Das Problem ist der Staub

Ein virtuelles Hotel und der provozierte Realitätssinn

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Die Ablehnung steht eigentlich schnell fest: Ein virtuelles Hotel, in dem man sich ein virtuelles Zimmer bucht, um einen virtuellen Urlaub zu verbringen? Das Hotel Vue des Alpes, im Netz betrieben von den Schweizer Künstlern Monica Studer und Christoph van den Berg, könnte ein verspäteter, lahmer Treppenwitz der New Economy sein. Wenn es so gemeint wäre, wie es auf den ersten Blick scheint.

Bilder: Vue des Alpes

Zugegeben: Die Täuschung ist aufwendig arrangiert. Das Hotel ist angeblich Mitglied in einer "Organisation für virtuellen Tourismus", die Anmeldeprozedur für die Zimmer wirkt wie geschaffen, um mit einem Micro- (oder eher Macro-) Payment-Prozess gekoppelt zu werden, und auch die Ernsthaftigkeit, mit der ansonsten die Vorzüge des virtuellen Urlaubslebens angepriesen wird, lässt an ein ernsthaftes Projekt zum Verbrennen von venture capital denken:

- Spaziergänge in der einmaligen 3D-Alpenwelt im Riven/Myst-Stil - Vollpension - schöne Souvenirs zu kundenfreundlichen Preisen (T-Shirts, Pin's) - Illustre Gesellschaft (unser Gästebuch gibt Ihnen jederzeit über die Belegung der Betten Auskunft - CD-ROM Ihres Aufenthalts durch unser hauseigenes Foto-Studio - Abendunterhaltung mit unserem Duo "Moni und Chris" - Pedalofahrten auf dem See

Erst wenn man sich ein wenig länger auf der Website bewegt, fallen einem Anzeichen dafür auf, dass der Subtext dieses Projekts über die Akquise von Investorengeld hinausreicht. Der Link zur angeblichen "Gesellschaft für virtuellen Tourismus" (VTO) führt zum Beispiel nur zum "Vue des Alpes" selbst zurück. Die Lobpreisungen der Annehmlichkeiten wirken dann doch ein wenig ironisch, und die Hintergrundtexte zum Thema machen dann eindeutig klar, dass man es hier nicht mit einer touristischen, sondern mit einer künstlerischen Angelegenheit zu tun hat.

Dabei ist eine Eigenart dieser feuilletonistischen Texte, dass sie nichts wirklich erklären. Mit postmodernem Jargon bis zur Lächerlichkeit aufgepumpt, greifen sie auf groteske Art an ihrem Thema vorbei. Einzige Ausnahme ist bezeichnenderweise ein Text der beiden Künstler selbst (Dirt per inch), der sich nicht in müßigen Selbstinterpretationen ergeht, sondern schlicht und ergreifend die Arbeit beschreibt, die die beiden leisten.

Es gelingt ihnen dabei durch eine kleine Detailbetrachtung, die Eigenart ihres ganzen digitalen Werks aufzuschlüsseln und dem Leser nebenbei noch grundsätzliche Unterschiede der digitalen zur photographischen oder künstlerischen Welterschaffung/beschreibung klarzumachen. Das Problem, so sagen sie, ist der Staub. Denn dort, wo in einem digitalen Kunstwerk nichts definiert wird, ist tatsächlich nichts, auf eine so nachdrückliche Weise, dass es dem auf andere Verhältnisse getrimmten menschlichen Auge früher oder später auffallen muss. Die Versuche, künstlichen Staub in der 3D-Simulation zu verteilen, seien bisher allesamt gescheitert, weil der künstliche Staub den menschlichen Sehgewohnheiten einfach nicht entspreche, und der Verzicht darauf, das Nichts, das dadurch entsteht, versieht die Spielwelt bei aller Liebe zum Detail mit einer tief verstörenden Künstlichkeit - die umso größeres Gewicht erlangt, je verzweifelter das menschliche Auge versucht, die digitalen Nachdichtungen mit den realen Vorlagen zu vergleichen.

Und die durchaus unangenehme Spannung, die sich daraus ergibt, der feine, aber wie im bösen Märchen immer nachdrücklicher ins Bild rückende Makel, ist es, der einen harmlos erscheinenden Aufenthalt im Hotel "Vue des Alpes" für sensible Gemüter in einen Höllentrip verwandeln könnte, und dem Projekt gleichzeitig seinen unverwechselbaren Kunstcharakter verleiht.

Nebenbei - und das mag nicht intendiert sein, ergibt sich aber von selbst - ist "Vue des Alpes" mit seinem einfachen Web-Interface ein höchst ironischer Kommentar zu der Virtual Reality-Euphorie von vor zehn Jahren, die für die nahe Zukunft den totalen Triumph von Head Mounted Displays und Datenhandschuhen prophezeite. Davon ist heute nichts zu sehen. Virtuelle Welten, das macht "Vue des Alpes" klar, finden jedenfalls im Consumer-Bereich vorerst auf dem Bildschirm statt und verzichten auf Immersion.

Freilich - und das gehört zur Irritation mit dazu - könnte man sich das Ganze durchaus als kommerzielles Unternehmen vorstellen, denn es mag sein, dass virtuelle Touristen mit einem robusten Sensorium das Hotel als das nehmen, was es angeblich ist - eine Stätte der Erholung im digitalen Alltag. Und es wäre ein bedauerlicher Stilbruch, wenn mit der Ankündigung "Zimmer frei ab 05.07.05" nach der jetzigen, kostenlosen Testphase nicht Ernst gemacht würde - Micropayment and all. In diesem Sinne kann man den Reisenden, die sich in Zukunft ernsthaft auf das Hotel einlassen wollen, schon jetzt nur einen angenehmen Aufenthalt wünschen.