Das durchgängig geöffnete Kaufparadies

Die US-Regierung und der E-Commerce

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Ira Magaziner, der Internet-Berater des Weißen Hauses, überläßt diese Woche seinem Nachfolger David Beier den Platz. Als letzten Akt übergab er im Weißen Haus einen Bericht zur Förderung des E-Commerce und zum Schutz der Konsumenten im Cyberspace.

Geändert hat sich an seiner Position nicht viel. Noch immer wird auf die Selbstregulation der Unternehmen gesetzt. Richtlinien sollen von Unternehmen gemeinsam mit Verbrauchervertretern und Organisationen zum Schutz der Privatsphäre entwickelt werden, die Einkäufern gewährleisten, daß sie dieselben Schutzmechanismen "in virtuellen Malls finden, wie sie dies in normalen Malls haben." Das Internet soll ein steuerfreies, vom freien Markt reguliertes Netz bleiben. Bestehende Gesetze gegen Betrug sollen auch auf dem globalen Marktplatz gelten. Die Privatwirtschaft soll stärker in High-Speed-Netzwerke investieren, kleine und mittlere Unternehmen sollen beim Internetzugang stärker unterstützt werden, und man will Programme schaffen, um das Internet und E-Commerce in den Entwicklungsländern zu verbreiten.

Al Gore sprach davon, daß das Internet jetzt zu einem "globalen Nervensystem für die ganze Welt" geworden sei. Täglich würde 27 Millionen Käufe im Web getätigt: "In diesem entstehenden digitalen Marktplatz kann fast jeder mit einer guten Idee und ein bißchen Software ein Geschäft eröffnen und dann zu einem Eckstein für den ganzen Planeten werden." Das große Versprechen - vom Tellerwäscher zum Milliardär - kondensiert sich jetzt also vornehmlich im Internet. Aber es ist nicht mehr die Kommunikationsplattform, sondern eben vornehmlich die Plattform für den E-Commerce, der den Segen für alle bringt. Für einen Markt brauche man einen zentralen Ort, und den habe jetzt jeder mit seinem vernetzten PC Zuhause, der eine Tür zu der globalen Mall sei, die 24 Stunden täglich, sieben Tage die Woche und 365 Tage im Jahr geöffnet sei. Das permanent geöffnete Kaufparadies, zu dem jeder von überall Zugang hat, soll, wie Gore sagt, bis zum Jahr 2010 die Zahl der Menschen verdreifachen, die ihren Lebensunterhalt verdienen, weil sie über das Internet Zugang zu den Weltmärkten finden. Die Frau aus Uganda, die für AIDS-kranke Kinder Körbe übers Internet verkauft, oder ein peruanisches Dorf, das Lebensmittel nach New York verkauft, dienen als Legitimation für diesen "Quantensprung im Handel" im "globalen Dorf".

Auch Bill Clinton kann nur schwärmen. Letztes Jahr hätten nur 10 Prozent der Menschen mit PCs online Weihnachtseinkäufe getätigt, dieses Jahr werden es schon 40 Prozent sein. Überhaupt sei man in den letzten Jahren, also den Jahren der Clinton-Regierung, sehr erfolgreich gewesen und habe den Sprung in die neue Ökonomie geschafft. 17 Millionen neue Jobs seien in den letzten Jahren entstanden, man habe eine starke Wirtschaft und sei führend bei den Zukunftstechnologien von der Telekommunikation bis zur Biotechnologie. Und die amerikanischen Tugenden der Flexibilität, der Innovation, der Kreativität und des Unternehmertums werden durch die neue Ökonomie belohnt, in der das Internet eine wichtige Rolle spielt und die von der Technologie angetrieben wird. Clinton verspricht, daß man nichts machen werde, was die Möglichkeiten der neuen Technologien behindern werde. Weil Informationstechnologien schon für ein Drittel des Wirtschaftswachstums verantwortlich sind und hier vor allem E-Commerce am interessantesten ist, werde man weiterhin gute Bedingungen für die "elektronischen Unternehmer" schaffen.

Schon viel habe man geleistet: ein steuerfreies Internet, Schutz des geistiges Eigentums online, Entwicklung des Next Generation Internet, Schutz der Kinder online, Privatisierung der Vergabe der Domainnamen, Schutz der wichtigen Infrastruktur oder Lösung des Jahr-2000-Problems. Doch die Internetverbindungen müssen noch schneller, die Rechte der Konsumenten gestärkt, die Privatsphäre geschützt werden: nicht durch Regulierungen, die Wachstum und Innovation bremsen, sondern durch Anreize für Online-Unternehmen. Ähnlich wie man beim Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft in den USA eine Zentralbank, eine gemeinsame Währung, ein nationales System von Straßen und Kanälen und eine wirkungsvolle Bekämpfung des Betrugs geschaffen habe, gehe es jetzt um den Entwurf für ein neues ökonomisches Zeitalter: "Nicht durch den Beginn von großen Institutionen, sondern durch die Freisetzung von kleinen Unternehmen. Wir haben die Ehre, die Architektur für einen globalen Marktplatz mit stabilen Gesetzen, starken Schutzmaßnahmen für Konsumenten und ernsthaften Anreizen für den Wettbewerb zu gestalten: für einen Marktplatz, der alle Menschen und Nationen einschließt."

In der Tat, die USA haben mit ihrer politischen und wirtschaftlichen Macht entschlossen die Initiative ergriffen, die Regeln des virtuellen Marktplatzes zu formulieren und durchzusetzen. Ähnlich entschlossene Initiativen sollte man auch von den europäischen Ländern erwarten - und vielleicht auch Alternativen zum amerikanischen Modell, das allzu forsch davon ausgeht, daß es das einzig Seligmachende ist, an dem die ganze Welt genesen wird. Ein wichtiger Schritt wird etwa sein, ob die EU ihren Ansatz zum Schutz der Privatsphäre einigermaßen unbeschadet gegenüber USA aufrechterhalten kann - und natürlich auch selbst intern umsetzt, woran man seine Zweifel angesichts der Überwachungspläne haben kann.