kleinkinds sahen. Bei einer anatomischen Messung mit dem Kernspintomographen, die ihm Rahmen einer medizinischen Untersuchung durchgeführt worden war, zeigten die Bilder einen dramatischen Befund: Der jungen Patientin fehlte die rechte Hälfte des Großhirns komplett, große Teile des Zwischenhirns rechts waren nur in Ansätzen vorhanden und allein das Klein- und Stammhirn war auf beiden Seiten vollständig ausgeprägt.

Jahre später versetzte das Mädchen erneut Experten ins Staunen. Diesmal war sie in der Obhut von Lars Muckli, Marcus Naumer und Wolf Singer, Hirnforscher und Psychologen am Max-Planck-Institut (MPI) für Hirnforschung, dem Universitätsklinikum Frankfurt sowie der Universität Glasgow. Obwohl ihr das halbe Großhirn fehlte, zeigte sie äußerlich kaum Auffälligkeiten. Die Frankfurter Forscher interessierten sich vor allem für das visuelle System der Versuchsperson, da unter der Leitung von Wolf Singer, Direktor der Abteilung für Neurophysiologie des MPI, dort seit Jahrzehnten grundlegende Forschung zum Sehen bei Mensch und Tier durchgeführt worden war.

„Wenn bei Jugendlichen oder Erwachsenen in Extremfällen eine der Großhirnhälften entfernt werden muss“, erklärt Marcus Naumer vom Institut für Medizinische Psychologie, „kommt es normalerweise zum Ausfall des gegenüberliegenden Gesichtsfelds.“ Das heißt, ohne die linke Hemisphäre können die Betroffenen nicht mehr sehen, was auf der rechten Seite passiert und umgekehrt. Solche drastischen neurochirurgischen Eingriffe, medizinisch als Hemispherektomie bezeichnet, sind beispielsweise bei schwersten Epilepsien nötig, wenn sich der Anfälle anders nicht Herr werden lässt und Schädigungen des Gehirns eingetreten oder zu erwarten sind.

Mit einer Gehirnhälfte alles im Blick

Anders war das bei dem jungen Mädchen. Mit wahrnehmungspsychologischen Testverfahren wurde genau kartiert, wie viel sie auf beiden Seiten sehen konnte. Auch wenn ihr linkes Gesichtsfeld im Vergleich mit dem rechten etwas eingeschränkt war, konnte sie dort erstaunlich gut sehen. Das widersprach der Annahme, dass die Gesichtsfelder in der jeweils gegenüberliegenden Gehirnhälfte repräsentiert werden. Aufgrund ihrer fehlenden rechten Hemisphäre hätte das Mädchen auf der linken Seite eigentlich nichts sehen dürfen. Das nahmen die Forscher zum Anlass, mithilfe der funktionellen Kernspintomographie genauer zu untersuchen, wie das Gehirn des Mädchens das beidseitige Sehen gelernt hat.

Erfahrungen hatte man mit diesen Untersuchungen am Brain Imaging Center in Frankfurt genug. So konnte man auf bewährte Tests zurückgreifen, um die Reaktion des visuellen Systems sichtbar zu machen. Beliebt sind dafür kleine Ausschnitte aus einem Schachbrettmuster, die man systematisch auf einem grauen Bildschirm kreisen lässt. Der maximale Kontrast, der sich durch den Schwarz-Weiß-Übergang ergibt, erzeugt erfahrungsgemäß eine sehr starke neuronale Antwort. Da die Forscher wussten, zu welchem Zeitpunkt sich das Muster an welchem Ort befand, konnten sie eine Vorhersage über eine Änderung des Sauerstoffgehalts im Blut treffen, die mit der neuronalen Aktivität im Zusammenhang steht. Der Ort im Gehirn, für den diese Vorhersage am besten zutraf, steht dann für den Ort des Gesichtsfelds, an dem sich zu diesem Zeitpunkt das Schachbrettmuster befand. Dabei half den Forschern, dass es im Gehirn eine retinotope Repräsentation des Gesehenen gibt. Das heißt, benachbarten Punkten auf der Netzhaut des Auges entsprechen auch benachbarte Orte im visuellen Großhirn, das große Teile des Hinterhauptlappens ausmacht.

In einer Veröffentlichung in den Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS) berichten die Forscher jetzt die Ergebnisse ihrer Untersuchung. Die Auswertung des Experiments hat ergeben, dass sich auch im visuellen Kortex des Mädchens retinotope Karten finden lassen. Im Gegensatz zu anderen Menschen mit beiden Gehirnhälften, hat die linke Hemisphäre bei ihr jedoch die Repräsentaton des gesamten Gesichtsfelds übernommen. „Der Fall, dass beim Menschen eine Hirnhälfte das gesamte Gesichtsfeld repräsentiert, wurde bislang noch nie beschrieben“, kommentiert Singer dieses Ergebnis.

Links sieht man eine dreidimensional rekonstruierte und wie einen Luftballon aufgeblasene Darstellung der linken Hirnhälfte des Mädchens, rechts die beiden Hirnhälften einer Vergleichsperson. Diese Darstellung hat den Vorteil, das Gehirn mit seinen Faltungen ähnlich wie die Erdoberfläche auf einem Globus zu zeigen und damit auch sonst verborgene Bereiche sichtbar zu machen. Die Inseln mit den warmen Farben (gelb/rot) markieren Orte, an denen die Reaktionen auf das Schachbrettmuster im linken Gesichtsfeld am größten waren (weiße Pfeile). Bei der Kontrollperson (rechts) kann man gut sehen, dass hier warme und kalte Farbtöne deutlich voneinander getrennt sind – das linke Gesichtsfeld ist in der rechten, das rechte Gesichtsfeld in der linken Hemisphäre repräsentiert. Die weichen Farbübergänge veranschaulichen auch das Prinzip der retinotopen Repräsentation, da benachbarte Farben auch benachbarten Orten auf der Netzhaut des Auges entsprechen. Bild: Muckli, Naumer & Singer (2009). Copyright 2009 National Academy of Sciences, U.S.A.

Enorme Plastizität

Die internationale Gemeinschaft von Hirnforschern dürfte dieser Befund vor allem deshalb erstaunen, weil er einen Extremfall der Plastizität des menschlichen Gehirns darstellt. Dass beispielsweise Patienten nach einem Schlaganfall, wenn sie frühzeitig und kompetent behandelt werden, die durch den Hirninfarkt beeinträchtigten Funktionen mit großem Erfolg wieder erlernen können, ist seit längerer Zeit bekannt. Das wird durch Umbauarbeiten im Gehirn unterstützt. Dass jedoch die Funktionen einer ganzen Hemisphäre von der anderen übernommen werden können und dabei kaum eine Beeinträchtigung des Menschen zu beobachten ist, das ist ein völlig neuer Befund.

„Je früher eine Beeinträchtigung auftritt, desto besser kann das Gehirn darauf reagieren, desto plastischer ist es also“, sagt Naumer. Tatsächlich deuten die Untersuchungen der Forscher daraufhin, dass sich bei dem Mädchen schon in einem sehr frühen Stadium der Embryonalentwicklung die Anlage der rechten Hemisphäre zurückgebildet hat. Anhand der Ausprägung der noch vorhandenen Strukturen des Zwischenhirns schätzen sie, dass die Schädigung schon in der vierten bis fünften Schwangerschaftswoche aufgetreten sein muss.

Die besondere „Verdrahtung“ des optischen Nervs in diesem Fall wirft jedoch auch allgemeine Fragen zur Entwicklung des visuellen Systems auf. Normalerweise überkreuzen sich die Nervenbahnen der eher nasal, also in der Mitte des Gesichts liegenden Sehzellen, sodass die Informationen einer Hälfte des Gesichtsfelds schließlich in der gegenüberliegenden Gehirnhälfte verarbeitet werden. In dieser Hinsicht ist das visuelle System nicht einzigartig, denn beispielsweise auch für die motorischen Zentren gilt diese Überkreuzung – die linke Körperhälfte wird vom rechten motorischen Kortex gesteuert und umgekehrt. Nun fehlte bei dem Mädchen aber die rechte Hirnhälfte komplett. Woher „wussten“ die optischen Nerven des linken Auges, die sich normalerweise mit der rechten Hemisphäre verbinden, dass sie jetzt nach links wachsen sollen?

Die Forscher vermuten, dass molekulare Botenstoffe hierfür die Erklärung liefern. Im Normalfall würden von den jeweiligen Hemisphären aus diese Botenstoffe dafür sorgen, dass es zur Kreuzung der Nerven kommt und die Fasern schließlich in die Zielareale der gegenüberliegenden Seite projizieren. Muckli und seine Kollegen halten es für möglich, dass die Nervenfasern des linken Auges nun den Botenstoffen folgten, die normalerweise die Bahnen des rechten Auges in die linke Hirnhälfte locken – sozusagen Trittbrettfahrer der Fasern des rechten Auges waren.

Dies zeigt, wie dynamisch beim Wachstum des Nervensystems die unterschiedlichen Bereiche miteinander wechselwirken. Wenn der normale Weg an einer Stelle versperrt ist, beispielsweise durch eine Krankheit oder eine Entwicklungsstörung, dann können die Nervenzellen eine andere Möglichkeit finden. Dieser Fähigkeit verdankt es die junge Versuchsperson, dass sie beidseitig sehen kann und nicht, wie nach der Entfernung einer Hemisphäre im Jugend- oder Erwachsenenalter, an einer Hemianopsie leidet, einem Ausfall des halben Gesichtsfelds.

Dieser Fall erinnert an den Fund bei einem 44-jährigen Franzosen aus dem Jahr 2007, bei dem im Zusammenhang mit einer Routineuntersuchung wegen einer Schwäche im linken Bein entdeckt worden war, dass über die Hälfte seines Gehirns von Flüssigkeit verdrängt worden war. Wo sich bei anderen Menschen die graue und weiße Nervensubstanz befindet, war sein Schädel weitgehend von Hirn-Rückenmarksflüssigkeit ausgefüllt. Der Mann hatte zwar mit einem IQ von 75 nur unterdurchschnittliche Intelligenz, konnte aber einer normalen Tätigkeit als Beamter nachgehen und war Vater von zwei Kindern.

Dass das für die neue Studie untersuchte Mädchen auch mit nur einer Gehirnhälfte relativ normale Seh- und Bewegungsfähigkeiten gelernt hat, wird die Forscher sicher noch längere Zeit beschäftigen. Marcus Naumer bringt sein Staunen wie folgt auf den Punkt: „Uns hat schwer beeindruckt, dass ein vordergründig drastischer Befund nicht zwangsläufig nach sich zieht, dass der betroffene Mensch ebenso drastisch eingeschränkt ist, sondern im Gegenteil kaum eine Beeinträchtigung festzustellen ist.“