"Der Blick fällt unweigerlich auf den rechten Flügel der SPD"

Uwe Soukup vermutet hinter der polizeilichen Eskalationsstrategie am 2. Juni 1967 einen anderen Urheber als den damaligen Bürgermeister Heinrich Albertz

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Berühmt und berüchtigt geworden ist der von März bis September 1967 als regierender Bürgermeister von Berlin tätige Theologe Heinrich Albertz (SPD) mit einer Erklärung, anhand der er sich noch in der Nacht vom 2. Juni, wenige Stunden nachdem der Student Benno Ohnesorg durch einen Schuss von Karl-Heinz Kurras ermordet worden war, hinter die brutale Vorgehensweise der Polizei gegen friedliche Demonstranten anlässlich des Schah-Besuchs stellte:

Die Geduld der Stadt ist am Ende. Einige Dutzend Demonstranten, unter ihnen auch Studenten, haben sich das traurige Verdienst erworben, nicht nur einen Gast der Bundesrepublik Deutschland in der deutschen Hauptstadt beschimpft und beleidigt zu haben, auf ihr Konto gehen auch ein Toter und zahlreiche Verletzte - Polizeibeamte und Demonstranten. Die Polizei, durch Rowdies provoziert, war gezwungen, scharf vorzugehen und von ihren Schlagstöcken Gebrauch zu machen. Ich sage ausdrücklich und mit Nachdruck, dass ich das Verhalten der Polizei billige und dass ich mich durch eigenen Augenschein davon überzeugt habe, dass sich die Polizei bis an die Grenze des Zumutbaren zurückgehalten hat.

Ignorierte Anweisungen

Wie der Journalist, Buchautor und Herausgeber der Schriften Sebastian Haffners, Uwe Soukup, in einem Booklet zur nun erschienenen DVD Der 2. Juni 1967 schreibt, stammt diese Erklärung nicht von Albertz selber, der von den realen Vorkommnissen getäuscht wurde, sondern von seinem Pressesprecher Hanns Peter Hertz, welcher später das Statement selber als "schweren politischen Fehler" bezeichnete. Diese kam in dieser Schärfe auch dadurch zustande, weil der damalige Berliner Polizeipräsident Erich Duensing, der bis dahin das Vertrauen des Bürgermeisters besaß, weil er den zur Bekennenden Kirche gehörenden und im Dritten Reich mehrmals inhaftierten Theologen während des 2. Weltkriegs in seiner Kompanie mehrfach geschützt hatte, eine klare Einverständniserklärung des Bürgermeisters zum Polizeieinsatz forderte.

Heinrich Albertz. Bild: Bundesarchiv, B 145 Bild-F023743-0014 / Wegmann, Ludwig / CC-BY-SA

Auch wusste Albertz damals noch nicht, dass seine Anweisungen, die Demonstranten nicht so weit an die Berliner Oper herankommen zu lassen, schlichtweg ignoriert wurden. Diese blieben nämlich beim damals höchsten Aufsichtsbeamten der Berliner Polizei, Hans-Joachim Prill, dem Freund des parteiinternen Rivalen und Anführers des hiesigen rechten SPD-Flügels Kurt Neubauer (von dem später noch die Rede sein wird) hängen - mit der Begründung, sie seien ihm lediglich telefonisch und noch dazu von Albertz Sekretärin übermittelt worden. Schriftliche Anweisungen wurden jedoch gleichfalls nicht beachtet - schließlich habe "der Regierende Bürgermeister [...] kein direktes Weisungsrecht gegenüber der Polizeibehörde."

Agents provocateur hinter dem Bauzaun?

So wurden am Abend des 2. Juni 1967 die Demonstranten in Wurfweite in einen engen Schlauch eingezwängt, der nach vorne durch Polizeiabsperrungen und nach hinten durch einen Bauzaun begrenzt war, hinter dem Steine auf die Oper geschmissen wurden. Bevor aber von dort Steine flogen, wurden die Demonstranten von Bäumen und vom Bauzaun heruntergeprügelt, sodass es keine offiziellen Augenzeugen dafür gibt, wer letztendlich diese Steine geworfen hat. Passenderweise war vorher ein in der Nähe der Oper parkender Lieferwagen, der Tomaten und Eier geladen hatte, von der Polizei nicht als potenzieller Wurfgeschosslieferant erkannt worden.

Bewusste Eskalationsstrategie

Als sich die Demonstranten sich mehrheitlich nicht dieser bedienten und die Protestkundgebung weitgehend friedlich verlief, wurden nach Soukup Steine über den Bauzaun in Richtung Oper geworfen. - Ein Vorwand für den erbarmungslosen Polizeieinsatz war somit gegeben.

Bereits am Nachmittag hatte die Polizei vor dem Rathaus in Schöneberg tatenlos zugesehen, wie mit Bussen angekarrten Schahanhänger, welche sich unter anderem aus Schlägertruppen des iranischen Geheimdienstes rekrutierten, mit Gummiknüppeln, Totschlägern und Dachlatten auf die Sprechchöre skandierenden und Plakate hochhebenden Demonstranten losgingen. Nach einiger Zeit ließ sich berittene Polizei blicken - um nun ihrerseits auf die friedlichen Protestierer einzuprügeln. Dies war, wie sich zeigen sollte, der erste Schritt einer bewusst brutalen Eskalationsstrategie der Berliner Polizei, die mit insgesamt 5000 Beamten in Uniform und Zivil gegen unbedarfte Demonstranten losging. Am Abend prügelte man die Demonstranten unweit der Berliner Oper noch erbarmungsloser, wobei die Polizei die Demonstration nach dem berüchtigten Leberwurst-Prinzip teilte. Unmittelbar vor der Prügelorgie wurde laut Soukup per Lautsprecherdurchsage die unwahre Behauptung mitgeteilt, dass ein Polizist erstochen worden sei. Nun prügelte man die Mehrheit der Demonstranten in Richtung Krumme Straße. Hier wurden gezielt "Rädelsführer" aus der Menge gerissen, geprügelt, verhaftet und weitergeprügelt.

Tödlich verletzter Benno Ohnesorg am Boden weiter verprügelt

Für das Herausgreifen setzte die Polizei Beamte in Zivil ein, die für das Handgemenge nur mit einer einzigen Waffe ausgestattet waren: Ihrer Dienstpistole.

Als nun ein "Rädelsführer" von Polizisten in einen Hinterhof gejagt wurde, folgte diesen der sechsundzwanzigjährige Student Benno Ohnesorg, der sich kurz zuvor von seiner schwangeren Frau getrennt hatte. In dem Hinterhof kamen nun uniformierte Polizeibeamte hinzu. In dieser eskalierenden, unübersichtlich gewordenen Situation versuchte Benno Ohnesorg zu fliehen, wurde aber festgehalten, niedergeknüppelt, von Karl-Heinz Kurass in den Hinterkopf geschossen und - tödlich verletzt -weiterverprügelt. Der Waffennarr und Meisterschütze Kurass sagte später aus, er habe aus Notwehr gehandelt und die Pistole sei versehentlich abgefeuert worden, was aber von Augenzeugen aus Reihen der Demonstranten nicht bestätigt bzw. dementiert wurde. Vielmehr meinten diese, Ohnesorg sei von Polizeibeamten umringt gewesen und hätte sich, während auf ihm eingeprügelt wurde, passiv verhalten. Nachdem ein Krankenwagen Ohnesorg aufgenommen hatte, wurde der Schwerstverletzte erst 45 Minuten später am vom Tatort weit entfernt gelegenen Krankenhaus Moabit abgeliefert.

Stasi-Agent Kurass ein Doppelagent?

Hier entfernten die Ärzte dem Toten neben dem Projektil auch Teile des Schädelknochens und nähten die Schusswunde zu, weshalb direkt nach dem Mord von Seiten der Springer-Presse berichtet wurde, es hätte gar keinen Erschossenen gegeben - was wiederum ein Grund war, warum Heinrich Albertz der martialisch formulierten Presseerklärung zustimmte.

Seit der Enthüllung der SED-Mitgliedschaft und der Spionage-Tätigkeit für die DDR von Karl-Heinz Kurras wird in den Medien darüber spekuliert, dass Kurras mit dem Mord einen Auftrag der Staatssicherheit ausgeführt haben könnte, um die Verhältnisse in Westdeutschland zu destabilisieren. Uwe Soukup kommt zu anderen Schlüssen. Die Stasi, so der Journalist, sei von den Ereignissen sichtlich überrascht gewesen, hätte Kurras bereits am 9. Juni 1967 den "Mörder Benno Ohnesorgs" genannt und die Zusammenarbeit schlagartig eingestellt. Darüber hinaus sei der wichtige aber leichtsinnige DDR-Spion (z.B. hatte er wiederholt seine Führungsoffizierin in seinen Diensträumen empfangen) bereits 1965 ins Visier des westdeutschen Verfassungsschutzes geraten, aber aus unbekannten Gründen wieder entlastet worden. Auffallenderweise sind die Kurras-Akten des Bundesverfassungsschutzes in Berlin laut Innensenator Ehrhart Körting "aus Datenschutzgründen" vernichtet worden, so dass nicht mehr nachprüfbar ist, ob der leichtsinnige Ost-Spion nicht vielleicht enttarnt und zum Doppelagenten umgepolt wurde. "Es bleibt", so Soukoup, "die Frage, wer den Tod eines Demonstranten ein Interesse gehabt haben könnte":

Der Blick fällt unweigerlich auf den rechten Flügel der SPD. Alles, was am 2. Juni in Berlin passiert war, richtete sich einerseits gegen die Studenten, andererseits gegen den Albertz-Senat. Prill und seine Kollegen - auch sein Freund Neubauer? - planten den Tag entgegen den Vorgaben der politischen Entscheidungsträger. Sie schufen das Chaos, in dem es zu dem tödlichen Schuss kam, und erst der tödliche Schuss fegte Duensing, Büsch und Albertz aus ihren Ämtern. Dieses Szenario ist sehr viel wahrscheinlicher als die Annahme eines Stasi-Mords.

In der Tat wurde auch später Kurt Neubauer immer wieder mit dubiosen Geheimdienstmaßnahmen wie dem Einsetzen des Verfassungsschutzspitzels Peter Urbach, der die Studentenszene munter mit Waffen versorgte und dem Mord an V-Mann Ulrich Schmücker in Verbindung gebracht. 1968 äußerte sich Heinrich Albertz (der sich 1975 bereit erklärte, bei der Entführung von Peter Lorenz durch die Bewegung 2. Juni als Geisel zu fungieren) über seinen Parteigenossen wie folgt: "Neubauer ist ein Verbrecher, dem ist alles zuzutrauen. [...]. Das sind Leute, die haben kein Gewissen, die schießen."