"Das ist militärisches Sperrgebiet"

Spanier, Muslims, Immigranten: Das Leben in der europäischen Grenzstadt Ceuta

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Mit Maschinenpistolen im Anschlag patrouilliert die „Legion“ die rund 10-Kilometer lange Grenze von Ceuta. Auch am Übergang ins marokkanische Bel Younech, wo in den Wäldern die Camps der Immigranten lagen, stehen die Soldaten der Elitetruppe des spanischen Militärs. Auf den ersten Blick wirken sie belustigend, mit ihren komischen Hüten auf dem Kopf, die an Crocodile Dundee und den australischen Busch erinnern. Doch die Soldaten verstehen wenig Spaß. „Verschwinden Sie, das ist militärisches Sperrgebiet“, ruft man uns zu. „Fotografieren verboten!“

Wir fahren den Hügel hoch, von dem man den Grenzübergang überblicken und dem drei Meter hohen Stacheldrahtzaun etwas näher kommen kann. Von oben hat man die ganze Bucht im Auge, die fast malerisch wirkt, gäbe es da nicht das Militär und den Eisenzaun im Wasser. Gut hundert Meter reicht er ins Meer hinein und soll Flüchtlinge davon abhalten, schwimmend das Terrain der spanische Enklave Ceuta zu erreichen.

Auf dem Hügel dauert es keine fünf Minuten bis die Guardia Civil mit Blaulicht angerast kommt. Fahrzeugpapiere, Ausweis, die übliche Polizeikontrolle mit den üblichen Fragen. Auch Wochen nach dem Sturm des Zauns, bei dem 3 Immigranten getötet und hunderte von ihnen verletzt wurden, ist die Lage an der Grenze nach wie vor gespannt.

„Haben wir etwas verbrochen?“, fragt Javier, mit dem ich unterwegs bin, äußerst gereizt und zeigt nur unwillig den freundlichen, aber sehr bestimmten Beamten seine Papiere. Javier ist seit zwei Jahren Lehrer an einer Grundschule in Ceuta und kann manchmal das konservative Ambiente der Stadt kaum noch ertragen. Gerade in Sachen Immigranten.

Angst und Fremdenfeindlichkeit

In den 31 Restaurants, 54 Cafes und 20 Pubs von Ceuta sind die „Neger“ immer wieder Gesprächsthema, bei dem niemand ein Blatt vor dem Mund nimmt. „Selbst Beamte der Stadtverwaltung“, erzählt Javier, der ursprünglich aus Madrid stammt, „sprechen ganz offen von den Negern, die nicht ins Stadtbild passen und dass die Schwarzen keine Menschen sind.“ Die Leute hätten Angst, von einer Welle aus Afrika überrollt zu werden. Für die meisten Spanier in Ceuta seien Immigranten und Marokkaner Menschen zweiter Klasse, mit denen man besser nichts zu tun hat. „Klar, Fremdenfeindlichkeit, Xenophobie muss man das schon nennen“, sagt Javier nachdenklich. Eine Meinung, mit der man in Ceuta Schwierigkeiten bekommen kann.

Maria Antonia Granados, die Leiterin des ärztlichen Notdienstes, die den Erste-Hilfe-Einsatz für die beim Grenzsturm verletzten Flüchtlinge organisiert hatte, traf ein ganz ähnliches Urteil über Ceuta und ihre Bewohner. In einem Interview mit einem kleinen Radiosender vom Festland sprach sie von einer „intoleranten Stadt". Ihr würde "schlecht werden“, wenn sie die Leute in den Bars so abwertend über die Schwarzen reden höre. „Verschwinde aus Ceuta“ betitelte daraufhin die Chefredakteurin von „El Faro“ höchstpersönlich einen ganzseitigen Artikel. Der Lokalzeitung war ein Band des Interviews anonym zugespielt worden. In den folgenden Tagen bestätigten zahlreiche Leserbriefe die Meinung der Chefredakteurin, dass die Netzbeschmutzerin, die die Stadt und ihre Bewohner „beleidigt“ hatte, „keine Minute länger“ bleiben dürfe. Maria Antonia Granados wurde noch am selben Tag des Artikels fristlos beurlaubt. Vom Gouverneur von Ceuta, dem Vertreter der sozialistischen Regierung in Madrid, was vielleicht der eigentliche Skandal ist.

Mein Begleiter Javier war einer der Wenigen, der mit einem Leserbrief öffentlich für die die Leiterin des ärztlichen Notdienstes Stellung bezog. Dafür musste er sich einige Anfeindungen von Kollegen in der Schule anhören. „Aber, das war es auch schon. Mich als Lehrer und Beamter können sie nicht so einfach kündigen“, meint er schmunzelnd:

Das ist alles eine einzige Heuchelei. Stellen Sie sich vor, fast jede spanische Familie in Ceuta hält sich für billiges Geld eine marokkanische Haushaltshilfe. Illegale Arbeiter aus Marokko werden in Firmen und Geschäften beschäftigt. Die Stadt wird vom Festland subventioniert, lebt vom Schmuggel nach Marokko und die Menschen bekommen ein höheres Gehalt als der Rest von Spanien.

Frühmorgens, Tag für Tag, kann man an der Grenze die langen Schlangen der Mädchen und Frauen beobachten, die nach Ceuta zum Arbeiten gehen. Die Haushaltshilfen, die 200 oder 300 Euro im Monat bekommen, stammen aus der nahe gelegenen marokkanischen Stadt Tetouan, deren Bewohner für einen Tagesbesuch keine Visa brauchen. Ein ähnliches Abkommen gibt es mit Nador, der Nachbarstadt von Melilla.

Schwunghafter Handel und Schmuggel

Jedes Jahr erhält Ceuta 1.134.214 Tonnen an Konsumgütern vom spanischen Festland. 80% davon landet in Marokko, dank der hohen Gewinnspannen beim Schmuggel, der von den marokkanischen Behörden toleriert wird. 12 % des gesamten Wohlstands der Stadt beruht auf diesem Geschäft. Wenn der Warenverkehr von Ceuta und auch der von Melilla in die offizielle Statistik mit eingehen würde, wäre Spanien, noch vor Frankreich, der Haupthandelspartner von Marokko.

Im Jahr 2010 ist es mit dem lukrativen Schmuggel von Konsumgütern jedoch vorbei. Dann wird die europäisch-mediterrane Freihandelszone eingerichtet, zu der auch Marokko zählen wird. In Ceuta sieht man dieses Datum mit besorgter Miene herannahen. Aber dann bleibt ja immer noch der Handel mit Haschisch, für den die Enklave das Portal zu Spanien und Europa ist. Auch für Mellila, das nicht nur ein Umschlagsplatz für Cannabis, sondern auch für alle anderen Arten illegaler Drogen ist. Kokain aus Südamerika oder Heroin aus der Türkei wird von der ganz im Nordosten von Marokko gelegenen Stadt schon lange im großen Rahmen nach Europa und in den Mittleren Osten weitertransportiert.

Für die Ceutis gibt es 50% Bonus bei der jährlichen Einkommenssteuererklärung, ein Nachlass der auch für Firmen gilt. Die Beamten bekommen etwa 40 % mehr Lohn. „Ich profitiere natürlich auch davon“, sagt Javier. „Bei mir sind das 900 Euro mehr. Das ist ein ganz schöner Batzen.“ Die Hälfte aller Jobs liegt im öffentlichen Sektor, wovon ein großer Teil vom Militär dominiert wird, in dessen Besitz etwa 50% der 18,5 Quadratkilometer großen Gesamtfläche der Stadt sind. 5000 Menschen arbeiten für das Militär, die damit etwa 10.000 Angehörige ernähren. Ceuta ist seit 1580 eine Enklave auf marokkanischem Boden Heute wohnen dort 75.708 Einwohner von vier verschiedenen Kulturen: 50 % Christen, 47 % Moslems, 2% Hindus und 1% Hebräer. Die Christen haben 90% der Jobs im öffentlichen Sektor inne, und für sie ist das Leben (wie auch für Hebräer und Hindus) in Ceuta sehr angenehm.

Für Muslime ist das dagegen anders. 12.000 drängeln sich alleine in kleinen Wohnungen des Viertels „Principe“, das mit hoher Kriminalität und Arbeitslosenrate typisch für die Gesamtsituation der Muslime in Ceuta ist. „Eine Problemzone der Stadt, in der kein Spanier nachts unterwegs ist“, meint Javier. „Auch untertags kann es gefährlich werden.“ Zum Volkssport der Jugendlichen gehört es dort, Polizeiautos mit Steinen zu bewerfen.

„Hier in Europa, was für ein Glück.“

Auf der untersten Stufe der sozialen Leiter stehen die Immigranten, auf die selbst die Marokkaner abwertend hinabblicken. Man hat wenig Verständnis für „los negros“ und deren Traum vom goldenen Europa, wo Jobs und Geld förmlich auf der Strasse wachsen. Schließlich weiß man aus eigener Erfahrung nur zu gut, dass das nicht der Realität entspricht. Die Naivität der meisten Immigranten wird müde belächelt.

Vor dem Haus des „Cruz Blanca“ in Ceuta steht man in der Sonne und vertreibt sich schwatzend die Zeit. Man hat nichts Besseres zu tun, sagt Patrick von der Elfenbeinküste. „Warten, warten“, meint sein Landsmann, der gelangweilt neben ihm steht. „Die Stadt ist nicht groß und alles ist teuer. Man kann sehr wenig machen.“ Außerdem sei man nicht gerade freundlich zu ihnen. „Manche machen blöde Witze, na wo sind eure Papiere oder bald geht’s wieder zurück, wo ihr hingehört, und dann lachen sie."

Beide gehören zu den Immigranten, die vor einem Monat über den Zaun kletterten. In ein paar Tagen sollen sie Bescheid kommen, was mit ihnen passiert. Sie zeigen mir ihre vorübergehenden Ausweise. Ein Blatt Papier mit Namen, Foto, Stempel und einem Datum, an dem ihnen ihr Status mitgeteilt werden soll: Deportation oder Duldung als Flüchtling. „Das zehrt an den Nerven“, sagt William, den ich schon vor ein paar Wochen, direkt nach seiner Zaunüberquerung gesprochen hatte. Er hat den Schock der Ereignisse überwunden. „Hier in Europa, was für ein Glück.“ Vor einigen Tagen habe er endlich seinen Großvater und auch seine Schwester erreicht, erzählt er freudestrahlend. „Sie sind stolz auf mich.“

Beim letzten Mal hatte mir William noch eine andere Geschichte aufgetischt. Die gesamte Familie sei umgekommen, er sei völlig allein, ohne einen einzigen Angehörigen. Man kann ihm nicht verdenken, dass er im Überschwang der Gefühle seine Legende vergessen hat, die er für die Anerkennung als Flüchtling braucht. Aber er musste ohnehin, wie alle anderen auch, nicht viel bei der Befragung der Behörden erzählen. „Die dauerte vielleicht fünf Minuten.“ Namen, Nationalität, Grund der illegalen Einreise, mehr sei da nicht gewesen. „Dann bekamen wir unser Papier.“ Von der Deportation von einigen hundert Immigranten zurück nach Marokko habe man gehört, aber „das macht man hier in Ceuta nicht“, sagt William zuversichtlich. Alle anderen nicken zustimmend. Man will sich offensichtlich nicht die gute Laune verderben, nachdem man oft Jahre unterwegs war und nun plötzlich der ganze Aufwand, die Risiken, die man auf sich genommen hat, vielleicht umsonst waren.

Für Keny aus dem Senegal wäre eine Deportation besonders schlimm. Sechs Jahre verbrachte er in den Wäldern nahe der spanischen Grenze. „10 oder 15 Mal haben sie mich verhaftet und nach Algerien gebracht, aber ich bin immer wieder zurück.“ Am Ende habe ihm ein Marokkaner in Bel Younech geholfen. „Er gab mir eine Schwimmweste.“ Mehrere Stunden habe es gedauert, die Eisengitter im Wasser weit zu umschwimmen und wieder den Weg zur Küste zu finden. „Vier Tage habe ich noch vor Kälte gezittert“, sagt der 28-Jährige. „Jetzt wieder zurück nach Marokko, das wäre ein Desaster. Aber so oder so, ich würde wieder zurückkommen.“

Keny setzt seine verspiegelte Ray Ban auf und sagt, er müsse jetzt los in die Stadt. „Ein paar Dinge einkaufen.“ Mit seinem Freund David, einem großen, schlaksigen Kerl, der nur wenige Tage nach ihm, auch schwimmend, nach Ceuta gekommen war, zieht er lachend ab.