Das Pixel-Ich schwitzte

Offline-Lesung von tage-bau.de im Prenzlauer Berg

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Aus dem Netz in die Kneipe: Einen riskanten Medienwechsel wagte das Online-Literaturprojekt tagebau - Schreiben am Tag am Samstagabend. Mit einem Teil des beim arte-them@-Literatur-Wettbewerb (Darf es etwas mehr als zwei Groschen sein?) gewonnenen "Innovationspreises" von 1.500 Euro veranstalteten die beiden Herausgeber Sabrina Ortmann und Enno E. Peter eine Lesung mit 12 der 26 Tagebau-Autoren, die vom 16. August bis zum 18. Oktober 2000 an dem Wettbewerb zum Thema Mein Pixel-Ich teilgenommen hatten.

Im kuscheligen, mit Kerzen beleuchteten Hinterzimmer des Café Walden warteten die zahlreich erschienenen Gäste gespannt, wie sich die Pixel-Ichs im realen Raum präsentieren würden.

"Heizung aus!", rief einer der Autoren gequält, während sich die Besucher noch ihre Sitzgelegenheiten organisierten. Ein latentes Unwohlsein angesichts der körperlichen Bedrängnis in dem überhitzten Kneipenraum ließ sich auch bei den anderen Online-Literaten bemerken. Bisher hatten sie ihr Handwerk schließlich in elektronischer Einsamkeit betrieben; die salonhafte Öffentlichkeit mit Redezwang und Zigarre rauchenden Bohemiens war für einige eine sichtlich neue Erfahrung. Angespannt saßen die Schreiberlinge rechteckig angeordnet im vorderen Teil des Raumes - ob das, was da kommt wohl gut gehen würde? Als erster begab sich Enno E. Peter auf die wackelig wirkende Mini-Bühne, die wie ein Anlegesteg diagonal in den kleinen Raum ragte. Die meisten Autoren hätten sich gerade erst kennengelernt, weshalb die Veranstaltung eine eher experimentelle Angelegenheit sei, so Peter in seiner Einführungsrede. Und die ortsspezifische Mythologie beschwörend, fügte er hinzu: "Im Prenzlauer Berg im Jahre 2000 kann man so was aber ruhig machen."

Sodann drückte er auf die Taste eines kleinen Ghettoblasters und es erklang eine trashige Heimorgelversion von Born To Be Alive - ein Titel, der die kulturpessimistische Tendenz der folgenden Vorträge schon mal mehr oder minder verhohlen antrailerte - nach dem Motto: es gibt kein richtiges Leben im virtuellen oder - wie Enno E. Peter es später formulierte: "'Echt' ist im Gegensatz zu 'virtuell' ein ehrliches Wort". Das Audiotape mit ulkigen Cheapo-Versionen bekannter Gassenhauer (von Abba bis Soft Cell) diente ab sofort als Überbrückungsmedium für die einzelnen Vorträge der im übrigen ausschließlich deutschsprachigen Autoren - die Tagebau-Mitglieder aus England und Laos waren leider nicht angereist. Dass sich die Tagebauer trotz der knappen Kennenlernphase schon zu einer verschworenen Gemeinschaft zusammengefunden hatten, wurde deutlich, als der erste Vorleser Andreas Trostmann ("Seelsorger") darauf hinwies, dass er noch nie am Mikro gesprochen habe: Solidarisch aufmunternd klatschten ihm seine mit provisorischen Namensschildern gekennzeichneten LeidensgenossInnen zu. Trostmanns schwungvolle Lesung seiner "Bewerbungsmail" an Sabrina Ortmann und Enno E. Peter führte didaktisch in das thematische Feld von "Mein Pixel-Ich" ein: Die Reflexion über das gespaltene Ich, das zwischen "realer" und "virtueller" Welt hin und her schwebt, sollte der rote Faden der 12 Vorträge sein. "Ich bin drin und gleichzeitig bin ich draußen", so drückte Martina Peter ("Nav Net") später die schizophrene Seinsweise des Pixel-Ichs aus.

Allein Christine Asiaban ("tallinn") und Thomas Kutzli ("buh") durchbrachen den Imperativ der Medienselbst-Reflexion. Auch als einzige setzten sie sich zu zweit auf die schmale Bühne. Damit wurden sie der Auszeichnung der Arte-Jury am meisten gerecht, hatte diese ihre Verleihung doch mit "der Spannung, die durch Rede und Gegenrede sowie die dazugehörigen Kommentare" entstehe, begründet. Dialogisch und mit Umwegen über französische und italienische Literatur entwarfen Asiaban und Kutzli ein metaphysisches Sprachuniversum, dessen existentielle Seinsfragen den Rahmen "Ich und das Netz" furios sprengten. Allerdings wirkte der ambitionierte Vortrag bisweilen doch etwas arg manieriert und pathetisch. Und weil er der mit Abstand längste Beitrag war, machte sich im Publikum alsbald ungeduldige Unruhe breit. Wesentlich amüsanter war da fraglos Wilfried Salus Bieneks ("bientexter") Farce über den "Papst im Chat". Bieneks komische Spekulationen über die Frage, was passieren könnte, wenn man sich in einem ansexualisierten jugendlichen Chat-Room als Papst ausgibt, ernteten am meisten Gelächter.

Was Bienek gelang, schafften nicht alle: den Transfer der Online-Textformen in den realen Raum. Dabei betonten fast alle Sprecher im oben erwähnten kulturpessimistischen Tenor, dass es in der physischen Welt doch irgendwie echter und authentischer zugehe. So klagte Betty Bienenstich, dass im Netz "zu wenig Zeit für die Körper" bleibe. Möglicherweise lag eben in dieser Echtheitsunterstellung das Problem der Veranstaltung: Denn wenn es per se gut ist, wenn "richtige Menschen" aufeinanderprallen, dann liegt es nahe, die Regeln von Inszenierung und Performance zu ignorieren. Spannend und im guten Sinne "künstlich" war aber der Lesestil von Martina Peter ("Nav Neet"), die jedoch auch anders als die anderen professionell als Schriftstellerin arbeitet. Der Großteil der Lesetour aber wurde dem Medium Kneipe kaum gerecht. Ganz im Gegensatz zu der anschließenden Tagebau-Party, bei der im Sinne des Datums 11.11. fröhlich geschwooft und die Kommentarfunktion betätigt werden durfte. Das von den 1.500 Euro übrig gebliebene Geld wird übrigens für eine Pixel-Ich-Anthologie verwendet, die noch in diesem Jahr erscheinen soll.