Der Chor als Quasi-Sprachrohr einer klugen öffentlichen Meinung

Farah Khan inszeniert mit "Om Shanti Om" einen subversiven Blockbuster

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

In vielen neueren amerikanischen und europäischen Filmen fällt der Musik die unglückliche Aufgabe zu, durch die fatale Verdoppelung der in den Streifen oftmals recht stereotypisch und plakativ vermittelten Gefühlslage (jetzt sind wir froh, nun wird es spannend, jetzt sind wir traurig, nun wird es gut) eine Art unbeabsichtigten Verfremdungseffekt bei den Machwerken auslösen, so dass anstelle der gewünschten Identifikation des Zuschauers genau das Gegenteil erreicht wird. Wie es anders geht zeigt der indische Blockbuster "Om Shanti Om" der heute in den deutschen Kinos anläuft und sowohl eine Hommage als auch eine Parodie seines Genres darstellt.

Es werden zwar überall auf der Welt Filme gedreht, aber dann doch nur fast allerorten gleich: In Amerika und Europa dauern die Filme ca. 90 Minuten. Außerdem darf mindestens geknutscht werden und zumeist gibt es ein Happy-End á la Gebrüder Grimm. In Indien dauern die äußerst familientauglichen Filme auch ohne den Austausch von Zärtlichkeiten und paradiesischem Ende locker das Doppelte.

Alle Bilder: Eros International

Das ist zwar nicht soviel Zeit, um das indische Nationalepos, die Mahabharata, in Szene zu setzen - aber immerhin kann es sich ein Spielfilm wie “Om Shanti Om“ erlauben, am Ende der ersten Hälfte des Films seinen Helden sterben zu lassen, um ihn reinkarniert dann im letzten Drittel seines Vorlebens gegenwärtig werden zu lassen und den alten Kampf unter neuen Voraussetzungen wieder aufzunehmen. Zwischendurch gibt es schon einmal ein paar viertelstündige Tanzszenen (bei denen man nicht weiß, ob Outcast bei ihrem Video zu "Hey Ya" von Bollywood inspiriert war oder umgekehrt) in denen ca. dreißig in Europa weitgehend unbekannte Stars des indischen Kinos Gastauftritte haben, dafür aber auch zahlreiche Zitate aus Bollywoodfilmen wie auch Anspielungen auf Shakespeaere, Edgar Allen Poe und neuere Horrorfilme wie The Grudge.

Der Film beginnt in den Siebziger Jahren: Om (Shah Rukh Khan), der als Statist in Bollywood arbeitet und gerne ein Filmstar werden möchte, ist in eine Leinwanddiva namens Shantipriya (eine Schönheit bis hin zum optischen Stress: Deepika Padukone),verknallt. Er rettet ihr während eines Drehs das Leben und lernt sie näher kennen. Bald jedoch wird ihm gewahr, dass sie heimlich mit dem schurkischen Filmproduzenten Mukesh Mehra verheiratet ist und von ihm ein Kind erwartet. Dieser ist von letzterem nicht gerade begeistert, da er als Mutter den Star für sein nächstes Filmprojekt “Om Shanti Om” nicht mehr vermarkten kann und außerdem die reiche Tochter eines reichen Geschäftsmanns heiraten will. Er sperrt Shanti deshalb in ein brennendes Filmstudio. Om kann seine Angebetete nicht aus den Flammen retten, sondern stirbt selber an seinen Verletzungen, wird allerdings sogleich als Sohn des Filmstars Rajesh Kapoor wiedergeboren.

Der zweite Teil des Films beginnt dreißig Jahre später. Om Kapoor ist nun selber Filmstar und ein verwöhnter Schnösel. Auf der Suche nach einem passenden Setting für einen neuen Film gelangt er auf das abgebrannte Filmgelände und wird fortan von ihm rätselhaften Erinnerungen und Visionen heimgesucht. Nach und nach wird ihm klar wer er eigentlich ist und auf einer Party erkennt er den schleimigen Mukesh als Mörder seiner Holden wieder, der in der Zwischenzeit ein berühmter Hollywoodproduzent geworden ist. Om überredet ihn, mit ihm zusammen einen Film zu drehen. Was Mukesh allerdings nicht weiß: Der Film, ein Remake von “Om Shanti Om” spielt auf dem abgebrannten Studiogelände, mit dem (unentdeckt gebliebenen) Mord als Ende - und die Hauptrolle wird mit einer Doppelgängerin Shantis besetzt.

Allmählich bleibt dem Halunken nicht verborgen, dass etwas gegen ihn im Busch ist. Auf der Eröffnungsfeier zum ersten Dreh wird er mit der Doppelgängerin von Shanti konfrontiert. Om stellt ihn daraufhin zur Rede. Der Meuchler gibt alles zu, weiß sich allerdings in Sicherheit, weil die Untat nicht bewiesen werden kann. Wie sollte ein Gericht Om als Wiedergänger des verstorbenen Om und somit als Zeugen anerkennen? Daraufhin erscheint der Geist von Shanti, welche die wahre Geschichte ihres Todes erzählt (sie hatte den Brand schwer verletzt überlebt und wurde von Mukesh lebendig begraben). Anschließend führt sie den Schurken seiner gerechten Strafe zu. Der Geist verschwindet wieder und am Ende liegen sich Om und die eher linkische Doppelgängerin Shantis in den Armen.

Tanzszenen mit Chorfunktion

Der Film besitzt einige hinreißende Tanzszenen, deren Songs die Handlung in der Art eines griechischen Chors kommentieren. (Der „Chor ist die Weisheit des Volkes, die in den Werken der Alten zu Sprache kommt“ wusste Georg Wilhelm Friedrich Hegel über diesen zu sagen). Die Musicalelemente besitzen also (von einigen fünfzehnminütigen Tanzszenen abgesehen, in denen sich alte und neue Bollywoodstars unentwegt die Hände schütteln) eine tragende Funktion innerhalb des Handlungsaufbaus - als Quasi-Sprachrohr einer klugen (!) öffentlichen Meinung.

Ferner verdeutlichen die Tanz- und Musikeinlagen in “Om Shanti Om“ die Mission der Kunst, insofern sich Musik und Tanz als das Schöne überhaupt als prägende Struktur über die Sinnverdichtung der Handlung legen, die moderne Arbeitsteilung von Sprechen, Musik und Tanz in dithyrambisch aufgehoben wird und zugleich das Poetische (als Möglichkeit zur Selbstbestimmung) über die bloße Schicksalsnotwendigkeit (als deren höchstes, reflektierendes Moment der Handlung) nicht ganz aber tendenziell triumphiert. Gleich dreimal im Film wird dieser Gedanke leitmotivisch in einer (von Paulo Coelho inspirierte) Dankesrede formuliert, welche nicht nur ironisch die Oscardankesrede zum schlechtesten Films aller Zeiten zitiert, sondern am Ende des Films dessen utopisches Moment auf den Punkt bringt und quasi als Auftrag, zu kämpfen das Mandat der Kunst in die Welt zu bringen, die Beschränkungen der Filmkunst transzendiert:

Ladies and Gentlemen. They say, if you want something with your heart, the whole universe will try to help you get it. Finally everyone has helped me achieve this goal. Thanks, thanks very much. I feel like the king of the world. Today, I realized that in life, like in our movies, everything becomes good in the end. And if it does not get better, then it is not the end. The movie is still not over yet.

Der Film ist nicht nur wegen seines gleichzeitig überaus naiven und äußerst verzwickten Plots, der prächtigen Ausstattung, des Humors und der mitunter selbstironisch agierenden Schauspieler sehenswert, sondern besitzt auch einige unübersehbare, kritische Noten. Der Streifen feiert ebenso sehr das Genre Film, wie er dieses kritisiert: Neben der allgemeinen Geschäftemacherei werden die psychischen Deformationsprozesse des Filmbusiness und die allgemeine Tendenz zur Verhollywoodisierung von Subjektivität thematisiert. Die Menschen werden als Charaktere von phantasielosen Produzenten auf Rollenklischees reduziert, die sie dann als menschgewordene Aktien auf der VIP-Börse im Alltag weiterleben, bis eines Tages unter der idealisierten Hülle der Durchschnittsmensch zu Vorschein kommt und der Marktwert erlischt.

Diese Form von Selbstbild, in dem sich die Menschen mit Klischees zufrieden geben und gleichzeitig diesen nicht genügen können, findet immer mehr Nachahmer: Menschen die in der Warenform aufgehen möchten, es aber nicht können, sich genau dies zum Vorwurf machen und als Arbeits- und Konsumameise umso verbissener an der vorgestanzten aber vergeblichen Ichwerdung arbeiten. Alles in allem ist der Film ein Aufbegehren dagegen, dass der Mensch von rigiden Marktmechanismen beherrscht wird, die ihn zur Teilchenfunktion seiner selbst degradieren und es wird realistisch dargestellt, dass man schon in die chosen few hineingeboren werden muss, um zu Reichtum und Ansehen zu gelangen. “Om Shanti Om“ vermittelt die Erkenntnis, dass in den Menschen unendlich mehr Möglichkeiten stecken, als in den erstarrten gesellschaftlichen Verhältnissen zum Vorschein kommen und er zeigt dies, indem er sich als Bollywoodstreifen zum Kunstwerk erhöht.