Das traurige Orgien- und Mysterientheater von St. Pölten

Seminaristische Sexszenen in Niederösterreich

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Das Wort "Seminar", Pflanzschule, kommt etymologisch von "Samen". Könnte also sein, dass die lateinkundigen Seminaristen von St. Pölten ihren Status etwas zu wörtlich genommen haben. Kinderpornografie randvoll auf der Festplatte, homosexuelle Handlungen zwischen Seminaristen, sexuelle Beziehungen zwischen Lehrpersonal und Schülern, selbst von sexuellen Übergriffen auf Minderjährige ist die profane Rede - alles hässliche Vorwürfe, mit denen sich der seit je umstrittene Diözesanbischof von St. Pölten, Kurt Krenn, herumschlagen muss.

Bischof Dr. Kurt Krenn

Der heftige Medienblasen werfende Sündenpfuhl von St. Pölten ist mal wieder einer der Belege für die, die es schon immer gewusst haben: Die Sexualfeindlichkeit der katholischen Kirche wird zu einer immer unheimlicheren Hypothek mit permanenten Glaubwürdigkeitskrisen. Und ist nicht die Glaubwürdigkeit das einzig wahre Kapital der Kirche, das unter allen Umständen erhalten werden muss?

Die christlichen Spielarten der Liebe

Glaubwürdigkeit? Selbst der vor einigen Tagen in Tränen ausbrechende Krenn soll längst vor dem Medienspektakel gewusst haben, was im heiligen Pölten getrieben wurde. Neben den Bußfertigkeiten gab es auch Zungenfertigkeiten, die unglückseligerweise gleich fotografisch festgehalten wurden.

Zunächst hatte Bischof Krenn abgewiegelt. "Bubendummheiten" erkannte er in einem Kuss-Foto, das den zurückgetretenen Subregens des St. Pöltener Priesterseminars, Wolfgang Rothe, im Zungenkuss mit einem Alumnen vereint zeigt. Dass zwei erwachsene Männer sich die Zunge in den Mund stecken, mag man nennen, wie man will, zumindest soll man aber nicht so tun, als handele es sich um einen infantilen Akt, weil es doch zu offensichtlich ein sehr fleischlicher Ausdruck des Trieblebens ist.

Entscheidend ist jedoch nicht einmal der Akt selbst, sondern die üblichen, sattsam bekannten bigotten Absetzbewegungen, die sich jederzeit gerne über die eigenen Wahrnehmungen täuschen und jede Antwort schuldig bleiben, wie junge Männer ihren Trieb "im Schoße der Kirche" überhaupt regeln sollen. Denn selbst Ersatzhandlungen wie Masturbation verstoßen bekanntlich gegen den selbst verordneten Sexualkodex der Kirche.

Subregens Rothe versucht die relativ eindeutigen Bilder als gemütvolle Jungmännertreffs zu verkaufen. Rothe, der wie der Regens des St. Pöltener Priesterseminars Ulrich Küchl, sein Amt niedergelegt hat, erweist sich dabei als gewiefter Hermeneutiker auf dem schmalen Grat zwischen Agape und Eros: Gewisse Zärtlichkeiten seien als angewandte Nächstenliebe zu deuten. Zur kleinen Feier am Heiligen Abend vergangenen Jahres fällt ihm daher ein: Sie hätten eine Kerze angezündet, aus dem Evangelium gelesen und süßes Backwerk genascht. Naschen oder vernaschen, süßes Backwerk oder süße Kleinode? Ein Heer von gottlosen Schelmen, das bei diesem caritativen Stellungswechsel der Verteidigung Böses denkt.

Unschuldslamm Rothe hat schon Gegenschläge angekündigt:

Weder haben die durch angebliche "Beweisfotos" belegten Verfehlungen bei einer Weihnachtsfeier je stattgefunden, was in jedem Fall durch Zeugenaussagen belegbar ist, noch entsprechen die übrigen gegen mich erhobenen Anschuldigungen auch nur ansatzweise der Wahrheit. Über den innerkirchlichen Klärungsprozess hinaus habe ich die Absicht, mich gegen die mir zugefügte Rufschädigung auch auf zivil- und strafrechtlicher Grundlage zur Wehr zu setzen.

Das ist sein gutes Recht, ob er der Mutter Kirche allerdings dadurch einen Gefallen tut, in einer unseligen Situation, die Flucht nach vorne anzutreten, kann nur bezweifelt werden.

Sicher ist es auslegungsfähig, wer wo wem Hand mit welcher Absicht an- oder aufgelegt hat. Ausschließlich gefühlsecht ging es wohl nicht immer zu - oder gerade, wenn man innige Männerbündnisse ohne zumindest latente Homosexualität für eine Ausnahme hält. Das wäre, von der Kinderpornografie abgesehen, alles nicht weiter tragisch, wenn man Homosexualität, Haushälterinnen-Verhältnisse und andere zölibatäre Triebventile nicht als das Natürlichste in einer sexualrepressiven Institution ansehen dürfte. Die seit Jahrhunderten zu beobachtenden Folgen - Sexualnot, Gewissenspein, "Priesterbankerts", verstoßene Geliebte und eben Sexualvergehen - sollten selbst die dogmatischen Hartschädel an ihrer Unterscheidung "natürlich/unnatürlich" langsam irre werden lassen.

Die katholische Stammesgemeinschaft

Kurt Krenn, der streitlustige, immer medienpräsente Bischof, bescheinigt den Österreichern, die nun erregt reagierten, wenig von der Kirche zu verstehen. Das gilt wohl vor allem für die, die der Kirche auf Grund der St.Pöltener Gay-Szenen endgültig den Rücken kehren. Irgendwo hat Krenn freilich Recht, weil solche Skandale naturnotwendige Folgen heiliger Gebote der beschriebenen Art sind und daher kein ernsthafter Grund zur Erregung.

Doch Krenns kirchliche Innenansichten zielen freilich auf etwas anderes: Die katholische Gemeinde ist eine exotische Stammesgemeinschaft in der Gesellschaft, die nur langes Studium begreifbar macht. Des Bischofs klandestines Selbstverständnis passt kaum zum Ideal einer begegnungsfreudigen Kirche. Ohnehin hatte Krenn dem "innerkirchlichen Liberalismus" von Anfang an den Kampf angesagt und das lässt auch über die St. Pöltener Lustbarkeiten hinaus tief blicken, wie weit das klerikale Wirklichkeitsverständnis inzwischen von den wahren Anliegen der noch verbliebenen Gläubigen entfernt ist.

Die Kirchenaustritte tun jedenfalls weh, weil auch ohne solche Skandale Rom der Wind längst mächtig ins Gesicht bläst. Der Vatikan hat also jetzt folgerichtig eine erste Maßnahme ergriffen. Krenn und die Diözese St. Pölten begrüßen pflichtschuldigst die päpstliche Einsetzung eines apostolischen Visitators. "Visitator" ist ein weiterer Euphemismus in den zahlreichen rhetorischen Absetzbewegungen, die die Peinlichkeiten erst richtig knospen lassen und den Medienspaß verdoppeln. Der mit sehr umfassenden Befugnissen ausgestattete Visitator, Bischof Dr. Klaus Küng, hat den Auftrag, Diözese und Priesterseminar einer unabhängigen und skrupulösen Prüfung zu unterziehen. Es ist eine "Causa difficilis", frei übersetzt: eine klebrige Angelegenheit.

Küng, Opus-dei-Mitglied, ist indes der richtige Mann, den auch Krenn keinesfalls für zu liberal halten dürfte. So hat Küng etwa zu einer vom Sozialministerium 2002 herausgegebenen "Aufklärungsbroschüre" "Love, Sex und so ..." einschlägige Worte mit den üblichen Seitenhieben gegen Onanie, Petting und Homosexualität gefunden:

Wir dürfen uns nicht wundern, wenn heute viele Familien zerbrechen, sexuelle Missbräuche häufig sind und junge Menschen oft nicht den Weg zu einer gesunden Persönlichkeitsentfaltung finden, wenn sie in einer Weise "orientiert" werden, wie dies in der vorliegenden Broschüre geschieht.

In kirchlichen Kreisen verspricht man sich von diesem so ausgewiesenen Kenner der Materie "eine Wende zum Guten". Machtpolitisch ist Krenn damit die Oberhoheit entzogen, Richter in eigener Sache zu sein und über die befleckte Sexualmoral seiner Seminaristen noch länger zu urteilen, was er ohnehin versäumt hat. Ist das Krenns Ende als Bischof?

Der Bericht des Großvisitators, der nur dem Papst höchstselbst verantwortlich ist, soll jedenfalls nur der "erste Schritt für weitere Maßnahmen" sein. Der Unmut des Vatikans über Krenn dürfte groß genug sein, zumal sich der kaum aus der persönlichen Verantwortung stehlen kann, die er für das Seminar mit der Nächstenliebe der etwas anderen Art hatte.

Der institutionalisierte Sexualnotstand

Kirche und Sex gehen seit je eine Mesalliance ein. Betrüblicherweise hat der Trieb immer in unchristlichster Weise in den Reihen derer gewütet, die gezwungen waren, an die unbefleckte Empfängnis zu glauben. Wem die "Reinheit" zur Obsession wird, sollte sich über die eigene Unreinheit nicht wundern.

Für Krenn ist Homosexualität eine schwere unheilbare Krankheit. Nun ist das keine Privatmeinung. Auch der Salzburger Weihbischof Andreas Laun formuliert die offizielle Homo-Doktrin der katholischen Kirche so:

Die homosexuelle Neigung ist eine Unordnung in der menschlichen Natur; ihr nachzugeben ist eine Sünde.

Sollte Homosexualität also eine Krankheit sein, stellt sich die Frage, ob die Kirche nicht selbst unheilbar erkrankt ist. Ja mehr noch, es stellt sich die Frage, wieso die Kirche das "Unheil" so magisch anzieht. Nicht nur "Highlights" klerikaler Unzucht wie etwa das Treiben Papst Alexander VI. muss man bemühen, um den unseligen Umgang der Kurie mit Sexualität zu demonstrieren. Gerade die Triebunterdrückung produziert diese permanente Rede vom Sex. Entweder moralinsauer und inhibitorisch wie bei Bischof Krenn, Kardinal Joachim Meissner (Das Gift der "Inquisition light") und collegae oder als sexistischer Subtext wie etwa jener der heiligen Theresa von Avila:

In der Hand des Engels sah ich einen langen goldenen Pfeil mit Feuer an der Spitze. Es schien mir, als stieße er ihn mehrmals in mein Herz, ich fühlte, wie das Eisen mein Innerstes durchdrang, und als er ihn herauszog, war mir, als nähme er mein Herz mit, und ich blieb erfüllt von flammender Liebe zu Gott...

Nicht die Seminaristen sind pervers, von Ausnahmen abgesehen, sondern diese Kirche, die vorgibt, lebenslänglich den Trieb ihrer Repräsentanten so zu bändigen, dass er nicht mehr existent sein soll. Eine Kirche, die den göttlich verliehenen Trieb für Teufelswerk hält, ihn allein in der christlich monogamen, zuvörderst und zuletzt Fortpflanzungszwecken dienenden Familien für "entdiabolisierungsfähig" hält.

Nicht erst seit Sigmund Freud wissen wir, dass der Trieb plastisch ist und sich seine Gelegenheiten und Objekte mit Macht sucht. Die Seminaristen tun nur das, was ohnehin jeder vermutet, der nicht der bizarren Theorie folgt, man könnte Triebe "aus-schwitzen" oder im tiefen Glauben an die höheren Weihen zu wertvollen Kulturleistungen sublimieren. Nicht St. Pölten ist pervers, sondern das verordnete Menschenbild, das solche Zustände zur mindestens heimlichen Norm macht.

Die Kirche muss sich ihrem Fundamentaldilemma stellen

Deshalb interessiert nicht, wie Vatikan und Visitator nun das Orgien- und Mysterientheater enden lassen, sondern wie sich eine Kirche zukünftig ihrem eigenen Fundamentaldilemma stellen will. Denn einerseits will man seine Gotterwähltheit dadurch demonstrieren, dass man im keuschen Stand der Gnade lebt, andererseits riskiert man damit, dass die institutionalisierten Skandale schließlich noch das letzte Schäfchen vergrätzen.

Diese Kirche hat keine akute Glaubwürdigkeitskrise, sondern ist auch gerade dann eine, wenn es keine Skandale gibt. Zuvor jagten sich in Amerika die unzähligen Meldungen über die Unio mystica von Priestern und Pädophilie. Es fällt schwer, hier noch eine Kritik zu finden, die mehr sein könnte als ein Abgesang auf eine Institution, die in ihren Dogmen von der Widernatürlichkeit eben jene beweist.

Diese Abgründe lassen sich nicht länger in der üblichen Skandalverarbeitung durch Entlassungen, Untersuchungskommissionen oder Visitatoren kaschieren, die ohnehin zu oft nicht weniger verdächtig in ihren Aufarbeitungen sind als die Verdächtigen selbst. Der einzige Glaubwürdigkeitsgewinn, den diese Kirche sich nach göttlicher Eingebung nun endgültig leisten sollte: Sofortige Verabschiedung des Zölibats, Anerkennung gleichgeschlechtlicher Beziehungen in den eigenen Reihen und im Übrigen die Vernunft der Selbstbefriedigung in eher unbefriedigenden Verhältnissen.

Es gilt jetzt für alle Zeiten abzuschwören vom eigenen Sexismus in einer Organisation, in der Frauen keine ernst zu nehmenden Positionen einnehmen können. Just hier hat sich Krenn auch in fataler Weise hervorgetan: Bei seiner Amtseinführung in St. Pölten 1991 kündigte er an, künftig keine Ministrantinnen mehr zulassen zu wollen und warnte kurz darauf vor "krankhaftem Feminismus" in der Kirche. Für den Wiener Pastoraltheologen Paul Zulehner ist dagegen Bischof Krenn ein kranker Alkoholiker.

Wohin auch das Auge blicket, immer geht es in dieser Kirche um Krankheit und Widernatur. Wem so vieles krank erscheint und wer dabei selbst mindestens auf einem Auge blind ist, der mag sich auch als Katholik an Martin Luthers Rat halten, die Kranken als "Boten Gottes" zu empfangen. Nur die Botschaft oder in Krenns Worten "die Wahrheit, die allein uns frei macht", mag je verschieden aufgefasst werden. Leider Gottes...