Das Tempo des Lebens: Vorsichtige Annäherung an den Futurismus

Reproduktion des Figaro mit dem Futuristischen Manifest

Vor 100 Jahren erschien das Manifest des Futurismus. Wer waren die Futuristen, und was wollten sie von der Welt?

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Man kann zu den Futuristen stehen, wie man will. Eines muss man ihnen lassen: Es war nie langweilig mit ihnen. Im Frühjahr 1912 konnte man sich auch in Berlin davon überzeugen. Das war dem Musiker und Kritiker Herwarth Walden zu verdanken, der die avantgardistische Zeitschrift Der Sturm herausgab und kein Freund der traditionellen, auf die naturalistische Nachahmung der Welt setzenden Malerei war. Dass es auch anders ging, hatte Walden dem Publikum bereits durch eine Ausstellung mit Bildern der Expressionisten und des Blauen Reiters vor Augen geführt. Vom 12. April bis zum 31. Mai 1912 zeigte er in der Sturm-Galerie in der Tiergartenstraße einige Dutzend Werke futuristischer Maler, die zuvor schon in Paris und London für Aufsehen gesorgt hatten.

Auffällige Herren aus Italien

F.T. Marinetti – Erfinder, Führer, Organisator und Mäzen des Futurismus – und Umberto Boccioni – als Repräsentant der in der Ausstellung vertretenen Maler – waren zehn Tage lang Gast in Berlin und brachten frischen Wind in die Stadt. Diniert und diskutiert wurde regelmäßig im Weinrestaurant Dalbelli an der Potsdamer Brücke. Wie bürgerlich erstarrt und eher dröge das Berlin der Kaiserzeit war, lässt sich daran erkennen, wie viele von denen, die im Dalbelli mit am Tisch saßen, unbedingt für die Nachwelt festhalten mussten, dass die beiden Italiener nach jedem Essen darauf bestanden, auf das Leben und die Geschwindigkeit anzustoßen, die Gläser zu leeren und diese anschließend an die Wand zu werfen. Das war scheinbar unerhört. Befreiend war es auch.

Waldens Gattin Nell, eine blonde Schwedin, erinnerte sich noch 40 Jahre später voller Begeisterung an die „hinreißenden Stunden voll Glut, Enthusiasmus, südlicher Verve und Freundschaft“ und daran, dass die Gäste aus Italien das „Tempo des Lebens“ spürbar gemacht hatten (Nell Walden und Lothar Schreyer, Der Sturm: Ein Erinnerungsbuch, 1954).

Marinetti

Abends brach man zu rasanten Autofahrten durch die Leipziger, die Potsdamer und die Friedrichstraße auf. Marinetti, Boccioni, Nell und Walden standen dabei im offenen Wagen, warfen Flugblätter in die erstaunte Menge und riefen: „Viva il Futurismo!“ Ein Herr von der Universität ärgerte sich so sehr über diese „Spekulation auf die niedrigen Instinkte eines gewissen Teiles des Großstadtpublikums“, dass er den Polizeipräsidenten schriftlich aufforderte, diesem „groben Unfug“ ein Ende zu machen.

Walden studierte jeden Morgen die Zeitungen und strich mit Blaustift alles an, wogegen er oder einer seiner Mitstreiter polemisieren konnte. Bei ihm kam der Herr Universitätsdozent an den Richtigen. Walden besorgte sich eine Kopie der Anzeige, druckte sie im Sturm ab und gab ihr seine Kommentare über schmierige Denunzianten bei.

Umberto Boccioni in seinem Atelier

Die „Herren aus Italien“, notierte Alfred Döblin 1952 in einem autobiographischen Text, benahmen sich sehr „auffällig“. Man musste immer auf alles gefasst sein, was Döblin ebenso faszinierte wie erschreckte. Einmal gingen er und Boccioni spazieren, als ihnen ein Mann entgegenkam und den Italiener „frech anstierte“. Um zu demonstrieren, was er von Spießern hielt, schlug Boccioni dem Mann gleich mal die Faust „in das unverschämte Gesicht“. Eigentlich setzte er damit nur eine Forderung Marinettis in die Tat um. „Wir mussten unsere Methode völlig ändern“, heißt es in einer von dessen Schriften. „Hinaus auf die Straße mussten wir, die Theater im Sturm nehmen und den Faustschlag in den künstlerischen Kampf einführen.“

In Berlin hatte man für solchen Kunstanspruch wenig Verständnis. Die Auseinandersetzung wurde auf der Polizeiwache fortgeführt. Zu Döblins nicht geringer Erleichterung hatte die Sache aber keine weiteren Folgen. Boccioni dürfte das bedauert haben. Ein Cavaliere sein hatte damals noch nichts mit gelifteten Polit-Milliardären und Schnulzensängern zu tun.

In der bürgerlichen Presse erschienen heftige Verrisse. Die Ausstellung war eine Sensation und ein voller Erfolg. Unzufrieden war nur Boccioni, der allerdings die Latte auch sehr hoch gehängt und „die bedeutendste Ausstellung italienischer Malerei, die jemals dem Urteil Deutschlands unterlag“ angekündigt hatte. An guten Tagen kamen tausend Besucher, bei einem Eintritt von einer Mark (hinterher gab es Streit wegen der Verteilung der Einnahmen, wobei sich die Herren aus Italien wieder als sehr temperamentvoll erwiesen).

Die Bilder von Boccioni, Luigi Russolo, Gino Severini und Carlo Carrà musste man gesehen haben, um mitreden zu können. Das heißt noch nicht, dass man sie auch verstand. Der aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammende Döblin dachte bei Kunst zuerst an Arbeit. Im Sturm ärgerte er sich darüber, dass das Publikum nicht bereit sei, diese zu leisten:

Eine Ausstellung ist keine Stehbierhalle. […] Das Kunstwerk verlangt Disziplin, Eindringen, Bemühung, Bemühung.

Weniger streng war Franz Marc, Mitglied des Blauen Reiters. Er zitierte, ebenfalls im Sturm, aus futuristischen Verlautbarungen und stellte dann fest, dass es den Künstlern vorzüglich gelungen sei, Dinge wie „die Macht der Straße, das Leben, den Ehrgeiz, die Angst, die man in der Stadt beobachten kann, das erdrückende Gefühl, das der Lärm verursacht“ zu malen. „Carrà, Boccioni und Severini“, so Marc, „werden ein Markstein der Geschichte der modernen Malerei sein. Wir werden Italien noch um seine Söhne beneiden und ihre Werke in unseren Galerien aufhängen.“ Viele von den Bildern, die 1912 von Herwarth Walden präsentiert wurden, hängen heute in den wichtigsten Museen der Welt. Wer sich für moderne Kunst interessiert, kommt nicht an ihnen vorbei.