Der Durchbruch der Zweiseiter

Es erscheint uns heute ganz normal, aber vor 600 Millionen Jahren war spiegelsymmetrisches Leben (wie beim Menschen) noch unbekannt

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Vor rund 600 Millionen Jahren, im Ediacarium, hat die Erde gerade die ewig scheinenden Eiszeiten des Cryogeniums überstanden. Die Schnellball-Erde hatte sich zur Wasserball-Erde gewandelt. Der Superkontinent Rodinia war in die drei größeren Kontinente Laurentia, Baltica und Sibiria zerfallen, der neue Superkontinent Gondwana hatte sich gebildet. Die Erde muss trotzdem für heutige Gewohnheiten trostlos ausgesehen haben, denn höhere Vegetation existierte noch nicht. Dass das Leben geradezu explodierte, dürfte dem zufälligen außerirdischen Besucher noch verborgen geblieben sein, jedenfalls bis er seine Stiefelsohlen inspizierte. Denn Pflanzen existierten nur in mikroskopischer Größe, Rot- und Grünalgen waren wohl weit verbreitet.

Die interessantesten Lebensräume fanden sich wohl unterseeisch: Hier hatten sich ganze Matten aus pflanzlicher Materie über den Seesand gelegt, wie winzige Wälder. Kleinste Tiere gingen darin auf Futtersuche - Mehrzeller bereits, aber nur Millimeter groß. Vor allem aber waren sie radialsymmetrisch, wie heute etwa Quallen und Polypen, das dem Menschen vertrautere Konstruktionsprinzip der Spiegelsymmetrie hatte sich noch nicht durchgesetzt.

Das Ediacarium jedoch sollte die Zweiseiter, die Bilateria, zur Blüte bringen. Das zeigen Fossilienfunde, von denen Forscher jetzt in Science berichten. Bisher hatte man das früheste Auftreten der Bilateria (zu denen auch die Wirbeltiere und damit der Mensch gehört) vor etwa 558 Millionen Jahren vermutet, darauf wiesen jedenfalls frühere Funde hin. Die neuen Spuren geben den spiegelsymmetrischen Tieren fast 30 Millionen Jahre mehr Entwicklungszeit, eine beachtliche Spanne.

Gefunden haben die Forscher allerdings keine Überreste der Tiere selbst, sondern fossilierte Spuren. Erst die Bilateria, die auch ein Ende und einen Anfang haben (das ist keine Selbstverständlichkeit) und damit eine bevorzugte Bewegungsrichtung, konnten solche Spuren hervorbringen. Wie kommt es, dass schmale Bewegungskanäle millimetergroßer Urtiere fast 600 Millionen Jahre überdauern?

Dafür musste schon einiges zusammenkommen, wie ein begleitender Beitrag in Science beschreibt. Wenn sich ein früher Wurm (vermutlich handelte es sich um etwa einen Zentimeter lange und ein bis zwei Millimeter dicke Tierchen) einfach nur über die Mikroben-Unterlage auf dem Sandboden des Meeres bewegte, hinterließ er darin zwar eine Spur, doch da er den Sand nicht berührte, wurde diese nicht konserviert.

Foto der gefundenen Spuren (Bild: Ernesto Pecoits und Natalie Aubet)

Damit die Forscher auch heute noch etwas erkennen können, muss sich über die dünne Pflanzenschicht zumindest teilweise schon Sediment gelagert haben. Wenn der Wurm nun zwischen seiner Nahrungsquelle und dem Sand hindurch kroch, hinterließ er in dem Sediment über ihm eine (nach innen gedrückte) Spur. Millionen Jahre später ist von der Mikroben-Schicht und vom Wurm nichts mehr übrig. Stattdessen hat sich aus dem Sand (heute Sandstein) darunter ein positiver Abdruck in die Wurm-Spur gepresst. Beides, also den negativen Abdruck und den positiven "Abguss" haben die Forscher nun in Sandstein-Formationen in Uruguay identifiziert.

Beeindruckende Wissenschaft

Beeindruckend ist, welche Informationen die Wissenschaftler den winzigen Spuren abpressen konnten. Die Tiere, die sie hinterlassen haben, müssen sich demnach mit peristaltischen Bewegungen nach vorn gerobbt haben, und zwar pro Schub um nicht mehr als 0,5 Millimeter. Dabei wurden sie wohl von einer Art Füße unterstützt. Die Ausdehnung und Form der Spuren deutet darauf hin, dass die Tiere bereits rudimentäre Optimierungsstrategien bei der Nahrungssuche beherrschten. Anderen Tieren gingen sie noch nicht aus dem Weg. Eventuell nutzten sie sogar schon chemische Sensoren, um den Weg zur Nahrung zu finden.

Aus den frühen Zweiseitern sollte sich später, im Kambrium, eine riesige Familie von Würmern entwickeln. Irgendwann wurde aus dem ursprünglichen Mund ein After, ein neuer Mund bildete sich an der Vorderseite - als Teil dieser Gruppe der Neumünder spalteten sich später die Wirbeltiere ab, aus denen auch der Mensch hervorging.