Das Unwort 2001: Die Wissensgesellschaft

Die Gesellschaft bekommt ein neues Präfix: Nicht Freizeit, nicht Spaß, sondern Wissen. Welche Diskurs-Konkurse sind ihm vorausgegangen und was hat der Neo-Kolonialismus damit zu tun?

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Alle paar Jahre wird die Route des Raumschiffs Kapitalismus, in dem wir es uns mittlerweile ganz gut eingerichtet haben, mit einem neuen Begriff korrigiert. In den letzten Jahren waren wir auf dem Weg in die Dienstleistungsgesellschaft, die paradoxer Weise gleichzeitig eine Freizeitgesellschaft gewesen sein soll. Wir mutierten zur Spaßgesellschaft, konzentrierten uns ganz auf das Internet und wurden eine Informationsgesellschaft und - der neueste Kurs ist ebenso unheimlich: die Wissensgesellschaft.

Alle Mann an Bord! Auch wenn der Begriff unglaublich humanistisch tut, sollte er einem prinzipiell verdächtig sein. Er gaukelt einem vor, dass es in Zukunft in dieser Gesellschaft darum geht, menschlichen Bedürfnissen gerecht zu werden. Und kommt einem dann mit der kolonialistischen Idee, gegen den eigenen Informatiker-Mangel ganz einfach Wissens-Arbeiter zu importieren. Aus Indien, beispielsweise. Prinzipiell ist man ja für die Greencard, weil durch sie in Deutschland am Bild vom Migranten als "Last" der Gesellschaft gerüttelt wird. Doch ebenso wenig darf man vergessen, dass ohne ein Sterbenswörtchen im öffentlichen Diskurs hier ausgemacht wird, ärmeren Ländern die Eliten. wegzukaufen.

Kontinuität des Kolonialismus, der sich von der Ausbeutung materieller Resourcen auf immaterielle umorientiert. Im Namen der Wissensgesellschaft. Na, da bedanken wir uns doch jetzt schon mal.

Das Ende der Geschichte, jetzt endlich Bevor man nun klärt, wessen Interessen hinter Wissensgesellschaft stecken und was uns dieser Begriff vorgaukelt, ist es gut zu verstehen, auf welcher politischen Diskussionsstruktur der Begriff aufsetzt. Denn die Verschiebungen der politischen Stellungen sind nicht ganz unwichtig. Früher zog der politische Diskurs in zwei unterschiedliche, einander gegenüberliegende Richtungen: zur Freiheit des Kapitalismus oder zur Freiheit des Sozialismus/Kommunismus. Oder unidealistisch trocken formuliert: in Richtungen im Sinne der Arbeitgeber oder im Sinne der Arbeitnehmer. Gleichzeitig kann man beobachten, dass die Art und Weise des Argumentierens bei beiden diskursiven Formationen immer damit beschäftigt gewesen ist, an vergangenen Werten festzuhalten bzw. sie zu erneuern. Auch links. Dort polarisierte man durch eine Tradition der Revolution, die schließlich nicht gerade kurz gewesen ist. Rechts über die Tradition einer Kontinuität der Macht, weshalb es den Rechten immer besser gelang, die "Geschichte" - was auch immer das sein sollte - für sich handlicher als Zugpferd vor den Karren zu spannen, als das auf linker Seite funktionierte.

Der Kapitalismus hat irgendwie gesiegt. Die politische Kultur der Konservativen hat er jedoch gleich mit kassiert.

Mit dem "Zusammenbruch" des Kommunismus dann, mit dem Fall der Mauer, hat es hierzulande auch noch das letzte Feuilleton kapiert: Es gibt eine Krise der Linken. Klar, Kommunismus tot, neue Revolutionen nicht in Sicht, linke Argumentation futsch. Den immer noch andauernden chinesischen Kommunismus kehrte man geflissentlich unter den Teppich, Schlitzaugen können für großnasige Bleichgesichter keine Relevanz haben, das ist ja klar, wie auch. Wiedervereinigung Deutschlands, die Kontinuität siegt, die FAZ startete hämisch die Kolumne "Was ist links?" Der Kapitalismus hat irgendwie gesiegt. Sicher. Was jedoch bis heute totgeschwiegen wird: die politische Kultur der Konservativen hat er gleich mit kassiert.

Kein Witz. Vielleicht mag es zunächst so ausgesehen haben, als hätte die Öffnung Osteuropas nur den Linken einen "Bruch" durch die Rechnung getrieben und ihnen unmöglich gemacht, sich auf ihre Tradition zu berufen. Doch in der Tat hat sich das gesamte Dispositiv der politischen Kultur transformiert. Baudrillard hat es schon immer gewusst: Nicht nur die Idee einer linken Geschichte ist gescheitert, die Figur einer linearen Geschichte überhaupt ist verschwunden, komplett, und hat das Fundament der Konservativen gleich mitkassiert - die Tradition, das Bewahren, das Annehmen des kulturellen Erbes, von dem aus der Weg, der richtige Weg natürlich, gewiesen werden kann. Dass Geschichte als Bestellkatalog der politischen Interessen funktionierte, ist offensichtlich geworden. Klassisch rechte Argumentationen, die sich in Begriffen wie dem der "Tradition" oder "Geschichte" verfangen, haben es nur als kaiserzeitlich veraltet über die Schwelle in dieses Jahrhundert geschafft. Was tun, wenn Leitkultur ist, dass es keine gibt?

Der Sachzwang der Zukunft

Doch trotzdem die rechten Werte in der Krise sind, gibt es keinen Grund sich beruhigend zurückzulegen. Denn in der Tat zeigt die regelmäßige Ausrufung von Gesellschaften an, dass sich das Dispositiv der politischen Kultur umgestellt hat. Um 180 Grad. Anstelle der Vergangenheit rechtfertigt nun die Zukunft die politische Handlung, die nicht mehr als politisch-ideologisch diskutiert wird, sondern als: Sachzwang. "Wir können nichts dafür, die Zukunft verlangt es von uns." Politik kann man heutzutage am besten durchsetzen, wenn keiner die Entscheidung als politische in Frage stellt. Das ist natürlich gnadenlos geschummelt, funktioniert jedoch. Ein Wort wie Wissensgesellschaft signalisiert zunächst einmal die "Notwendigkeit" der derzeitigen Rechtspolitik in Bezug auf das Internet: Wir stellen um von Material auf Information. Da müssen wir erst mal die Besitzrechte im Sinne der großen Konzerne klären. Sonst - hier drohende Mollorgel hindenken - geht es unser Wirtschaft schlecht, und ihr werdet alle - die Dissonanz des Akkordes schwillt an - arbeitslos. "Arbeitslos", das Totschlagargument, bei dem sich jedes weitere Nachdenken von selbst verbietet. Neue ökonomische Modelle wie Open Source fallen auf Grund solcher Argumentationen gleich von Anfang an vom Tisch. Dass diese Politik gegen das blinde kontinuierliche Durchpeitschen eines Patentverfahrens aus dem 19. Jahrhundert und für die Einbindung von Open Source nicht mal irgendwelche ernst zu nehmenden Überlegungen zeigt, verwundert um so mehr, da ihre eigene Bundesnachrichtenzentrale sich bekanntermaßen bei der Benutzung von amerikanischer Software wie Microsoft et. al. vor geheimen Falltüren gruselt, mit dem der CIA flugs mal eben aus Langley in die deutschen Datenbanken hinein spitzeln kann. Egal.

Alle Mann an Bord? Ein Grund übrigens, warum derzeit das Verhandeln über die Zukunft von "Informationsgesellschaft" auf "Wissensgesellschaft" umgestellt wird. Denn "Information" beschreibt quasi einen Rohzustand, mit dem man so oder so verfahren kann. Sie wird prozessiert, nicht nur von Menschen, auch von Computern oder anderer Technologie, ihre Bearbeitung und ihre Zuordnung ist noch nicht abgeschlossen. Nicht der Mensch allein hat auf sie Zugriff, und ihr Besitzverhältnis ist nicht unbedingt an ein Individuum gebunden. Ein durch und durch kontingenter Begriff. "Woher kommt die Information?" vs. "Wem gehört das Wissen?". Denn "Wissen" ist im Allgemeinverständnis unserer Sprache an ein Subjekt gebunden. Auftritt: Die Suggerierung einer Natürlichkeit von Besitzverhältnissen. Ein kluger Schachzug im Sinne der politischen Bestrebungen über die Beziehung zwischen Subjekt und Wissen ist es, das Patentrecht auszuweiten, auf Software zum Beispiel. Denn die Beziehung ist ungleich stärker als die zwischen Subjekt und Information. Gleichzeitig kehrt mit der Verschiebung der "Informationsgesellschaft" zur "Wissensgesellschaft" der Mensch wieder in den Mittelpunkt der Überlegungen zurück. Dabei war man hierzulande gerade mal dabei, sich mit der Technik zu versöhnen. Zurück zum Menschen als Mittelpunkt der Gesellschaft, da wird man ja schon mal gleich misstrauisch. Vor allem deshalb, weil "Mensch" als abstrakter Begriff immer an eine Idealvorstellung "Mensch" gebunden ist. Man denkt sich bezeichnender Weise nicht einen bierbäuchigen Arbeitslosen in Jogginganzug am Maschendrahtzaun. Wie bei allen anderen Humanismen, die die Bedürfnisse der Menschen in den Mittelpunkt stellten, dem Rechtsradikalismus oder dem Kommunismus beispielsweise, sollte man sich zwingen nachzuschauen, welche "Menschen" gemeint sind, wenn man unsere Gesellschaft als "Wissensgesellschaft" beschwört, und wer in diesem Wort keinen Platz hat.

Wer darf in der Wissensgesellschaft mitspielen?

Bierbäuchige Arbeitslose oder geistig Behinderte, die man erst gegenüber der PID schützt, nur um sie später nicht mitdenken zu müssen. Und ungefähr all das, was es auf dem Weg der Auflösung der Arbeiterkultur in den Mittelstand nicht mit geschafft hat und nun als Bodensatz der Gesellschaft übrigbleibt. Ohne eine eigene Kultur, die man der Wissensgesellschaft entgegenhalten könnte, ohne eine Geschichte, die man sich als Schutzschild gegenüber der Mittelschicht basteln könnte, damit man auch noch was ist, wenn man nicht dazugehört. Bevor man später noch mehr aufräumen muss, sollte man diesen Begriff lieber verabschieden.