Das große Leser-Rätsel

Printmedien auf der Suche nach dem Kick im Netz

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Spricht noch jemand vom Information-Superhighway, wenn es ums Internet geht? Ein Schulfreund drohte mir jedesmal ernsthaft Prügel an, wenn ich das Wort in den Mund nahm. Er hatte entschieden schon Mitte der achtziger Jahre etwas gegen Computer, vom Internet wollte er auch Ende der Neunziger Jahre überhaupt nichts hören. Jedes Wort, das dort auftauche, sei entweiht, behauptete er, im falschen Leben drin, dem Konsumteufel vor die Füße geworfen.

Einmal nur konnte ich ihn davon überzeugen, doch einen Blick ins Falsche zu werfen, als Rainald Goetz 1998 „Abfall für alle“ ins Netz stellte. Er las es dann aber doch nur auf den ausgedruckten Seiten, immer viele Tage, manchmal Wochen später. Was er zum Platzen der großen Web.1.0 Blase sagte, weiß ich nicht. Wir verloren uns aus den Augen, leider; doch male ich mir gerne aus, wie er jetzt wohl auf Worte wie „Social networking“, „Web.2.0“, oder „Community“ reagieren würde. Irgendwie ist es beruhigend zu wissen, dass es Menschen gibt, die nicht aufspringen müssen, wenn Züge abfahren.

Da mein Schulfreund Redakteur ist, bin ich mir allerdings nicht sicher, ob seine Vorgesetzten auch so denken; mag sein, dass ihn die Langsamkeit in der Provinz noch vor bestimmten Zudringlichkeiten des neuen Informationszeitalters bewahrt, aber wie lange noch? Die Angst geht um in den Verlagen und in den Redaktionsbüros – nicht nur von Printmedien: „Wer wird uns in ein paar Jahren noch lesen?“ heißt die Angsteinjager-Frage. Die Jüngeren holen sich ihre Informationen und ihre Unterhaltung beständig mehr aus dem Netz, so die Umfragen, kostenlos, das Aktuellste, das Hintergründigste und das Spezialisierte, je nach eigenem Gusto, und sie wechseln ihre Quellen gerne und schneller, als es vielen lieb ist.

Es rührt sich einiges in den großen Medien-Häusern, um dem zu begegnen, um die Leser/User auf ihre Seiten zu ziehen: Die Online-Redaktionen werden ausgebaut, um nur die SZ, die WAZ, die FAZ und die TAZ zu nennen, herausragende Blogger-Journalisten wie Lyssa (WAZ live) oder Mercedes Bunz (Tagesspiegel) als Chefredakteurinnen verpflichtet, das Erscheinungsbild aufgefrischt wie kürzlich bei Focus-Online.

Das ist die eine Seite der Veränderungen, sie betrifft das journalistische Angebot; „Aktueller!“ heißt die Hauptvorgabe, bei manchen sogar „Web-First“ nach Vorbild von englischen Zeitungen, die mitten drin sind in einem "Innovation-Race". Und wer weiß, vielleicht macht das Beispiel des Econominst auch bei uns Schule. Das Magazin hat jetzt eine eigene Webseite "Project Red Stripe eingerichtet, wo Leser ihre Ideen für das Blatt beisteuern; manche kennt man freilich schon: "Freibier!" und manche Reaktionen waren ebenfalls irgendwie voraussehbar: „DO YOUR OWN WORK.“

Und genau, auf der Seite jenseits des Flottmachens von Inhalten, liegt die größere Crux, das Neuland mit den schwierigeren Fragestellungen. Sie betreffen das Verhältnis zu den Lesern. Orientierungspunkte bieten hier einmal der mit Aufkommen der Blogs realisierte Paradigmenwechsel, welcher die Gesprächsebene mit Lesern sucht - statt der von journalistischen Höhen herab pontifizierten Ein-Weg-Kommunikation, die den Leser als schweigenden Empfänger großer Durchblicker-Artikel versteht. Der andere Orientierungspunkt kommt aus der Marketing-Abteilung und heißt Leserbindung via Communities. Und zwischen den beiden Innovationspolen – Blogs und Communities – versuchen die Redaktionen, sich jetzt neu auszurichten. Und können gar nicht anders, weil die Züge alle schon abfahren – wenn man dem großen Rauschen im Netz zuhört - und keiner diesen Revolutionszug verpassen mag. Auch wenn sich die grundsätzlich eher mißtrauische Einstellung zum Leser bei manchem von sich selbst überzeugten Redakteur nicht geändert hat.

Nun springt auch die SZ auf den Zug auf, der sie dem neuen Usertyp näher bringen soll. Seit Ende Januar dürfen Leser die Online-Artikel kommentieren, seit vorgestern gibt es eine "Leser-Lounge", das sued-café (angeblich mit dem schöneren Arbeitstitel „sued-pol“). Bislang hatte die SZ mit ihren ersten Vorstößen in neue Gefilde nicht so recht Erfolg. Beim Publikum kamen die Blogs nicht so gut an und die große, gnadenlose, aber exzellente Jury der deutschen Blogszene mochte sie auch nicht. Man hofft, auf die Popularität von jetzt bauen zu können. Erste Besucher der Lounge tröpfeln eher sporadisch ein. Gestern gab es zum Thema „Bier“ drei Einträge. Aber das kann ja noch werden...