"Das eigentliche Problem ist die Vorstellung, dass es in jedem Jahr mehr sein muss"

Meinhard Miegel über die Krise, die keine ist, und warum wir umdenken müssen, um den nächsten Crash zu vermeiden

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Prof. Dr. Meinhard Miegel ist Jurist, Sozialwissenschaftler und Publizist. Er ist Vorstand des Denkwerks Zukunft - Stiftung kulturelle Erneuerung und beschäftigt sich mit Überlegungen zum Umbau des Sozialstaats, den Veränderungen der Arbeitsgesellschaft und der Kritik an der Wachstumsideologie, die er in seinem letzten Buch: "Epochenwende. Gewinnt der Westen die Zukunft?" behandelt hat.

Herr Miegel, jeder redet von der Krise, nur Sie nicht. Wenn wir nicht in einer Krise stecken, was dann?

Meinhard Miegel: Ich spreche ungern von einer Krise, obwohl es natürlich krisenhafte Symptome gibt, weil alle Welt in einer Art und Weise von dieser gegenwärtigen Situation spricht, die ich für arg übertrieben ansehe. Es wird so getan, als sei dies ein quasi Weltuntergang, als sei eine Ordnung zu Ende gegangen. Aus meiner Sicht ist das, was wir in diesen Jahren erleben, die ganz einsichtige Konsequenz einer langen Entwicklung. Es gibt jetzt also nichts, von dem man sagen könnte, das war unvorhersehbar, da hat sich etwas zusammengebraut und ist über uns gekommen, sondern richtiger wäre es zu sagen, wir haben seit zehn, fünfzehn, vielleicht auch zwanzig Jahren in einer Weise politisch gehandelt und auch dann gewirtschaftet, die zu diesen Krisen führen muss.

Das ist ja nicht die erste Krise. Wir haben in den zurücklegenden zehn Jahren etwa acht Krisen gehabt von unterschiedlichem Gewicht. Schon die Krise zu Beginn dieses Jahrzehnts – die IT-Krise – hatte schon beträchtliche Auswirkungen. Wir werden diese Krisen immer häufiger bekommen, die aber keine Wendepunkte sind, was Krise ja heißt, sondern es ist einfach die Abfolge bestimmter Entwicklungen.

Sie bezeichnen den Wachstumswahn als eine Droge. Wie ist es dazu bekommen, dass der Glaube vom unendlichen Wachstum zur Drogen werden konnte?

Meinhard Miegel: Die Gesellschaft glaubt in großen Teilen, dass sie ohne Wachstum nicht existieren kann. Die Politik glaubt, eine Demokratie sei nicht regierungs- und steuerungsfähig, wenn es kein wirtschaftliches Wachstum gibt. Man glaubt, dass die Lebenszufriedenheit der Menschen sinkt, wenn das wirtschaftliche Wachstum nachlässt. Unsere sozialen Sicherungssysteme bauen auf der Annahme immer währenden Wachstums. D.h. das Wohl und Wehen dieser Gesellschaft hängt ab von Wachstum. Es ist ein Wachstumszwang. Wir fragen gar nicht mehr, brauchen wir eigentlich diesen Wachstum? Was verändert sich durch dieses Wachstum? Wir sind davon überzeugt, wenn es dieses Wachstum nicht gibt, dann bricht eine Katastrophe über uns herein. Das ist mein Kritikpunkt. Wachstum ist schön und gut, und wenn die Voraussetzungen dafür da sind, dann soll es auch wachsen, aber eine Gesellschaft soll sich nicht abhängig machen von der Notwendigkeit immer währenden Wachstums, denn Wachstum kann nicht auf Dauer garantiert werden. Das ist völlig unmöglich. Wir leben in einer endlichen Welt, und in einer endlichen Welt kann es kein unendliches Wachstum geben.

Wir haben in den zurückliegenden 60 Jahren ein dermaßen dynamisches Wachstum gehabt, dass wir jetzt in den reichen Ländern – es gibt natürlich große Regionen in der Welt, wo es anders aussieht – uns ein wenig zurückhalten müssen. Wir können ganz sicherlich sagen, wenn wir jetzt für einige Jahre mal kein Wachstum hätten, dann wäre dies keineswegs eine Tragödie.

Hat die Wirklichkeit dem Wachstumswahn ein Ende bereitet? Oder wird die Wirtschaft an dieser Ideologie festhalten?

Meinhard Miegel: Diese Krise wird diesen Wachstumswahn oder Wachstumszwang nicht überwinden. Die Entwicklungen zeigen ja eindeutig, dass möglichst viele in der Wirtschaft, in der Politik, in der Gesellschaft dort anknüpfen möchten, wo sie den Faden vor einigen Jahren verloren haben. Es wird die nächste Krise kommen, sie wird aufgebaut, sie bereitet sich vor, und es ist für mich nicht möglich zu sagen, ob dann die nächste Krise, diejenige sein wird, nach der das Denken der Menschen anders geworden sein wird. Aber wir werden es erleben, und zwar in den kommenden 20 bis 30 Jahren, dass es Dinge nicht mehr geben wird, die wir heute als absolut notwendig ansehen, von denen wir meinen, wir könnten ohne sie nicht überleben. Wir werden in den vor uns liegenden 20, 30 Jahren wesentlich radikalere Veränderungen in unseren Lebensformen erleben als in den zurückliegenden 100 Jahren.

Wie kann eine Lösung aussehen? Reicht eine „humanere“ Ausrichtung des Kapitalismus? Hat der Kapitalismus noch eine Zukunft, oder brauchen wir ein grundlegend anderes Verständnis des Wirtschaftens, des Lebensstils?

Meinhard Miegel: Für mich ist es keine Problematik des Kapitalismus. Wir haben hier Entwicklungen, von denen wir sagen müssen, Kapitalakkumulation war der entscheidende Faktor für gigantische Produktivitätssteigerungen. Hätten wir diese Kapitalakkumulation in Verbindung mit Innovation nicht gehabt, dann würden wir heute so wirtschaften wie vor 200 Jahren. Das ist, glaube ich, von niemandem gewünscht. Es ist nicht so sehr der Kapitalismus, sondern die Art und Weise, wie wir damit umgehen, wie wir wirtschaften, wie wir der Auffassung sind, wir müssen Renditen von überzogenen Größenordnungen, es muss permanent eine Lohnrunde stattfinden, in der die Einkommen wieder erhöht werden. Die Vorstellung ist das eigentliche Problem, dass es in jedem Jahr mehr sein muss. Ob jetzt dahinter eine kapitalistische Wirtschaftsform steht oder eine andere, spielt keine so entscheidende Rolle, denn der real existierende Sozialismus ist gescheitert, weil er die ökonomischen Ergebnisse nicht gezeitigt hat, die die Bevölkerungen erwarteten, obwohl es keine kapitalistische Ordnung war. Man kann also auch in nicht-kapitalistischen Ländern unter Wachstumszwängen. Der real existierende Sozialismus wollte genauso wachsen wie die kapitalistischen Länder. Es war geradezu ein Wettstreit zwischen Kapitalisten und Sozialisten, wer schneller wächst und wer die größeren und besseren Ergebnisse erzielt.

In einem Interview sagten Sie, dass viele Menschen mit dem „inneren Reichtum“ nicht viel anfangen können. Spielt die Religion eine Schlüsselrolle bei dem Wandel im Lebensstil?

Meinhard Miegel: In den früh industrialisierten Ländern spielt die Religion heute keine entscheidende Rolle mehr. Diese Gesellschaften sind weitgehend säkularisiert. Die Religion wird verinnerlicht von Minderheiten in dieser Gesellschaft, auch wenn nominell viele Leute sagen, wir gehören dieser und jener Kirche an. Sie leben ja die Lehrsätze nicht.

Wenn wir das Christentum nehmen, dann ist das Christentum eine ausgesprochene Armutsreligion. Nichts wird deutlicher am Christentum als dieses Postulat, wer sich irdische Schätze anhäuft, der verfehlt sein eigentliches Lebensziel, der verarmt innerlich. Und die Tatsache, dass wir in Gesellschaften leben, die so fokussiert sind auf materielle Wohlstandsmehrung, zeigt ja schon über deutlich, dass das eigentlich religiöse Anliegen keine Rolle spielt.

Wir werden in Zukunft diese Art von materieller Wohlstandsmehrung aus einer Reihe von objektiven Gründen nicht mehr haben. Die Menschen werden – ob sie dies jetzt anstreben oder nicht – zu Neuorientierungen kommen. Diese Neuorientierungen werden sich ganz entscheidend in Richtung auf immaterielle Dinge bewegen. Und ob das jetzt über die Schiene der Religion geht oder des Humanismus, das wage ich nicht zu prognostizieren. Aber ich wage die Prognose, dass wir in 20 Jahren eine deutlich immateriellere Gesellschaft sein werden als heute.

Sie treten dafür ein, dass die gesetzliche Rente gestutzt werden soll; sie soll in Zukunft nur noch eine Basisversorgung sein. Stattdessen soll man zusätzlich privat vorsorgen. Sie warnen vor dem ansonsten bevorstehenden Kollaps der gesetzlichen Rente. Ihr Institut wird aber durch Unternehmensspenden finanziert, u.a. arbeiten Sie für das Deutsche Institut für Altersvorsorge, die der Deutschen Bank gehört. Der Ökonom Albrecht kritisiert diese Verflechtung von Politik, Wissenschaft und Versicherungswirtschaft, und wirft Ihnen vor, gezielt die gesetzliche Rente zu schwächen.

Meinhard Miegel: Also die Vorwürfe von Albrecht Müller sind aus meiner Sicht völlig haltlos. Auf mich oder auf meine Mitarbeiter ist von niemandem jemals Druck ausgeübt worden. Was die Kritiker häufig übersehen, ist, dass ich mich schon in dieser Richtung geäußert habe, als das Institut noch gar nicht existiert hat. Es ist auch nicht richtig, dass mein Anliegen das Stutzen der gesetzlichen Rente ist, sondern ich plädiere – und das jetzt mit zunehmender Zustimmung auch in der Politik, aber insbesondere in der Bevölkerung – für eine steuerfinanzierte Grundsicherung. Eine solche Grundsicherung bedeutet für viele Menschen, insbesondere für Frauen, eine deutliche Verbesserung ihrer Transferversorgung.

Es ist also nicht so, dass jetzt für alle eine Absenkung erfolgen wird, sondern für einen Teil bedeutet es deutliche Verbesserung, für einen anderen Teil - nämlich für die Teile, die hohen Renten oder Pensionen beziehen - bedeutet das eine Verschlechterung. Sie werden weniger haben als heute. Im Hinblick auf lange Übergangszeiten - ich habe immer von 25 Jahren gesprochen - ist es aber möglich, allerdings aber auch erforderlich, dass man neben dieser gesetzlichen Grundsicherung private Vorsorge betreibt. Das ist mein Punkt. Ich möchte eine Verbesserung der wirtschaftlich Schwachen in ihrer Stellung im Alter. Wir haben mittlerweile eine Grundsicherung, auch wenn sie etwas anders aussieht, als ich mir das vorstelle. Und auf der anderen Seite sage ich, dass die wirtschaftlich Starken in der Lage sind, und das sollten auch tun, privat vorzusorgen.

Einige sagen, dass die Krise fast schon überwunden sei, andere prophezeien schon die nächste Krise, gar den finalen Crash. Wie schätzen Sie die Lage ein?

Meinhard Miegel: Die gegenwärtige ist noch nicht vorbei, sie wird auch in zwei oder drei Jahren nicht vorbei sein. Die Börsenkurse können nach oben gehen. Das bedeutet aber nicht, dass die Krise vorüber ist. Es ist auch möglich, dass Kaufzurückhaltung aufgegeben wird, sie hat ja nicht wirklich eingesetzt. Es ist auch möglich, dass die Beschäftigungssituation sich gar nicht dramatisch verschlechtert, obwohl es da Verschlechterungen geben wird.

Aber insgesamt werden wir die Zustände, die wir vor 2008 hatten, sobald nicht wieder erreichen. Das wird eine ziemliche Zeit dauern. Das ist aber aus meiner Sicht nicht das Hauptproblem. Wir befinden uns in einer Umbausituation, und das dauert einige Zeit. Das eigentliche Problem ist, dass das, was wir als Erholung betrachten, ausschließlich darauf zurückzuführen ist, dass die Staaten – nicht nur Deutschland, sondern die gesamte Europäische Union, China, USA – riesige Mittel in den Wirtschaftskreislauf hinein gepumpt haben. Das sieht natürlich jetzt so aus, als sei das ein Aufschwung. Wenn der Tag gekommen ist, an dem die Staaten versuchen, sich zu konsolidieren, dann kommt der nächste Crash, dann platzt diese Blase wieder. Noch schlimmer wäre, wenn nicht zur Konsolidierung kommt, sondern die Staaten das Wirtschaftssystem weiter aufblähen. Dann marschieren wir in eine rasante Inflation hinein, bis hin zum Extrem des Währungsschnittes. Das sehe ich jetzt nicht ganz kurzfristig. Ich habe nie die Auffassung vertreten, dass das jetzt 2010 oder 2011 stattfinden wird. Aber auf mittlere Sicht – ich habe ja wiederholt von dem Jahr 2015 gesprochen – kann ich mir durchaus vorstellen, dass wir dann das nächste Dilemma produziert haben.

Mehr von Eren Güvercin in seinem Blog.