"Den Menschen das zeigen, was sie sehen müssen"

Bild: W. Aswestopoulos

Stavros Theodorakis im Gespräch. Anstelle eines Nachrufs auf den Fotojournalisten und Pulitzer-Preisträger Yannis Behrakis

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Am Sonntag, den 24. März wird im Stavros Niarchos Zentrum die Trauerfeier für den verstorbenen Fotografen Yannis Behrakis abgehalten. Behrakis. Pulitzer-Preisträger für seine Flüchtlingsreportagen von 2015, war ein mehrfach ausgezeichneter Kriegsfotograf. Der Tod des 58-Jährigen in der Nacht vom 2. auf den 3. März 2019 wurde zunächst über soziale Netzwerke bekannt. Behrakis und seine Familie hatten die schwere Krankheit des Fotografen lange geheim gehalten. Nur ein kleiner Kreis von Verwandten, Freunden und Kollegen war über die Krebserkrankung eingeweiht.

Behrakis hat auch nach seinem Tod ein Zeichen gesetzt. Statt wie bei den Griechen aufgrund der Religion mit einer Erdbestattung und einer kirchlichen Zeremonie üblich ließ er sich verbrennen. Anstelle einer Totenmesse gibt es am Sonntag, den 24. März, ein Memorial im Zentrum der Stiftung Stavros Niarchos.

Zum Zeitpunkt des Todes befanden sich die meisten Politiker des Landes in Delphi, wo vom 28. Februar bis zum 3. März das vierte internationale Wirtschaftsforum stattfand. Spontan erklärte sich der Stavros Theodorakis, Vorsitzender von To Potami und früherer Journalist, bereit, am Morgen des 3. März den Großteil seiner Redezeit für eine von Kollegen kurzfristig vorbereitete Gedenkveranstaltung bereit zu stellen. Diese Geste des selbst in punkto Krebserkrankung erfahrenen, 56-jährigen Politikers gab, mit etwas Abstand zur Todesnachricht, in den Tagen vor dem Memorial für Behrakis Anlass für ein kurzes Gespräch über Behrakis, Fotojournalismus und die politische Dimension.

Stavros Theodorakis. Bild: W. Aswestopoulos

Yannis Behrakis sagte, dass er dorthin gehen würde, wo andere weglaufen, um die Bilder machen zu können, welche die Gesellschaft sehen muss, damit, wie er gern sagte, "ihr nicht sagen könnt, dass ihr nichts gewusst habt". Sie selbst hatten als Journalist einen gleichen Ansatz. Wie bewerten Sie den Erfolg?

Stavros Theodorakis: Yannis war ein toller Typ. Bescheiden, mutig und belesen. Er hat tatsächlich immer wieder versucht, den Menschen das zu zeigen, was sie sehen mussten. Leider möchten viele das überhaupt nicht sehen. Sie schauten auf die Bilder von Yannis, waren beeindruckt, drückten ein Like in sozialen Netzwerken, aber wirklich "gesehen" haben sie die Bilder nicht. Wenn die Menschen die Bilder wirklich bewusst gesehen hätten, wäre es anders. Unsere Welt wäre anders.

In der Politik machen Sie das, was Sie auch als Journalist taten. Sie zeigen ein Problem auf oder bieten eine Lösung an. Wer ist hinsichtlich des Ergebnisses erfolgreicher. Der Journalist oder der Politiker?

Stavros Theodorakis: Einem mutigen Journalisten oder einem mutigen Fotoreporter können mehr Menschen glauben. Der mutige Politiker muss zuerst das Misstrauen überwinden. "Warum sagt er uns das jetzt?" "Was hat er damit zu gewinnen?" Die Menschen sind der vielen Lügen der traditionellen Politiker müde, all jener, deren einziges Ziel nur die Macht ist. Wenn ihnen mal einmal jemand die Wahrheit sagt, drehen sie sich ab und sagen: "Quatsch, auch der sagt uns Lügen."

Der Tod eines Freundes, Kollegen oder Lehrers erschüttert. Aber es erschüttert noch mehr zu sehen, wie plötzlich viele, die ihn bis gestern kritisiert hatten, sich zu Freunden erklären und fünf Minuten Publicity mit Statements zum Tod erlangen. Halten Sie dies für ein charakteristisches Symptom unserer Zeit?

Stavros Theodorakis: Bei der Beerdigung von Rika Vagiani [Anmerkung: einer in Griechenland bekannten Journalistin] stand neben dem Sarg ein Politiker, den Rika zeitlebens nie gegrüßt hatte. Danach trat er vor die Kamera und gab Erklärungen ab. Jetzt steht Rika auf und stellt ihn zur Rede, schoss mir durch den Kopf. Ich musste unwillkürlich lachen. So sind die Menschen. Sie stellen sich neben prominente Verstorbene, um so einen Teil von deren Wichtigkeit zu bekommen.

Wann haben Sie Yannis Behrakis zum letzten Mal gesehen? Hatten Sie mit ihm zusammengearbeitet?

Stavros Theodorakis: Das letzte Mal sah ich ihn in seiner Wohnung in Pankrati, im vergangenen Jahr. Wir waren keine Freunde. Er wäre also nicht von einer Auslandsreise zurückgekehrt und hätte dann gesagt: "Ich ruf Stavros an." Wir hatten uns auch in Mytilene [auf Lesbos] getroffen, als die unzähligen Boote mit Flüchtlingen kamen. Und wir hatten in den Achtzigern wortwörtlich nebeneinander gearbeitet - ich als Reporter, er als Fotoreporter. Und später, mit den "Protagonistes" [einer Sendereihe von Stavros Theodorakis], griffen wir auf Yannis zurück, wenn wir ein besonderes Foto brauchten. Sein Verlust konfrontiert uns mit dem Unerklärlichen und der Ungerechtigkeit des Todes. Er war gerade 58 Jahre alt, er machte das Richtige, er war dem Tod bei seinen Kriegsreportagen entronnen und wurde von dieser Scheißkrankheit besiegt.

Die Bürger sehen oft, dass Politiker zu feige sind, Entscheidungen zu treffen. Sie verzögern Problemlösungen, als ob das Leben endlos wäre. Sollte es nicht eine Vorschrift geben, dass Politiker als Pflicht haben, einmal im Monat eine Intensivstation oder eine Notfallambulanz aufzusuchen?

Stavros Theodorakis: Das ist keine schlechte Idee. Allerdings müssten die Politiker allein dorthin gehen. Nicht mit ihrer Entourage, Gewerkschaftsbossen, Ärzten und Polizisten. Es darf dann keine Filter geben, keine Vermittler. Die meisten Politiker, vor allem die, welche rund um die Regierung versammelt sind, haben einen Abstand zum realen Leben. Sie werden von einer Limousine zu Hause abgeholt und in den Hof des Parlaments gefahren … Von dort holt sie wieder die Limousine ab und fährt sie zu einem Parteitreffen. Was sollen die da noch sehen können? Oder gar wahrnehmen?

Als Sie Journalist waren, prangerten Sie die Fehler der Politiker an. Haben Sie heute noch die Fähigkeit erhalten, die Fehler des Politikers Theodorakis zu erkennen?

Stavros Theodorakis: Wenn man dreißig Jahre Journalist ist, bleibt das kritische Auge auf alles und alle, auch auf die eigene Person, geschärft. Ich bin gegenüber meinen Fehlern streng. Aber wenn ich sie hin und wieder nicht selbst sehe, habe ich Freunde, die sie sehen und mich offen kritisieren.

Gibt es Pressefreiheit? Welche Quintessenz ziehen Sie nach dreißig Jahren Berufserfahrung im Journalismus. Oder sind wir nicht nur frei, das zu schreiben, was wir wollen, so lange es dem Verleger gefällt? Inwiefern hat dies negative Auswirkungen auf die Gesellschaft?

Stavros Theodorakis: Der Verleger, und in vielen Fällen auch ein mit dem Verleger befreundeter Politiker, bestimmen leider in vielen Fällen das, was eine Zeitung, ein Radio oder eine Internetseite berichten. Je kleiner der Markt der Medien ist, umso schwächer fühlen sich die Journalisten und umso schweigsamer sind sie gegenüber den Eingriffen der Verleger und anderen Mächtigen. Verlierer dabei ist mit Sicherheit die Allgemeinheit. Wir erfahren nie die ganze Wahrheit. Und langsam, aber sicher gibt es immer weniger Menschen, die weiter gehen, als es diejenigen erlauben, welche den Informationsfluss kontrollieren.

Sie fotografieren auch selbst. Auf ihrem Instagram-Account posten Sie Fotos, die nicht unbedingt für einen Politiker typisch sind. Welches Bild, was für ein Foto, würden Sie als Symbol des heutigen Griechenlands sehen?

Stavros Theodorakis: Sie stellen mir eine schwierige Aufgabe. Wie kann unser erratisches Vaterland, mit all seinen guten und schlechten Seiten, in ein Foto gefasst werden? Das Foto von Behrakis mit einem Vater, der mit seinem Kind im Arm durch den Regen geht, muss uns immer im Gedächtnis sein. Es kann die einsame Reise eines Flüchtlings zeigen, aber es kann auch uns zeigen, wie wir auf einem Weg, der nicht immer freundlich ist, das retten wollen, was wir lieben.