Das Zeitalter des elektronischen Buchs

Werden Bücher aus Papier zum nostalgischen Objekt?

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Plötzlich kommt das elektronische Buch in vielen Versionen. Zusammen führen sie zu einer gewaltigen Veränderungen in den Beziehungen zwischen Autoren, Lesern, Verlagen, Buchhandlungen, Bibliotheken und Rezensenten, also der gesamten Welt des Buches oder einfach der ganzen Welt. Das herkömmliche Buch mit den Seiten aus Papier kann bereits auf dem Weg sein, ein nostalgisches Objekt zu werden, das vornehmlich antiquarisches Interesse auf sich zieht.

Eine Version des neuen Buchs ist das Nuvomedia Rocket e-Book. Das ist ein elektronisches Gerät mit einem Gewicht und einer Größe eines Taschenbuchs, das nur 600 Gramm wiegt, einfache zu bedienende Tasten und einen LCD-Bildschirm besitzt, der es den Menschen ermöglicht, jeder der zehn normalen Bücher zu lesen, die man jetzt damit herunterladen kann. Man kann den Text ausdrucken, und man kann ihn leicht markieren, Bemerkungen eintragen oder durchsuchen. Die Bedeutung von unbekannten Wörtern läßt sich in einem beigefügten Lexikon nachschlagen. Man kann es überallhin mitnehmen, es im Bett, am Strand, in der U-Bahn oder beim Frühstücken lesen. Nuvomedia plant, Hunderte von neu erschienenen Büchern für jeweils 20 Dollar zum Herunterladen zur Verfügung zu stellen. Das Rocket e-Book wird selbst zunächst 500 Dollar kosten.

Eine andere Version stammt von einer Webfirma namens toExcel. Man kann kostenlos soviel in allen "veröffentlichten" Büchern lesen, wie man will. Wenn man dies wünscht, kann man jeden Titel bestellen, ihn für den Preis eines normalen Buches drucken, binden und liefern lassen. Im Hintergrund steht dabei eine Technik, die es ökonomisch möglich macht, zu einer bestimmten Zeit schnell nur eine Druckausgabe eines bestimmten Titels herzustellen. Für die meisten Zwecke wird dies, wie ich glaube, nur ein Zwischenschritt auf dem Weg zu einer weiteren Verbreitung von elektronischen Büchern sein.

Until now, a manuscript had to appeal to a mass audience or it would never be seen in print. Even exceptional niche and experimental manuscripts were denied a market. At toExcel we believe every author should have a voice ... to be able to publish without bowing to "what sells" ... and to retain ownership and control over the work.

Eine dritte Version ist ein Programm, das von der Firma Night Kitchen entwickelt wird. Es soll eine leicht benutzbare allgemeine Plattform zur Herstellung interaktiver Angebote von Hypertexten bis hin zu multimedialen DVD-Roms sein. Langfristig wird dies die tiefreichendsten Auswirkungen auf das Wesen des Buchs haben.

Weil das elektronische Buch nicht größer ist als ein normales Buch und nur ein wenig mehr wiegt, stellt es eine Antwort auf die vielen Einwände gegenüber Büchern im Computer dar. Auch wenn selbst ein Laptop bei vielen Körperpositionen nutzlos ist, die wir beim Lesen eines Buchs einnehmen, so trifft das für ein elektronisches Buch nicht zu. Mit einem elektronischen Buch läßt sich auch das, was an einem Buch wesentlich zu sein scheint, nämlich es in seinen Händen zu halten, annähernd nachahmen, wenn man das Gerät mit Papier, Stoff oder Leder umhüllt.

Es wird Nachteile und Vorteile geben. Man kann ein elektronisches Buch in den Urlaub mitnehmen und sicher sein, daß einem der Lesestoff niemals ausgehen wird, wenn nicht die Batterie zu schwach wird, wodurch man dann überhaupt nichts mehr zu lesen hat. Schüler werden nicht mehr schwere Taschen von Zuhause in die Schule und zurück schleppen müssen, aber auch sie werden Schwierigkeiten haben, wenn die Batterien in einem wichtigen Augenblick ausfallen. Der Schreibtisch eines Schülers oder eines Autors kann vielleicht leichter sauber gehalten werden, als wenn sich auf ihm Bücher der alten Art stapeln, doch der Raum selbst kann weniger gemütlich wirken und es mag weniger spannend sein, sich in ihm aufzuhalten. Die Begegnung mit verschiedenartigen Menschen in einem Buchladen kann zu einem Ereignis der Vergangenheit werden. Wenn man will, daß andere von dem Buch, das man liest oder mit sich herumträgt, beeindruckt werden, dann wird einem das elektronische Buch, sobald es nicht mehr neu ist, diese Möglichkeit nicht mehr eröffnen und einen zwingen, die falsche Bescheidenheit sein zu lassen und die eigenen Interessen selbst zu sagen oder jede Identität durch die Lektüre aufzugeben.

Natürlich werden die Liebhaber der herkömmlichen Bücher keinen plötzlichen Verlust befürchten müssen. Es wird einige Zeit dauern, bevor elektronische Bücher hinreichend ausgereift sind, so daß ein großer Teil der lesenden Öffentlichkeit sie unwiderstehlich finden wird. Aber was auch immer ihre augenblicklichen Nachteile sein mögen, so sind sie lediglich der Ausgangspunkt für leichtere, billigere, schneller herunterladbare und flexiblere elektronische Substitute des Buches. Sie werden es jedem Autor ermöglichen, ohne große Anstrengung und ohne jede Verzögerung oder Schwierigkeiten, die Verlage einem manchmal in den Weg stellen, etwas zu veröffentlichen.

Bald werden Leser zumindest bei bestimmten Büchern nicht mehr bereit sein, ein paar Tagen zu warten, was auch der Fall ist, wenn sie ein Buch von Amazon.com bestellt haben. Jeder herunterladbare Titel wird überall in der Welt und zu jeder Tages- und Nachtzeit zur Verfügung stehen. Wenn manchen Lesern die 20 Dollar für das Herunterladen eines Buches zu teuer erscheinen, werden die Preise fast sicher stark fallen. Ganz egal, wie man versucht, das Copyright zu schützen, etwa indem man den Text mit digitalen "Wasserzeichen" auffüllt, so werden die Sicherungen leicht zu unterlaufen sein. Weil Texte vollständig "digital" sind, kann man sie leicht auf "Piraterieseiten" wieder verschlüsseln oder sie schnell mit der Email von Freund zu Freund senden. Daher werden die Verleger aus Gründen des Überlebens die Preise niedrig genug machen, um den Großteil der Datenpiraterie abzuwehren.

Autoren, die eine sehr kleine oder eine sehr große Leserschaft erwarten, werden ebenfalls versuchen, ohne Verlage auszukommen. Warum sollte, wer heute kaum Einkünfte erwarten kann, seine Texte nicht kostenfrei im Netz veröffentlichen, um die Aufmerksamkeit für sie zu maximieren? Beim anderen Extrem können berühmte oder Bestseller-Autoren versuchen, den vollen Preis direkt ihnen zukommen zu lassen, ohne die Gewinne mit Verlagen und den Aktieninhabern der Verlage teilen zu müssen.

Was wird mit dem Herausgeben, Vermarkten, Bewerben, Rezensieren usw. geschehen? Viele Rezensenten, die ihre eigene Websites haben, werden in Wirklichkeit zu Herausgebern. Bücher, die sie schätzen, werden zusätzliche Aufmerksamkeit erhalten. Auch Leser können zu Herausgebern werden. Autoren werden Vorteile haben, wenn sie jede Version ihres Manuskripts sofort publizieren, wenn sie geschrieben ist, denn dann können sie, wenn sie dies wünschen, die Reaktion ihrer Fans so leicht erhalten, wie dies Autoren jetzt durch Freunde und Kollegen bekommen. Frühere Versionen desselben Textes können können manchmal unter demselben Titel online mit späteren koexistieren, wobei die späteren von den editorischen Ratschlägen der bekannten und unbekannten profitieren. Solche informellen Editoren können für das, was sie mitgeschaffen haben, einen Besitzerstolz entwickeln und auch zu "Rezensenten" und "Werbern" der fertiggestellten Bücher werden.

Werden sich die Leser wie jetzt noch persönlich in Buchläden begegnen? Werden sich Autoren noch auf Lesetouren begeben und in diesen Buchläden vorlesen? Wahrscheinlich nicht, doch wir können hoffen, daß neue Institutionen das ersetzen werden, was verloren geht.

Sollten wir Befürchtungen vor dem Auftauchen der digitalen Medien haben, und können wir überhaupt etwas machen? Das erste Problem ist, daß Bücher, die es nur auf Server gibt, einfach gelöscht werden oder verschwinden können, wenn der Server geschlossen wird. Neue Software ist möglicherweise nicht in der Lage, Bücher zu lesen, die in älteren Versionen geschrieben wurden. Während der ganzen kurzen Geschichte der Computer haben Dutzende von Codierverfahren nur sehr kurz existiert und ist viel von dem, was einst codiert wurde, heute unlesbar. Werden Bücher dasselbe Schicksal erleiden, besonders wenn Bibliotheken mit Büchern au Regalen altmodisch werden? Solange ein paar Dutzend Exemplare eines jeden Buchs ausgedruckt und in Archiven rund um die Erde aufbewahrt werden, sollte der Inhalt der Bücher überleben können. Wenn Online-Bücher überdies gedruckte Bücher ablösen sollten, dann wird die Codierung, also die Methoden der Übersetzung von Texten in Zahlen, so allgemein gebraucht werden, daß man sie kaum ändern kann.

Problematischer wird es allerdings bei hybriden Büchern sein. Mit Night Kitchen oder anderen neuen Programmen, sowie mit computerähnlichen Geräten wie den elektronischen Büchern, wird es möglich sein, multimediale Versionen von Büchern herzustellen, die Sound, Animationen und anderes enthalten. Manche Programme zur Erstellung dieser komplexeren Angebote werden sicher immer wieder überarbeitet werden, so daß multimediale Bücher in nicht allzu ferner Zukunft in der Tat "unlesbar" sein könnten.

Auch wenn das Copyright gegenwärtig bedroht ist, so ist dies nicht beim Besitz der Aufmerksamkeit der Fall, die jetzt den Autoren zuteil wird. Ein ernsteres Problem entsteht aus der Kombination von Multimedia mit der gegenwärtig auch nur kleinen Kapazität der ersten elektronischen Bücher, die größer werden wird. Überdies ermöglichen mit der Mobiltelefon-Technik kombinierte elektronische Bücher mit Hyperlinks ausgestattete Bücher.

In der Vergangenheit verstärkte die materielle Einheit des Buches die vom Autor gestiftete textuelle Kohärenz, um das Lesen eines Buches von der ersten bis zur letzten Seite zu unterstützen, auch wenn das Monate oder sogar Jahre dauern kann und durch alles Mögliche unterbrochen wird. Man konnte das Buch hinlegen, und es würde an dem Platz bleiben und stets denselben Text enthalten.

Egal wie lange und komplex das Buch in der Vergangenheit war, so war es immer angeordnet und endlich. Es war angeordnet in dem Sinn, daß seine Worte, Sätze und Kapitel aufeinander folgten, so daß es eine einzige Geschichte oder eine miteinander verknüpfte Reihe von Argumenten enthielt. Es war endlich in dem Sinne, daß man es mit ausreichender Geduld und Ausdauer ganz lesen und es sogar in seinem ganzen Umfang genau kennenlernen konnte. Doch mit einem multimedialen, mit Hyperlinks ausgestatteten Buch, das man einfach herunterlädt, werden diese Eigenschaften nicht bestehen bleiben. Folglich ist der Autor stärker als zuvor verantwortlich dafür, das Interesse des Lesers zu halten, aber die vielen Methoden, dies zu tun, werden auch die Möglichkeit eröffnen, manchmal für immer zu den Gedanken von anderen abzuschweifen.

Anstatt ein einziges Buch zu lesen, werden wir uns wahrscheinlich in alle Bücher oder sogar in alle Medien eingetaucht sehen und niemals mehr leisten können, als die Oberflächen in einer zufälligen Reihenfolge zu durchwandern. Wenn unsere Identität in der Vergangenheit auch von den Büchern, die wir gelesen oder nicht gelesen haben, geprägt wurde, dann wird unsere Selbstwahrnehmung jetzt lose und unverankert sein.