Das hohle Münchner Gefühl

Sich verkaufen an der Isar: Alexander Riedel über das Leben unter Druck, Ausschlußmechanismen, Verweigerung, soziale Rollen - ungekannte Seiten der bayerischen Landeshauptstadt

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Zum Beispiel München: Alexander Riedel macht Filme über das, was in den Großstädten gerade passiert - und was das für die Menschen für Folgen hat. Man muss nach München nur einmal mit dem Zug fahren, und sich an den letzten zehn Minuten vor dem Bahnhof die Häuser links und rechts des Gleises anschauen. Jedes architektonische Verbrechen scheint da erlaubt, Hauptsache, es ist nicht höher als die Frauenkirche: Ein schimmelgrünes Bürogebäude, ein weißes Etwas mit Schießscharten wo normale Häuser Fenster haben, ein rosaroter 90-er-Jahre-Betonklotz, der einen ganzen Häuserblock umfasst und sicher einer Brauerei gehört. Das architektonische Sein spiegelt das Bewusstsein der Stadt.

Der Münchner Dokumentarfilmer Alexander Riedel erzählt in seinen Filmen seine nach außen glamouröse Heimatstadt von ihren Rändern und dem Alltag normaler Menschen her: "Nachtschicht" handelte von den übrig gebliebenen Arbeitern in der Druckerei der Süddeutschen Zeitung - bis zum letzten Arbeitstag vor der totalen Automatisierung. "Draußen bleiben", der derzeit im Kino läuft, erzählt von der Freundschaft zweier Mädchen in einem Flüchtlingsheim im Münchner Norden, und sein neues, in Arbeit befindliches Projekt handelt von der desaströsen Mietsituation und der Verdrängung der Bürger aus den Innenstädten.

Alle Bilder: Zorro

Gerade läuft ein Film von Ihnen im Kino: "Draußen bleiben". Worum geht es da?

Alexander Riedel: Es geht um 16-19jährige Flüchtlingskinder in München, zwei Freundinnen und ihre Clique. Die kommen aus verschiedensten ethnischen und sozialen Zusammenhängen, und haben nur ihr Alter gemeinsam. Die Stadt ist die Welt, in der sie leben. Die Stadt ist für jeden gleichermaßen zugreifbar.

Wie eine Benutzeroberfläche…

Alexander Riedel: Ja, das kann man sagen. Sie kostet ja nichts. Hier wird die ganze Stadt ausgenutzt. Das hat natürlich auch etwas damit zu tun, dass ihre Wohnorte draußen liegen, vor der Stadt. Die sind nicht sympathisch, die meiden diese Jugendlichen so gut es geht. Die sind alle eng, zu dunkel und unangenehm. Sie wollen da raus, draußen sein, und dieses "Draußen" ist dann die Stadt. Der U-Bahn-Untergrund am Hauptbahnhof, der ist viel cooler als ihr Zuhause.

Die Jugendlichen, die Sie zeigen, sind Ausgeschlossene. Sie leben in prekären Verhältnissen. Sie haben wenig Geld. Sie leben an den Rand der Stadt gedrängt…

Alexander Riedel: Es gibt keine Verortung in München. Die Jugendlichen leben eben nicht alle irgendwo im Norden am Stadtrand, sondern sie sind den ganzen Tag in der U-Bahn in allen Stadtteilen unterwegs und zuhause. Ihre Schule liegt am Hauptbahnhof, die Freundschaften gehen über alle Stadtteile hinweg. Sie bewegen sich in so einer Art Luftleere. München schafft keine Strukturen für diese Jugendlichen. Die Stadt selbst wird zu einer Behelfsstruktur, ein ortloser Ort. Die U-Bahn ist ihr Zuhause. Die haben alle natürlich eine Monatskarte, die ganz billig ist, weil sie noch Schüler oder Auszubildende sind. Das Phänomen ist: Die U-Bahn ist der Ort.

In diesen neuen Lebensformen, die ortlos sind, zeigt sich auch eine soziale Unfähigkeit unserer Gesellschaft. Der Film ist auch eine Kritik an der Verweigerung der Erwachsenenwelt und damit mittelbar der Gesellschaft, diese Menschen miteinzubinden.

Wie sieht überhaupt die Zukunft dieser ausgegrenzten und ausgeschlossenen Jugendlichen in München aus? Öffentliche Orte werden privatisiert, sie haben keinen Ort, an den sie gehen können, man hält sie ununterbrochen in Bewegung…

Alexander Riedel: …solange sie eine U-Bahn-Karte haben, haben sie zumindest dort das Recht zum Aufenthalt. Es gab ja früher auch diese "Bahnsteigkarten", die sind wieder abgeschafft worden. Wenn Teilstrecken privatisiert werden, oder Sicherheitsdienste Polizeifunktionen übernehmen, wenn U-Bahnhöfe und Mittelgeschosse privatisiert werden, dann ist das vorbei. Man sieht in Frankreich, wohin diese Verdrängung in die Randbezirke führt.

Was unterscheidet denn München von anderen Städten?

Alexander Riedel: München ist der Leistung und dem materiellen Erfolg verschrieben. Das ist München. In München herrscht ein purer Kapitalismus. Der springt einem total ins Gesicht. Damit einher geht dieser unglaubliche Wahnsinn der Immobilien- und Mietpreise, das Diktat dieses Miet- und Immobilienmarktes. Das ist einzigartig in Deutschland.

Die Verdrängung funktioniert über die Schraube Miete. Und sie ist ganz stark. München wird gerade richtig stadtteilmäßig durchsaniert und immer teurer gemacht. Manche Wohngebiete kann sich ja keine Sau leisten. Ganze Stadtgebiete sind mit dem Reichtum der IT-Branche und der New Economy gefüllt. Das sind die einzigen, die sich das leisten können. Dass ein Großteil der Bürger in der Stadt gar nicht mehr wohnen kann, das ist ein münchenspezifisches Phänomen.

Das finde ich spannend. Dieses Phänomen und seine Auswirkungen zu untersuchen sind das Thema meines nächsten Films. Denn das ist anders, als in Berlin und in anderen Großstädten. Sicher gibt es überall diese Inseln des Luxus und Wohlstands. Aber in München ist es keine Insel, München ist die Insel.

Wenn man aus anderen Städten auf München guckt, hat man den Eindruck, dass in München Geld der Maßstab für alles ist. Dass die Stadt sehr träge, sehr hierarchisch und geschichtet ist, und dabei ungemein saturiert: Dieses in-sich-ruhen im eigenen Saft. Dieses Dampfende, Schwitzende, letztendlich Grundbequeme, das FC-Bayern-hafte, CSU-hafte. Siemens ist auch nur an einem Ort wie diesem möglich. Wenn man Ausländern erklären soll, was Bayern ist, sagt man immer: Das "Texas of Germany". Dann verstehen die ungefähr, was gemeint ist.

Alexander Riedel: Da hab ich nie was mit am Hut gehabt, weder mit dem Fußballclub noch mit der Partei. Ich bin eher ein Widerstandsmünchner.

Die werden hier aber schnell erschlagen…

Alexander Riedel: Es gab hier die Räterepublik…

…Die haben sie erschossen.

Alexander Riedel: Ich bin Münchner. Ich bin hier aufgewachsen. Ich empfinde diese Stadt auch als einen ganz freien, großartigen Ort, der von der Kultur her sehr vielfältig ist. Mir geht es um diesen Wirtschaftsdruck. Der ist dazugekommen. Zu diesem Ort München ist diese neue IT-Branche hinzugekommen. Lass es die letzten zehn, 15 Jahre gewesen sein. Die Stadt ist aber sehr viel älter und bietet sehr viel mehr, als das. Die Folgen des modernen Wirtschaftsstandorts München sind neu. Um die geht es mir. Die sind zu hinterfragen und zu kritisieren.

Hat das denn nichts miteinander zu tun? Es hat doch schon Thomas Mann Ähnliches für den Münchner Geist seiner Zeit bemerkt. Und in seinen Roman "Erfolg" beschreibt Lion Feuchtwanger genau diese Phänomene eines saturierten, feisten Münchens, das in schierem Materialismus badet und sich selbst genügt.

Und wo ist das leichte München der 60er und der Olympiazeit? Die "Weltstadt mit Herz"? Ist nicht München seitdem immer dümmer und reaktionärer und träger geworden? Die Geschichten, die Helmut Dietl in seinen frühen Filmen erzählt hat, konnte er schon zehn Jahre später nicht mehr erzählen. Sogar Dietl dreht heute in Berlin. Weil München die Phantasie nicht mehr entzündet. Das Bier schmeckt besser, ok. Aber wo ist die Münchner Freiheit hin?

Alexander Riedel: Dann nehm' ich das mit der Freiheit wieder zurück. München hat natürlich in Bezug auf andere deutsche Großstädte den Nachteil, dass es die Landeshauptstadt Bayerns ist. Und dieser besondere bayerische Weg, im Umgang mit Demonstrationsfreiheit ist genau dieses in-sich-Schwimmende, dieses im-eigenen-Saft-Schwimmende. Das nervt ungemein. Aber es ist ein viel mehr bayerisches Phänomen, als ein münchnerisches. In Berlin spür' ich auch eine unglaubliche Freiheit und Großzügigkeit. Da ist alles möglich, was in München nicht möglich ist. Ganz klar! Genau diesem Phänomen möchte ich auf den Grund gehen. Aber ich möchte mich mit diesem Ort auseinander setzen.

Ihr geplantes Projekt über den Münchner Miet-Wahnsinn. Können Sie das noch genauer beschreiben?

Alexander Riedel: Es wird ein episodenhaft erzählter München-Film. Es geht natürlich nicht allein um Mietpreise und Stadtplanung, sondern um die Generation der heute Vierzigjährigen, die man beschreiben kann als Generation Praktikum im Quadrat. Ihr Leben ist eine unglaubliche Verlängerung dieser Generation Praktikum. Es geht also um den Zusammenhang zwischen Arbeitsmarkt und Immobilienmarkt. Es wird um Menschen gehen, die eine Art Doppelleben führen. Die andauernd in neue soziale Rollen schlüpfen, sehr schnell die Rollen tauschen. Die sich immer neu verkaufen-müssen, die sich auch immer neu verkaufen-wollen. Das ist in keiner Weise ein Film über irgendwelche Opfer. Die Menschen werden eingezwängt und agieren innerhalb dieses Systems als Täter und als Opfer.

In der Stadt München zeigt sich das in der Auffächerung und Parzellierung der Viertel. Der Ort wo das Flüchtlingsheim steht, das man in "Draußen bleiben" sieht, ist ein sehr spezielles Stück Stadt, ein Streifen zwischen Stadt und schon Vorort. Ich wüsste nicht, wie ich es nennen soll. Das ist für mich ein sehr interessantes Gebiet: Schon Drumherum, aber es gehört noch dazu. Es sind Unorte. Städtisch, aber auch nicht. Es hat was Kühles, was Steriles, was Künstliches, es ist da so hingesetzt. Ein Spannungsfeld mit U-Bahn-Anschluß. Und das Flüchtlingsheim liegt praktisch bei der Waffenfabrik von Krauss-Maffei. Im Süden ist dann die Stadt voll da.

In diesen Gegenden stößt Reich auf Arm, Stadt auf Brachland. Ein unglaubliches Spannungsfeld. Die sanierten Viertel bestehen zu größeren Teilen aus diesen neuen Luxuswohnanlagen, die sich abschotten wollen. Teile des Münchner Nordens kapseln sich total ab. Über zwei drei Straßenzüge haben die Leute nichts mehr miteinander zu tun. Du hast hier eine U-Bahn-Station, die wird wahrscheinlich von allen gemeinsam benutzt. Aber der Rest splittert sich auf: Jeder hat sein eigenes Einkaufscenter, seine eigene kleine Parkanlage. Mit dem Rest will niemand etwas zu tun haben. Was noch fehlt ist ein Zaun.

Sie sprechen von "Rolle" gesprochen. Das Interessante an dieser Formulierung - die ja von Soziologen stammt und bis heute benutzt wird - ist die Theatermetaphorik. Man ist Schauspieler seiner selbst. Die Welt und das Leben sind ein Theater, in der jeder Rollen spielt?

Alexander Riedel: Ja, auf alle Fälle. Das ist auch gerade ein Phänomen bei dieser Jugend in "Draußen bleiben": Dass sie von klein auf ihre Rollen spielen, und spüren, dass sie auch nur so überleben, dass es auch nur so funktioniert. Sie wechseln ihre sozialen Rollen ständig. Sie haben die Rolle auf dem Amt beim Kreisverwaltungsreferat. Sie haben ihre Rolle vor den deutschen Lehrern, sie haben die Rolle als brutal gesagt "blöde Schlampen", die in der U-Bahn herumhängen und beschimpft werden, sie haben die Rolle als Störenfriede. Und diese Rollen wissen sie auch sehr gut einzusetzen und damit zu spielen. Diese Vielfalt dieser Rollen und das schnelle Wechseln, Zappen fast zwischen diesen Rollen ist auch ein Phänomen dieser Jugend.

Und am Arbeitsmarkt passiert das Gleiche?

Alexander Riedel: Das eine geht ins andere über. Auch am Arbeitsmarkt muss man Rollen spielen. Immer wieder. Da ist auch ein Druck, der sich erhöht hat, und der sich durch alle Generationen und durch alle gesellschaftlichen Schichten zieht. Eine meiner Figuren ist ein Wohnungsverkäufer, der in der Stadt die frischsanierten Wohnungen verkauft. Aber er hat keinen Platz wo er wohnen soll, weil die Wohnungen der Firma viel zu teuer sind. Er muss in Musterwohnungen leben. Dieses Phänomen unterscheidet München von Berlin ganz stark: Es ist wirklich dieser Leistungsdruck. Dass diese Stadt wirklich diesem Leistungsdruck verschrieben ist. Das ist was Einzigartiges.

Verschiedene soziale Rollen zu spielen, bedeutet ja auch, sich zu verkaufen. Das Wort verweist unmittelbar auf den Kapitalismus: Man macht sich zur Ware. Man macht sich zur Nutte seiner selbst, bietet sich an auf einem Strich, der nicht der sexuelle Strich ist, aber ein Arbeitsstrich. Aber man verkauft sich, nicht nur ein Teil seiner selbst oder seine Arbeitskraft, sondern das ganze Selbst. Da fragt man sich natürlich: Wird hier nicht eigentlich zur Alltagssituation das, was unter anderen Umständen als Krankheitsbild bezeichnet wird: Die multiple Persönlichkeit.

Diese multiple Persönlichkeit ist eigentlich nur eine geringfügige Radikalisierung des ganz normalen Alltags. Wo bleibt da das Ich? Ist das Ich denn mehr als nur die Schnittstelle dieser ganzen Rollen. Oder ist das Ich da, wo man im Bett liegt und schläft und träumt und die Rollen fallen lässt? Was ist das Ich? Haben Sie Antworten auf solche Fragen…

Alexander Riedel: Ich tendiere dazu, zu meinen, dass es ein bewusstes Ich gibt, als Kombination aus den Rollen. Das für mich Spannendere ist die Frage dahinter, ob das gewählt ist, oder erzwungen. Das interessiert mich jetzt. Ich versuche gerade zu recherchieren, wie verschiedene Rollen angenommen wurden, zum Teil gezwungenermaßen. Mich hat immer das Thema der Verweigerung interessiert.

Verweigerung ist natürlich auch immer Reflexion. Eine starke Auseinandersetzung und ein Widerstand gegen das Konfrontierte. Im Fall von "Draußen bleiben" ging es mir um das Revoltieren der Jugend gegen die Erwachsenenwelt. Und zwar in jeder Form. Hier haben wir einen Fall, der eher ein klassischer Schulverweigerungsfall ist. Aber er zeigt auch umgekehrt die gesellschaftliche Verweigerung dieser Jugend gegenüber, die diese Jugendlichen nicht haben will.

Was Sie für die Jugendlichen beschreiben, hat ja auch etwas von Selbstaufgabe der Gesellschaft, von Verschwinden der Gesellschaft. Wenn man Gesellschaft institutionell begreift, so, dass sie sich um alle ihre Menschen kümmert, für alle Orte schafft…

Alexander Riedel: … das findet nicht mehr statt. Das fehlt total. Die Verantwortung der Gesellschaft ist in Auflösung begriffen. Das hat ganz viel mit Privatisierung zu tun. Gesellschaftliche Institutionen werden durch private Einrichtungen ersetzt. Großunternehmer schaffen riesige neue Orte. Sie schaffen Megastores, Shopping-Malls, Einkaufen und Konsumieren geht mit Kulturkonsum Hand in Hand. Das lässt mich gruseln, da habe ich eine ganz tragische Zukunftssicht.

Es ist auch ein Grund, Filme zu machen, dagegen Widerstand zu leisten. Ich denke auf alle Fälle, dass man diese Debatten um Freiheit und Verweigerung im Kino finden muss.