"Das syrische Volk hat einen sehr langen Atem"

Der syrische Dissident Burhan Ghalioun über Eskalation, Opposition und die Position der Armee

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Vergangenen Montag begann Ramadan - und damit vier Wochen, in denen es die Syrer täglich in die Moscheen und anschliessend zu den Demonstrationen zieht. Während der ersten Tage des Fastenmonates ging das Regime brutaler denn je gegen die Aufständischen vor ("Es ist Sache der Syrer selbst"). Telepolis sprach mit Burhan Ghalioun über die Hintergründe.

Das Regime kehrt seit Beginn des Fastenmonats Ramadan seine ganze Brutalität heraus - vor allem im hochsymbolischen Hama: 1982 kamen dort mindestens 10.000 Menschen um, als Hafez al-Assad die Muslimbrüder massakrierte und zahllose Unbeteiligte tötete. 2011 greift sein Sohn die Stadt nun neuerlich an - über 150 Menschen sollen seit vergangenen Sonntag gestorben sein. Weshalb diese enorme Brutalität?

Burhan Ghalioun: Weil das Regime enorm brutal ist. Es besteht aus einem Familienclan und wenigen, von ihm profitierenden Institutionen, die jedes politische Verständnis verloren oder nie welches besessen haben. Das Regime kam durch einen Militärcoup an die Macht, oktroyierte sich also von Stunde Null durch Terror und Repression. Daran hat sich in den 41 Jahren seines Bestehens nichts geändert. Für diese Herrscher sind die Menschen ihre Sklaven und der Staat ihr Privatbesitz.

Hinzu kommt das fatale Schweigen der internationalen Gemeinschaft. Seit fünf Monaten gibt sie Lippenbekenntnisse ab und lässt der Gewalt ansonsten freien Lauf.

"Das Regime unterschätzt das Ausmaß des Zorns"

Baschar al-Assad sicherte wiederholt Reformen zu - erst kürzlich hieß es, er wolle neue Parteien zulassen. Zeitgleich gratuliert er der Armee anlässlich ihres 66-jährigen Bestehens zu ihrem Vorgehen in Hama. Steckt dahinter eine Strategie?

Burhan Ghalioun: Das Regime will sich um jeden Preis reproduzieren - das ist die ganze Strategie. Ab und an werden einige Reformversprechen gestreut - als Worthülsen gegenüber denen, die dies immer noch vom Regime verlangen, wie gegenwärtig Russland.

Aber die Diktatur ist zunehmend bedroht. Die Wirtschaft ist bereits erlahmt und die internationale Kritik wächst. Das Wichtigste aber ist, dass jede Gräueltat, die die Bevölkerung einschüchtern soll, ins Gegenteil umschlägt: die Menschen werden immer wütender, entschlossener, mutiger. Infolgedessen schlägt das in die Ecke gedrängte Regime noch stärker zurück. Der Kreislauf hat längst begonnen und wird sich während Ramadan noch steigern.

Manche Beobachter glauben, der Fastenmonat sei die kritische Phase überhaupt: Entweder das Regime setzt sich durch oder das Volk.

Burhan Ghalioun: Das ist übertrieben. Ramadan ist eine wichtige, aber nicht die alles entscheidende Etappe. Sie dürfen nicht vergessen: Syrien steht seit über vier Jahrzehnten unter dem Stiefel. Aus freiheitsgewohnter westlicher Sicht und angesichts eines Kairoer Regimesturzes, der gerade mal 18 Tage benötigte, wird ungeduldig nach dem syrischen Ergebnis gefragt. Die Syrer selbst aber haben einen weit längeren Atem. Es bedarf der Zeit, um die einprogrammierte Angst abzuschütteln. Aleppo etwa, dem sein Dornröschenschlaf so angelastet wurde, beginnt sich jetzt spürbar zu regen.

Mindestens ein Video belegt eindeutig, dass sich Zivilisten bewaffnet haben und Sicherheitskräfte töten. Das kommt freilich dem Diskurs des Regimes entgegen, dass es sich um ein Komplott handle und salafitische Kräfte zugange seien.

Burhan Ghalioun: Es gibt in Syrien Salafiten, aber keine salafitische Organisation. Mehrheitlich handelt es sich bei ihnen um erzkonservative Menschen. Aber solche gibt es überall und bekanntlich nimmt auch nicht jeder ausländerfeindlich Gesonnene in Frankreich oder Deutschland eine Waffe in die Hand. Die Komplott-Theorie können wir somit ad acta legen.

"Mit Waffen gefüllte Laster in den Straßen"

Trotzdem gibt es bewaffnete Bürger, wie das (oben genannte) Video der Bewaffneten in Hama demonstriert..

Burhan Ghalioun: Das Regime legt es darauf an. Von Anfang an wurden beispielsweise in Homs und anderenorts mit Waffen gefüllte Laster in den Straßen stehen gelassen. Einfach so, zur freien Bedienung. Ich habe auf meiner Facebookseite schon vor Monaten die Demonstranten davor gewarnt, in diese Falle zu tappen. Das Regime lauert nur darauf, dies zu filmen und der Welt als Beweis für seine These von den "bewaffneten Banden" vorzusetzen.

Ich will aber auch nicht ausschließen, dass sich die Menschen Waffen besorgen, zwecks Selbstverteidigung. Das ist nachvollziehbar, gefährdet aber den friedlichen Charakter ihres Aufstandes enorm.

Jüngst bildeten sieben fahnenflüchtige Offiziere von mittlerer bis unterer Rangordnung die "Freie Armee Syriens". Könnte sich daraus eine ernst zu nehmende Bewegung ergeben?

Burhan Ghalioun: Es wird niemals genügend Armeemitglieder für eine solche "Freie Armee" geben. Dazu braucht es ranghohe Militärs, die gemeinsam dem Regime die Stirn bieten - und darauf hoffe ich. Dennoch halte ich Initiativen wie die der ausgescherten Soldaten für gefährlich. Wenn der bewaffnete Kampf zwischen zwei Militärfraktionen zunimmt, bekommen es die Zivilisten mit der Angst zu tun. Sie werden zu Hause bleiben und das Feld diesen Gruppierungen überlassen.

"Die militärischen Kapazitäten reichen nicht zur flächendeckenden Kontrolle aus"

Wo steht die syrische Armee generell? Ist sie tatsächlich zu 99 Prozent Assad-treu?

Burhan Ghalioun: Überhaupt nicht. Das sehen Sie daran, der hauptsächliche Armeeblock, der vielfach aus Sunniten besteht, außen vor bleibt. Die Wahrscheinlichkeit, dass diese Soldaten Schießbefehle verweigern, wäre zu hoch. Im Einsatz ist vor allem die 4. Division, die unter Maher al-Assad dient, oder die Sicherheitskräfte und die Schabbiha, jene Zivilisten, die gleichfalls vom Regime trainiert werden und absolut loyal sind.

Fokussiert das Regime deshalb quasi alle zwei Wochen einen anderen Protestherd, aber nie das gesamte Land auf einmal?

Burhan Ghalioun: Absolut! Sie gehen reihum, weil ihnen die Kapazitäten fehlen. In Hama etwa waren sie wochenlang nicht präsent.

Die immer wiederkehrende Frage lautet: Wie gut ist die syrische Opposition organisiert - und aus wem besteht sie überhaupt?

Burhan Ghalioun: Sie ist zweifellos bunt. Muslimbrüder und Säkulare sind ebenso darunter wie an die 20 kurdische Parteien, von denen einige eher extremistisch die Selbstbestimmung und andere die Einheit Syriens und den Sturz des Regimes fokussieren.

Zudem haben Ende Juni in Damaskus 17 verbotene Parteien und Einzelpersonen den "Nationalen Zusammenschluss der Kräfte des demokratischen Wandels" gegründet - ein Oppositionsbündnis unter Leitung des linksorientierten Menschenrechtsanwalts Hassan Abdul Azim.

Wichtig ist auch das 2007 heimlich gegründete "Komitee der Erklärung von Damaskus", das unter anderem die "Demokratische Volkspartei" und mehrere kurdische und arabische Parteien umfasst. Aber es ist klar, dass die diversen Formationen nach jahrzehntelang erstickter Bürgerpartizipation noch nicht ausgereift sind.

Ausländische Agenden und ambitionierte Exilsyrer

Sie selbst lehnten es ab, an der Konferenz im türkischen Antalya Anfang Juni teilzunehmen. Warum?

Burhan Ghalioun: Weil ich davon ausging, dass es nicht um die Interessen des syrischen Volkes, sondern um ausländische Agenden geht.

Mein Verdacht war berechtigt: Zwei Wochen später fanden sich in Paris dieselben Gesichter ein, bei einer Konferenz, die von dem als Israel-Freund bekannten Philosophen Bernard-Henri Lévy mitorganisiert wurde und bei der unter anderem Frankreichs früherer Außenminister Bernard Kouchner, der ehemalige Berater von Ehud Barak, Alex Goldfarb, sowie das Likud-Mitglied Frederick Ansel erschienen sind.

Erfolgt überhaupt noch etwas ohne ausländische Agenden? Vor wenigen Tagen trafen sich in den USA andere syrische Dissidenten mit Außenministerin Hillary Clinton..

Burhan Ghalioun: Ich verurteile es nicht grundsätzlich, wenn man Gespräche sucht, um etwa auf die Menschenrechtslage in Syrien aufmerksam zu machen - sofern das das Ziel der Treffen ist.

Wenn ich der Jugend, die in den USA lebt, etwas vorhalte, dann dass sie zu früh die Führungsrolle sucht. Sie ist zu ambitioniert, die noch herrschende Leere zu füllen. Es wäre angemessener, die Bildung eines Nationalen Komitees abzuwarten, das alle Meinungen und Strömungen repräsentiert. Es ist zwar hilfreich, wenn diese Jugend vom Ausland aus die Proteste mitkoordiniert - ihr Leben aber riskieren andere. Sie müssen endlich gehört werden.

Burhan Ghalioun ist Professor für politische Soziologie an der Neuen Sorbonne-Universität in Paris, Direktor des Zentrums für zeitgenössische Orientstudien. Er lebt seit 1978 in Frankreich.