Das große Warten

Seit Anfang Mai sind die Arbeitsmärkte in Deutschland und Österreich für die Osteuropäer geöffnet

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Ruhig ist es an der deutsch-polnischen Grenze in Frankfurt/Oder. Keine Spur von den Massen an billigen Arbeitskräften aus Osteuropa, die hierzulande die Löhne drücken und dazu auch noch den Wirtschaftsstandort Deutschland in Verruf bringen sollten, da mit ihnen "die Qualität der Arbeit schlechter wird", wie Klaus Wiesenhügel, Vorsitzender der Gewerkschaft IG Bauen-Agrar-Umwelt, Anfang des Jahres warnte.

"Arbeit als Apothekerin habe ich in Slubice. Ich gehe lediglich nach Frankfurt einkaufen", sagt die 33-jährige Jola Brzezinska. "Bei uns ist der Zucker doppelt so teuer wie in Deutschland, das lohnt sich", erklärt sie weiter und verschwindet gen Westen, zusammen mit denjenigen Deutschen, die sich in Polen mit billigen Zigaretten und Alkoholika eindecken. Es ist der ganz normale Alltag auf der "Brücke der Freundschaft".

Dabei könnten die osteuropäischen Arbeitnehmer jetzt problemlos nach Deutschland kommen. Sieben Jahre nach dem EU-Beitritt Polens, der Tschechischen Republik, der Slowakei, Ungarns, Sloweniens, Estlands, Lettlands und Litauens sind seit dem 1. Mai auch die Arbeitsmärkte in Deutschland und Österreich für die Osteuropäer geöffnet.

Vor deren Beitritt in die EU setzte der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder noch eine Sperrfrist für osteuropäische Arbeitsnehmer durch, gemeinsam mit Österreich und den Niederlanden, die bereits 2007 ihren Arbeitsmarkt öffneten. Um, wie begründet wurde, den einheimischen Arbeitsmarkt vor der billigen Konkurrenz aus Osteuropa zu schützen. Eine, wie es auf den ersten Blick scheint, gute Entscheidung. Denn mit dem Beitritt Polens in die Europäische Union setzte ein regelrechter Exodus (siehe Der große Aderlass) polnischer Arbeitnehmer ein, der sowohl die europäischen Staaten als auch die polnische Regierung überraschte.

Nach Angaben des polnischen Statistikamtes haben zwischen 2004 und 2009 fast 2 Millionen polnische Staatsbürger ihr Heimatland verlassen, um im Ausland ihr berufliches Glück zu finden. Die meisten von ihnen, 2009 waren es fast 700.000, zog es nach Irland und Großbritannien.

Wirtschaftskrise: wenig Effekte auf Rückkehrquote

Und vielleicht wären es noch mehr Polen gewesen, die ihre Heimat verlassen hätten, wenn die neuen Zentren der polnischen Migration nicht von der Wirtschaftskrise getroffen worden wären. Denn auch wenn es kein dramatischer Rückgang war, hat er sich in den polnischen Statistiken bemerkbar gemacht. Während 2007, in dem Jahr als auch die Niederlande ihren Arbeitsmarkt öffneten, fast 2.3 Millionen Polen im Ausland lebten, waren es 2009 knapp 400.000 weniger. Die von der Tusk-Regierung erwartete, besser gesagt befürchtete, Massenrückkehr war es nicht.

Die Gründe dafür sind vielfältig. Viele Migranten haben ihre Familien nachgeholt und haben sich in ihrer Heimat dauerhaft niedergelassen. Andere wiederum sind weiter gezogen und haben in anderen europäischen Ländern Arbeit gefunden und dies nicht nur in den Staaten der EU. Ebenso wie für die Deutschen, entwickelte sich Norwegen für die Polen zu einem beliebten Einwanderungsland. Mit 45.000 Personen stellen sie mittlerweile sogar die größte Einwanderungsgruppe in dem skandinavischen Land dar.

Der wichtigste Grund, weshalb die meisten Polen trotz der Wirtschaftskrise nicht in ihre Heimat zurückgekehrt sind, ist jedoch die wirtschaftliche Entwicklung an der Weichsel. Als einziges Land der EU konnte Polen während der Krise zwar ein Wirtschaftswachstum verbuchen, doch auf dem polnischen Arbeitsmarkt hat sich dies nicht bemerkbar gemacht. Sogar im Gegenteil.

Polnischer Arbeitsmarkt: wenig Chancen, niedrige Gehälter

Während bis zum Oktober 2008 die Arbeitslosenquote auf 8.1 Prozent fiel und somit so niedrig war wie seit Juli 1991 nicht mehr, was ein Ergebnis der Auswanderung und dem gleichzeitigen Wirtschaftswachstum war, stieg sie in den letzten zweieinhalb Jahren wieder in den zweistelligen Bereich. Im März betrug die offizielle Arbeitslosenquote 13.1 Prozent.

Aufgrund des Konsumrückgangs im 1. Quartal des Jahres, der verursacht wurde durch angekündigte Steuererhöhungen, gehen Analysten davon aus, dass sich in absehbarer Zeit die Situation auf dem polnischen Arbeitsmarkt auch nicht bessern wird.

Ein weiterer, nicht unerheblicher Grund sind die polnischen Gehälter. Mit durchschnittlich ca. 800 Euro brutto ist es nicht unbedingt ein Einkommen, mit dem man ein sorgenfreies Leben führen kann. Vor allem wenn man bedenkt, dass manche Grundnahrungsmittel östlich der Oder teurer sind als hierzulande. Zusammen mit den konservativen Gesellschaftswerten, die viele junge Polen abschrecken, Faktoren, die nicht für eine Rückkehr sprechen.

Verdienstmöglichkeiten in Deutschland

Doch nicht nur gegen eine Rückkehr sprechen diese Faktoren, sondern auch für eine Auswanderung. Deutlich wurde es seit dem Herbst vergangenen Jahres, als die Öffnung des deutschen Arbeitmarktes in Polen zu einem immer wichtigeren Thema wurde. Alle Medien berichteten ausgiebig über die Verdienstmöglichkeiten in Deutschland und den Mangel deutscher Unternehmen an Fachkräften.

Sogar das Märchen von einem Begrüßungsgeld, mit dem Wirtschaftsminister Rainer Brüderle angeblich osteuropäische Fachkräfte nach Deutschland locken wollte, verbreiteten die polnischen Zeitungen im vergangenen Herbst. Kurz gesagt: Wer in den letzten Monaten die polnischen Medien verfolgt hat, hätte teilweise glauben können, in Deutschland herrsche Vollbeschäftigung.

Wie viele Polen werden die Arbeitnehmerfreizügigkeit nutzen?

Auf beiden Seiten der Grenze stellt man sich nur bis heute die große Frage, wie viele Polen überhaupt die Arbeitnehmerfreizügigkeit nutzen werden. Das Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung geht höchstens von 137.000 Arbeitsmigranten (PDF) aus, die jährlich aus ganz Osteuropa nach Deutschland einwandern werden. Auch der Verband der polnischen Privatunternehmer "Lewiatan" glaubt an keinen Exodus polnischer Arbeitnehmer und schätzt, dass rund 300.000 Menschen in den nächsten drei Jahren sich im Westen einen Job suchen werden.

Das Kölner Institut der deutschen Wirtschaft wiederum rechnet mit rund 1.2 Millionen Einwanderern aus ganz Osteuropa, dies jedoch bis 2020. Anderer Meinung ist jedoch die Ökonomin Krystyna Iglicka, Polens beste Kennerin der jüngsten Arbeitsmigration:

Schon 2004 glaubten wir nicht, dass fast 2 Millionen Polen ihre Heimat verlassen werden. Deshalb glaube ich, dass zwischen dem 1. Mai 2011 und dem 1. Dezember 2012 eine Million Polen ihr berufliches Glück in Deutschland versuchen könnten.

Krystyna Iglicka, siehe Polen ante portas

Einigkeit herrscht lediglich über das Hauptziel der polnischen Arbeitnehmer. Da Österreich und die Schweiz - die Eidgenossen öffneten am 1. Mai ebenfalls ihren Arbeitsmarkt für die Osteuropäer -, schon in der Vergangenheit für die Polen kaum interessant waren, geht man fest davon aus, dass die meisten nach Deutschland gehen werden. Dahin also, wo die Polen schon in den letzten Jahrzehnten ein soziales Netzwerk aufgebaut haben.

Deutschland nach Großbritannien zweitwichtigstes Ziel der jüngsten polnischen Arbeitsmigration

In den 1980er und frühen 1990er Jahren waren es Aussiedler, die nach Deutschland kamen, sich schnell assimilierten und dennoch die Kultur ihrer Heimat nicht ganz aufgegeben haben, und ab den 1990er Jahren nutzten vor allem Angehörige der deutschen Minderheit in Polen den deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrag (PDF), der die doppelte Staatsbürgerschaft ermöglicht, um in Deutschland zu arbeiten.

Und selbst zwischen 2004 und 2010 haben sich polnische Staatsbürger in Deutschland niedergelassen. Nach Angaben des polnischen Statistikamtes lebten und arbeiteten 2009 415.000 Polen westlich der Oder und machten Deutschland nach Großbritannien zum zweitwichtigsten Ziel der jüngsten polnischen Arbeitsmigration.

Möglich wurde es durch das 2004 in Kraft getretene Gesetz über Beschränkungen für die neuen EU-Bürger auf dem deutschen Arbeitsmarkt, das ihnen den Zugang zu sozialversicherungspflichtigen Jobs unmöglich machte, dafür aber die Möglichkeit bot, sich hier selbständig zu machen. Die Dunkelziffer der tatsächlich in Deutschland arbeitenden Polen dürfte jedoch höher liegen. Denn viele Polen blieben in ihrer Heimat gemeldet, arbeiteten aber hier illegal als Altenpfleger, Saisonarbeiter oder Putzkräfte.

Ein weiterer, nicht unerheblicher Grund ist natürlich die geographische Nähe. Nach Deutschland zu reisen ist jedenfalls leichter als in andere Staaten der EU, weshalb viele Experten davon ausgehen, dass vor allem die Bewohner der grenznahen Gebiete, und dies nicht nur in Polen sondern auch in Tschechien, sich auf dem deutschen Arbeitsmarkt umschauen werden.

Zunahme der Anfragen aus Deutschland bis zu 200 Prozent

Die Frage ist nur, ob der große Bedarf der Deutschen an Zuwanderern gedeckt werden kann. Nach Meinung mehrerer Wirtschaftsinstitute ist dieser jedenfalls enorm und notwendig, um das Wirtschaftswachstum fortzusetzen. Bestätigt werden diese Angaben durch polnische Arbeitsagenturen, die sich rühmen, dass die Anfragen deutscher Arbeitgeber in den letzten Wochen um bis zu 200 Prozent zunahmen. Vor allem Pflegekräfte und Handwerker jeder Art seien momentan besonders gefragt.

Gleichzeitig geben deutsche Migrationsexperten zu bedenken, dass die besonders gut ausgebildeten und flexiblen osteuropäischen Arbeitnehmer bereits in die EU-Länder emigriert sind, die schon 2004 den Arbeitnehmern aus den neuen EU-Staaten keine Einschränkungen auferlegt haben. Einwanderung ist aber nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen notwendig.

Auch der demographische Wandel macht eine Einwanderung unausweichlich und macht aus der Arbeitnehmerfreizügigkeit einen knallharten Wettbewerb um die besten Köpfe - und dies auf Kosten jener Staaten, die innerhalb der Europäischen Union wirtschaftlich im Nachteil sind.

Offensive Rekrutierungsmaßnahmen

Wie offensiv Deutschland vorgeht, zeigte sich in Polen schon vor dem 1. Mai. "Die Deutschen locken polnische Jugendliche", alarmierte als eine der ersten polnischen Zeitungen Dziennik Gazeta Prawna, an der ausgerechnet der Axel Springer Verlag beteiligt ist, im Dezember vergangenen Jahres und beschrieb, wie deutsche Unternehmen und Regionen polnischen Gymnasiasten eine Ausbildung in Deutschland schmackhaft machen.

Nachdem sich noch andere polnische Medien des Themas annahmen, brach in Polen eine Diskussion darüber aus, ob diese Rekrutierungsmethoden der Deutschen überhaupt noch moralisch sind. Nicht nur, dass Deutschland von jungen Menschen profitieren möchte, deren Ausbildung aus polnischen Steuergeldern finanziert werde, sondern auch die Tatsache, dass die Deutschen es schon auf Schüler abgesehen habe, kritisierte die polnische Öffentlichkeit.

Doch sehr die Kritik auch gerechtfertigt und verständlich ist. Die Machtlosigkeit war aus ihr auch herauszuhören. Polen ist momentan weder im Stande, wirtschaftlich mit den Angeboten aus Deutschland mithalten zu können, noch kann das Land allen, auch gut ausgebildeten jungen Menschen eine Perspektive bieten.

Arbeitgeberverbände und Bischöfe fordern Polens Jugend zum Bleiben auf

Jeder vierte polnische Arbeitslose ist unter 25 Jahren, und dies trotz eines abgeschlossenen Studiums. Dass dieses Dilemma das Ergebnis einer verfehlten Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik ist, darüber sind sich Experten einig. Wie man dieses Problem beheben kann, darüber wird gestritten.

Dabei ist gerade auch die Jugend für die Zukunft des Landes notwendig. Wenn Polen sein Wirtschaftswachstum beibehalten will, muss es die gut ausgebildeten Fachkräfte im Lande halten. Und so wie Deutschland, erlebt auch Polen einen demographischen Umbruch. Die Menschen zwischen Oder und Bug werden immer älter.

Die Geburtenraten gehören zu den niedrigsten in ganz Europa und schon heute kommen im polnischen Rentensystem, das vor einigen Wochen mit sehr viel Kritik der Opposition und von Fachleuten reformiert wurde, auf einen Erwerbstätigen eineinhalb Rentner. Sollten mit dem 1. Mai für Polen alle negativen Prognosen bezüglich der Migration eintreffen, müsste in wenigen Generationen jeder Erwerbstätige für vier Rentner aufkommen.

Um dieses Horrorszenario zu verhindern, versuchten in den letzen Wochen nicht nur Arbeitgeberverbände mit Appellen Erwerbstätige zum Bleiben zu bewegen, sondern auch einzelne Bischöfe. Dass aber irgendwelche Aufrufe nicht ausreichen werden, ist der polnischen Wirtschaft und Politik bewusst.

Selber Migranten ins Land holen?

Deswegen ist es durchaus möglich, dass in den nächsten Monaten die Arbeitgeber die Löhne erhöhen werden, um die Beschäftigten zu halten. Doch auch so wird die Auswanderung nicht gestoppt werden können, weshalb Polen nur eine Möglichkeit bleibt: Selber Migranten ins Land zu holen, allein schon deshalb, um den demographischen Wandel auszugleichen.

Erste Schritte in diese Richtung wurden bereits unternommen. So studieren an der Universität Breslau bereits heute 500 junge Menschen aus Weißrussland, der Ukraine und anderen osteuropäischen Staaten, mit dem Ziel, sie auf den polnischen Arbeitsmarkt vorzubereiten. In dieser Region suchten polnische Arbeitgeber in den vergangenen Jahren auch schon vermehrt nach Arbeitskräften, was dazu geführt hat, dass auf manchen polnischen Baustellen schon heute öfters Ukrainisch als Polnisch gesprochen wird. Da es aber selbst östlich des Bug für Polen nicht leicht ist, Arbeitskräfte zu finden, schaut man schon heute verstärkt nach China und Indien.

Doch bis Polen seinen Arbeitskräftebedarf in diesen Ländern abdecken kann, wird es noch dauern. Ebenso, bis Deutschland von der Arbeitsmarktöffnung profitiert. Der Ansturm der Osteuropäer hält sich in den ersten Tagen der Arbeitnehmerfreizügigkeit jedenfalls in Grenzen, was aber eher den mangelnden Deutschkenntnissen der osteuropäischen Erwerbstätigen geschuldet ist, als dem Unwillen zur Ausreise.

In Polen beabsichtigen 23 Prozent der Bevölkerung in Zukunft irgendwann im Ausland zu arbeiten. In Estland sind es gar 38 Prozent. Und Deutschland hofft auf diese Ausreisewilligen. Anfang vergangener Woche eröffnete die Bundesagentur für Arbeit in Stettin ihre erste Niederlassung östlich der Oder.