Daumenkino des Monströsen

Eine Kritik des Buchs Mutations über die Entwicklung urbaner Räume, herausgegeben von Rem Koolhaas

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Urbanistik und Architektur sind nach wie vor heiße und kontroverse Themen. Erst am 30. April provozierte der Basler Jacques Herzog, zusammen mit seinem Freund Pierre de Meuron, Inhaber eines der derzeit wohl profiliertesten Architekturbüros der Welt, in Frank A. Meyers Interviewsendung vis-à-vis wieder mit seiner Idee von der ganzen Schweiz als urbanem Raum, den man am besten auch gleich mit einer U-Bahn ausstatten sollte. Nun ist ein Buch herausgekommen, das als Credo seiner Macher die Gleichung "WORLD = CITY" plakativ von seinem Cover strahlt. Ist unser Planet eine Stadt? Ist alles, was nicht Stadt ist, nicht mehr Teil der treibenden Kräfte unseres Planeten? Gibt es noch Weltstädte oder nur noch gleichgeschaltete Globalisierungszentren? Das sollten wir uns mal genauer ansehen.

Leider: Form follows function. Das Buch Mutations, herausgegeben von Rem Koolhaas, dem unter anderem in Harvard lehrenden Architektursuperstar niederländischer Herkunft, verwendet über weite Strecken eine krunkelige Serifenlose für den Fließtextsatz, einen unglücklichen Kompromiss zwischen abgerundeter VAG-Hausschrift und dicktengleicher 80er-Jahre-Schreibmaschinentype. Da fragt man sich gleich, ob man das nun lesen soll oder nicht. Es soll nüchtern wirken, nach "Computer" aussehen, es soll cool sein, wie in den 80ern, als die für diese Zeit typische schwärmerische Coolness nur allzugern die notwendige Präzision in den Argumentationslinien zu ersetzen pflegte.

Auch hier knallt einem das Design die aktuellen Wahrheiten zur Einstimmung ins Gesicht: Statistiken über das Wachstum der Städte, Karten zum Technologiegefälle und saftige Slogans schwarz auf gelb, ganzseitig. Die Statistiken sind schwach belegt, nur Quellenangaben, meistens ohne Jahr der Erhebung, also sind sie wertlos. Dazwischen blitzen die Namen von Heidegger und ähnlicher Nebelwerfer auf.

Ist Mutations, ein Buch über die Zukunft des Urbanen, das immerhin knapp über 100 Mark kostet, also ein verlorenes Werk? Nicht unbedingt, wenn man dessen schmusig-kalten Kinderbuchplastikeinband dazu benutzt, seine Krallen daran zu schärfen. Irgendwo zwischen der amüsanten Beschreibung eines Roman Operating System, also den römischen Prinzipien des Städtebaus und der dazu verwendeten Komponenten, sowie trendigen Anwendungen des Globalisierungsvokabulars, entdeckt man einen Artikel des unseren Lesern bestens bekannten Reinhold Grether zum berühmt-berüchtigten Toywar. Man lässt Grethers Witz und Esprit auf sich wirken und fühlt, wenn man weiterblättert, einen bitter-metallischen Geschmack auf der Zunge, der einen daran erinnert, dass auf diesen einen gewonnenen Toywar mittlerweile ein ebenso stiller wie brutaler Rollback der internationalen Bewusstseinsindustrie erfolgt ist, der sich durch herrschaftsstabiliserende Institutionen wie ICANN und WIPO abgesichert sieht und im Auftrag der üblichen Reichen und Mächtigen den publikationswilligen Individuen im wahrsten Sinne des Wortes die Sprache raubt, indem sie diese vercopyrightet und monopolisiert.

Doch schon geht es weiter und mit einem Stück von Saskia Sassen näher ans eigentliche Thema ran. Es geht um Global Cities, um von Frau Sassen in ihren eigenen Büchern bereits mehrfach dargelegte Thesen, und hier lohnt sich das Ankämpfen gegen die hundsmiserable Typographie, denn der Artikel ist schnell, konzis und mit einer weiterführenden Literaturliste ausgestattet. Das Konzept der Global Cities leuchtet ein, es handelt sich dabei um jene Orte, an denen der mittlerweile abgehobene Turbokapitalismus noch den Erdboden berührt und dabei rund um internationale Airports spiegelglaskristallene Konzernrepräsentanzen sprießen lässt.

Als ich selbst kürzlich Luxembourg-Ville bereiste, konnte ich die Euro-Variante eines solchen Globalisierungs-Hubs betrachten: Menschen fluten morgens in riesige Büroanlagen der Kommission, des europäischen Gerichtshofs, der europäischen Investitionsbank, ein ganzes Stadtviertel füllt sich mit Leben und ist pünktlich zum Feierabend wieder ausgestorben; der öffentliche Personennahverkehr ist vollkommen unterentwickelt, über der Stadt kommen heiser flüsternde Flugzeuge herab, um auf dem viel zu nahen Airport zu landen, nachts entladen sich heiße Gewitter über leeren Strassen. Die Bewohner sprechen eine Art Cityspeak, eine Mélange aus Deutsch, Französisch, Niederländisch und neuerdings Standard-Anglopidgin. Ein hektischer Jet dröhnt flach unter der niedrigen Wolkendecke heran, die seine Positionsblitze weichzeichnet... "He say: You Blade Runnah."

Es gibt in Mutations viele Fotos und Grafiken zu den angerissenen Themenbereichen wie "Shopping", "Pearl River Delta" (China) und "Lagos". Die Fotos, deren Arrangements in dem kleinformatigen, aber dicken Buch daumenkinohaft-filmisch wirken, sind zwar in vielen Fällen technisch alles andere als perfekt und scheinen teilweise mit sowjetischen Kleinbildkameras aus der Hüfte oder aus einer eklektizistischen Auswahl diverser wackeliger Transportmittel heraus aufgenommen zu sein, aber sie sagen viel, viel mehr über die Lage der planetaren Zivilisation aus als die coolen Texte der Theoretiker. Da blühen Autobahn-Kleeblätter inmitten ockerfarbener Ödnis, auf einem Schnappschuss eines chinesischen Propagandaplakats blendet ein davorstehender Mast genau das Gesicht der auf dem Plakat gerühmten Parteifigur aus, Luftbilder zeigen verrottete Barrios, leere amerikanische Schnuckiputzi-Vorstadtsiedlungen und hässliche Einkaufszentren. Wo das Buch seiner optischen Logik folgt, da ist es schlüssig und gut. Man kann darin spazierenblicken und versteht es instinktiv. Das ist der modernste Aspekt an Mutations: die grafische Argumentation ist mächtiger als jene in den darin abgedruckten Texten.

Vielleicht mit Ausnahme eines Artikels von Rem Koolhaas selbst, der sich mit dem Projekt des Pearl River Deltas in China befasst, also mit der Gegend um Hong Kong, Macao und der Sonderwirtschaftszone Shenzhen. Er erzählt vom Wachstum der chinesischen Städte und von den Arbeitsbedingungen der chinesischen Architekten. Auf vier Millionen Einwohner kommt in China nur ein einziger Architekt. Chinesische Architekten verdienen wenig, planen innerhalb von zwei Tagen riesige Betontürme mit Hilfe veralteter CAD-Systeme daheim am Küchentisch, können sich oft nicht auf Unterstützung durch ein eigenes Büro verlassen, konfigurieren ganze Gebäudepläne in kürzester Zeit um, stampfen mit Hilfe unterbezahlter Hilfsarbeiterlegionen Copy-and-Paste-Gebäude aus dem Boden. Aber der Text ist aus den Jahren 1996 und 1997. Heute, nach der Asienkrise, sieht es dort anders aus. Vielleicht.

Das Buch springt weiter, nach Amerika. Houston, die Metropole des Dubyatums, besticht durch konsequente Verschwendung aller bekannten wertvollen Ressourcen. Ganze Gebäude werden weggeworfen, weil es bequemer ist, neue zu bauen. Der Astrodome, der größte klimatisierte Raum der Welt, verschleudert soviel Energie wie eine Stadt mit 10.000 Einwohnern. So steht es in Mutations. Aber auch hier: Schludriger Umgang mit den Daten. Wann wurde diese Zahl erhoben? Bei welcher Gelegenheit? In welchem Zeitraum verbraucht der Astrodome diese Energie? Mutations: 33% der amerikanischen Achtjährigen wissen, wo sie eine scharfe Waffe herbekommen könnten, wenn sie eine wollten. Wann wurde diese Zahl erhoben? Bei welcher Gelegenheit? "Die Amerikaner geben für illegale Drogen genausoviel Geld aus wie für Softdrinks: 57 Milliarden Dollar pro Jahr." Wann wurde...? Woher? Warum? Das sind Kriterien, die man nicht nur an wissenschaftliche Publikationen, sondern auch an journalistische anlegen sollte. Und Mutations ist als Schnappschuss der Lebensraumentwicklung in den vergangenen zehn Jahren eher ein journalistisches als ein wissenschaftliches Produkt.

Doch die freche Schlagzeile allein bringt uns nicht weiter. Phänomene wie die Urbanisierung sollten kühl und systematisch analysiert und ebenso präsentiert werden. Das Vorgehen der Herausgeber erinnert hier an den fatalen Trend hin zur – nennen wir es mal: Boulevardwissenschaft. Lass’ uns ein sexy Thema besetzen, es in zwei, drei Aufsätzen durchnudeln, ein paar amüsante Wortschöpfungen prägen und als Industrieredner dann endlich wirklich Geld verdienen. Lass’ uns einen biotechnischen Scoop inszenieren, irgendwas unerhörtes klonen und uns von der Welle des massenmedialen Empörungssturms in den Olymp internationaler Berühmtheit hinauftragen. Lass’ uns mit aller Macht der alten Medien elegant den Untergang ebendieser Medien verkünden und lass’ uns Bücher mit Titeln wie The End of Print (Part One) veröffentlichen (David Carson).

Das Problem der Boulevardwissenschaft: Sie wirft Fragen auf, ohne sie wirklich bearbeiten zu wollen und überlässt die Interpretation ihrer dürftigen Ergebnisse üblichen Verdächtigen wie Sektenfreaks oder politischen Extremisten, die diese Lücke nur allzugern zu füllen bereit sind. Auch in Mutations wird die als zunehmend chaotisch empfundene Welt nicht in schlüssige Zusammenhänge gebracht. Das Buch ist vor allem deskriptiv. Angesichts wild wabernder Slums kann man die Ärmlichkeit mit der Chaostheorie entlehntem Vokabular veredeln.

Luftaufnahmen dienen der Suche nach Mustern im urbanen Wahnsinn von Lagos. Jeder Quadratmeter Land wird genutzt, sogar die Innenflächen von Highway-Kleeblattkreuzungen. Hier fällt positiv auf: Der begleitende Text belegt seine Daten ordentlich, Fotos und Grafiken unterstützen und illustrieren die Argumentation. Ein feiner Job. In dieser Qualität hätte man sich den Rest des Buches auch gewünscht.

Man bekommt den Eindruck, als habe sich die Herausgeberschaft von Mutations vom Patchworkhaften der untersuchten Megastädte inspirieren lassen, zuweilen allerdings etwas zu stark. Das Buch ist ein exzellenter Snapshot, dessen videocliphafte Ästhetik insofern überzeugt, als dass sie dem Rhythmus des bearbeiteten Sujets gerecht wird. Es ärgert der Hang zum Boulevardesken, zum krampfhaften Verblüffenwollen mit in der Luft hängenden Zahlenfragmenten aus oft unbekannt bleibenden Statistiken.

Hätte man mehr Sorgfalt auf die Dokumentation und auch auf die Lesbarkeit der Texte verwendet, dann hätte Mutations nicht nur ein Daumenkino städteplanerischen Wahnsinns im beginnenden dritten Jahrtausend, sondern ein wirklich valides Buch über das Leben in den heißen urbanen Zonen unserer Zeit werden können. So aber sitzt es auf dem Coffeetable und verstrahlt eine ziegelsteinschwere Hoffnungslosigkeit. Wer die Bilder von Lagos erblickt, muss zu dem Schluss kommen, dass da nichts mehr zu machen ist, dass da nicht nur Beton und Highway als Konzepte gescheitert sind, sondern dass unsere Zivilisation da gescheitert ist, dass da was irreparabel geschädigt vor sich hinwuchert, dass die Stadt und ihre Menschen verloren sind. Es kann keine Solidarität mit der Hölle geben.

Rem Koolhaas (Hrsg.): Mutations. Barcelona: Actar, 2001. 720 Seiten. ISBN: 84-95273-51-9. Preis: 105,- DM.