Das simulierte Gegenüber

Das Bild zeigt die neuronale Aktivität, wenn das Gehirn eine andere Person simuliert. Das Belohnungs-Signal (rot) ist vom das Aktions-Signal (grün) klar getrennt, überlappt sich allerdings mit dem Signal für die Selbst-Bewertung (blau) (Bild: Riken)

Es gehört zu den Grundfähigkeiten eines sozialen Wesens, potenzielle Handlungen anderer abzuschätzen. Wie das im menschlichen Gehirn funktioniert, lag lange im Dunklen

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Die Situation ist alltäglich: Auf dem Heimweg kommt Ihnen ein Mensch entgegen. Ein kurzer Blick, vielleicht ein Lächeln. Wer weicht aus? Sie treten einen Schritt nach links. Ihr Gegenüber wendet sich, aus seiner Sicht, zur rechten Seite. Ups. Also doch nach rechts. Doch da steht die Zufallsbegegnung fast im selben Moment. Ein kurzes Lächeln, eigentlich ganz attraktiv, die Person, beide bleiben stehen. Patt. Sie werden rot, das Gegenüber, lächelt es ein wenig spöttisch? An dieser Stelle könnte vielleicht eine hübsche Liebesgeschichte entstehen. Doch einer von beiden entschließt sich zu einer unerwarteten Aktion, und bald gehen zwei Menschen wieder ihrer Wege.

Ihr Gehirn hat währenddessen, ohne dass es Ihnen bewusst geworden ist, emsig gearbeitet. Es hat versucht, die Handlungen der anderen Person vorauszuberechnen, um daraus eigene Handlungsoptionen abzuleiten. Dabei läuft ein durchaus komplizierter Prozess ab - Sie müssen sich also ihres Rotwerdens nicht schämen. Die Wissenschaftler stellen sich vor, dass folgendes passiert: Ihr Gehirn, leider der Telepathie unfähig, nutzt eine Abkürzung: Es schaltet die bereits gebahnten Strukturen ihrer eigenen Persönlichkeit ein, um den fremden Menschen zu simulieren. Dabei formuliert es Annahmen. Annahmen darüber, was dem Anderen wichtig sein könnte. Will die Person möglichst schnell an Ihnen vorüber? Hat sie ein bestimmtes Ziel im Auge? Ist sie bereit, aus dem Weg zu gehen und dabei einen winzigen Moment einzubüßen?

Diese Vermutungen müssen aber, erstens, nicht stimmen. Und zweitens – vielleicht ist auch Ihre Denkstruktur zur Simulation des Gegenüber gar nicht optimal geeignet? Zudem handelte es sich bis hierhin vor allem um Erkenntnisse aus der Psychologie. Funktioniert das menschliche Gehirn wirklich so?

Welche Strukturen das Gehirn aktiviert, kann man schon seit einiger Zeit mit Hilfe der funktionellen Magnetresonanztomografie (fMRT) recht gut bestimmen. Wenn allerdings die Annahme stimmt, dass man den Fremden innerhalb der eigenen Denkstrukturen simuliert, dann wird die Unterscheidung kompliziert: Werden die Nervenzellen aktiviert, weil Sie gerade Ihr eigenes Verhalten bewerten, oder findet über sie tatsächlich gerade eine Simulation des anderen Menschen statt?

Dieser Frage widmen sich jetzt japanische Forscher in einem Artikel im Fachmagazin Neuron. Um die Signale besser trennen zu können, betrachten die Neurologen zwei unterschiedliche Gruppen. Die eine wurde damit beauftragt, anderen beim Absolvieren eines simplen Spiels zuzusehen und Vorhersagen über die Gewinne der Spieler zu treffen. Die anderen machte man selbst zu Spielern.

Falls nur die eigenen Denkmuster genutzt werden, um die Handlungen anderer zu prognostizieren, sollte sich im Grunde keine Differenz bei den aktivierten Arealen ergeben. Tatsächlich aber fanden die Forscher ein zusätzliches Muster. Nach ihrer Interpretation handelt es sich dabei um ein Aktions-Signal, das die Unterschiede zwischen dem vermuteten und dem wirklichen Verhalten eines anderen Menschen kodiert (das "Ups" von oben), während das auf den eigenen Mustern basierende Belohnungssignal abschätzt, welcher Wert mit einer bestimmten Handlung für das Gegenüber verknüpft ist ("Wie wichtig ist es ihm, schnell an mir vorbeizukommen?").

Beide Signale zusammen ermöglichen demnach erst soziales Lernen. Die Forscher vermuten zudem, dass sie modifiziert werden, wenn man mehr über die Persönlichkeitsstruktur des anderen erfahren hat.