Das digitale Delirium

BerlinBeta 3.0: Was passiert, wenn Startup-Gründer, Alt-68er, Hacker und VCs aufeinander losgelassen werden?

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Zum dritten Mal wird die Hauptstadt Ende der Woche zum Schauplatz des Geld, New Economy, Techno, Architektur und Film vernetzenden Medienspektakels BerlinBeta.

Venue: Die schwangere Auster

Nach dem Start in der wunderbar ostigen Kongresshalle am Alex und der Zwischenlandung im kalten Ludwig-Erhardt-Haus (Berlin bleibt Beta) am Bahnhof Zoo ist das in seiner "Crossigkeit" kaum noch zu steigernde Multi-Medienfestival BerlinBeta im dritten Jahr seines Bestehens endlich in (fast) jeder Beziehung da angekommen, wo es die Initiatoren schon immer haben wollten: Als Location für die Konferenz konnten die Macher Stephan Balzer und Marc Wohlrabe endlich das Haus der Kulturen der Welt rechtzeitig buchen. "Wir wollten schon im ersten Jahr in die Schwangere Auster", erinnert sich Flyer-Frontmann Wohlrabe. Bei nur drei Monaten Vorbereitungszeit für Version 1.0 der Beta war allerdings dort alles schon ausgebucht.

Der Konferenzteil, der am Freitag beginnt und von zwei auf drei Tage verlängert wurde, ist auch gewachsen sowie internationaler geworden – und damit eigentlich längst nicht mehr beta. "Wir haben dieses Jahr über 100 Referenten, ein Drittel davon aus dem Ausland", freut sich Balzer, der mit rund 1000 zahlenden Besuchern rechnet. Auf die warten in diesem Jahr Vorträge ohne Ende, wobei der Blick zurück in die Zukunft als Leitmotto über der Konferenz steht: In den acht Programmteilen geht es um lauter Re:Kapitulierungen unter Aufhängern wie Re:Build, Re:Materialise, Re:View oder Re:Load.

Das Adventure Kapital

Hinter den Wortspielereien verstecken sich sogar Inhalte, macht Balzer unmissverständlich klar. Im Freitags-Panel "Re:Cap Fainance & Services" beispielsweise geht es mal wieder um das liebe Geld und unsere Lieblings-Startups. Die Chefs von Firmen wie Dooyoo.de oder Yellout.de werden da über ihre Erfahrungen mit ihren VCs berichten. Denn während es auf der ersten BerlinBeta noch darum ging, die Jugend mit Begriffen wie Venture Capital und den Austeilern desselben überhaupt mal in Kontakt zu bringen, sollen nach dem abrupten Ende des Dot-com-Fiebers in den USA nun die mit der Kohle verbundenen Dienste vorgestellt und hinterfragt werden.

"Wir wollen keinen Hype kreieren", stellt Balzer klar. Vielmehr würden Leute wie Ian Stewart, Geldgeber von NM Rothschild & Sons in London und ein früher Investor in das Magazin Wired, oder Nicholas Hall, das gebrannte Kind der Dot-com-Szene in San Francisco, der nach zwei Crashs die viel zitierte Site www.startupfailures.com ins Web gestellt hat, diesmal über das "Adventure" Kapital sprechen.

Am Samstag dreht sich im "Business-Track" dann alles um die Verschmelzung von alter und neuer Ökonomie und die Neu-Erfindung des Webgeschäfts. Denn obwohl die Verwandlung des Internets in einen Verkaufsraum erst vor wenigen Jahren richtig begonnen hat, haben spektakuläre "Aussetzer" wie im Fall Boo.com bereits die Re:Revolution des Net-Business' erforderlich gemacht. So werden sich denn diskussionsfreudige Panelteilnehmer wie Jörg Rheinboldt von eBay.de oder Thomas Spar von der mit dem interaktiven Einkaufsführer Gold.de bisher nur rote Zahlen schreibenden Popnet Internet AG über das Reizthema Shopping & Lifestyle auslassen. Man habe sich erneut an diesen, die spektakulärsten Abstürze produzierenden Bereich herangewagt, philosophiert Balzer, weil immer noch viele glaubten, dass es "dort abgehen werde". Da darf man natürlich gespannt sein, was zumindest in dem Debattierclub auf der Beta abgeht.

Globale und virale Lebensstile

Wem das ganze Startup-Geplustere eh schon auf den Geist geht, dürfte mit Tracks wie "Re:Build The Interface Experience" oder der bereits im vergangenen Jahr gestarteten "Urban-Drift-Reihe" (Architektur in der Betaphase) – diesmal als Re:Materialise und Re:Framing Place im Angebot – besser bedient sein. Keynote-Speaker sind Erik Spiekermann von MetaDesign sowie der McLuhan-Anhänger Derrick de Kerkhove. In diesen Panels dreht sich alles um die Frage, wie sich angesichts der dem chaotischen Internet entspringenden "globalen und viralen Lebensstile" noch Identitäten im Webspace sowie im physischen Raum entwickeln lassen, weiß Francesca Ferguson, Kuratorin beider Konferenzteile. Stardesigner wie Ian Anderson oder die Architekten von "Markenbauten" wie der Wolfsburger VW-Autostadt werden dort über virtuelle und reale Landschaften und ihre Gestaltung sprechen.

Der Sonntag steht ansonsten im Zeichen von Film, Fernsehen und Kino. "Der Schwerpunkt liegt im Bereich Digital Video", erläutert Balzer. Der Zukunft der visuellen Unterhaltung musste dieses Jahr das Dauerthema MP3 weichen, da die nächste Industrie, die durch das Internet ein großes Problem habe, Hollywood und Co. sei. Zugleich soll über Panels wie "Sim Cinema" oder "Digital Film & Video Business Models" die Verbindung zum am Mittwoch mit "Kanak Attack" startenden Filmfest enger geknüpft werden als in den Vorjahren. Ganz auf die neuen Internet-Übertragungsmodelle einzustellen, wagt sich bei BerlinBeta aber noch niemand: Während die Konferenz live über den Kulturserver auch vom Wohnzimmer aus verfolgt werden kann, gibt es die Filme aus dem Festivalprogramm nur im Kino zu sehen. "Dieses Erlebnis ist einfach nicht ersetzbar durch die kleine Kiste zu Hause", rechtfertigt Wohlrabe die intermediäre Halbherzigkeit.

Während das Filmfest bis zum 6. September läuft, wird die Konferenz am Sonntag Abend mit einem kleinen Schmankerl ausklingen: Unter dem Stichwort "Re:Load" wollen Scharfschützen wie Wau Holland, der Alterspräsident des Chaos Computer Clubs, oder der Alt-68er Rainer Langhans den Dot-coms mal richtig Pfeffer geben und über "Digital Delirium", Drogenräusche und vernetzte Kommunikationsmodelle phantasieren. Denn auch die Tag und Nacht arbeitenden Startups brauchen mal etwas "Inspiration aus der Szene", wie Balzer herausgefunden haben will.

Der Kongress tanzt: Re:Fresh am späten Abend

Fürs Re:Freshing angesichts all der Medienkonvergenz soll außerdem natürlich das After-Hour-Clubbing am Abend sorgen, zu dem nicht wieder nur die legendäre flora&faunaLounge in der Backfabrik auf dem Noch-Casino-Gelände mit ihren schon am Mittwoch startenden Parties einlädt, sondern so ziemlich alle Clubs der Stadt, die Rang und Namen haben, ihre Dance-Floors öffnen. Abtanzen können die BerlinBeta-Gestressten beispielsweise am Wochenende im Maria am Ostbahnhof, in der neuen Space Lounge der c-base am Spreeufer oder im WMF. Sein Grand Opening feiert zudem am Donnerstag die O.K. Girls Gallery – der erste Club im bisher nicht gerade für Ausgehqualitäten bekannten Wedding.

Soviel Re:volution und Altbewährtes im Programm hat natürlich auch seinen Preis: 320 Mark kosten drei Tage Konferenz + Abendprogramm. "Wir kriegen keine Staatsknete, müssen alles frei erwirtschaften", buhlt Wohlrabe um Verständnis in der Szene. Und im Vergleich mit anderen Veranstaltungen stehe man ja noch gut da: So habe der Besuch der Konferenz im Rahmen der Internet-World im Mai in Berlin satte 1.800 Mark gekostet. Doch wenn der ein oder andere (Nicht-) Besucher sich an der Kasse die Sache anders überlegt, wird das der Konferenz vermutlich auch nicht schaden: Schon im vergangenen Jahr war manches Panel heillos überlaufen, so dass vermutlich auch in der Schwangeren Auster die Stehplätze wieder rar werden.