Der Fall der verschwundenen Antimaterie

Ein Mysterium, das Teilchenphysiker und Kosmologen gleichermaßen fesselt, steht womöglich vor der Aufklärung

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Dass unsere Welt beinahe komplett aus Materie besteht, dürfte als bekannt vorauszusetzen sein. Wer genügend Science-Fiction-Romane gelesen hat, weiß auch sehr gut, was beim Zusammentreffen von Materie und Antimaterie passiert. Insofern müsste die im Vorspann gestellte Frage eigentlich sehr simpel zu beantworten sein: Weil es praktisch ist - nennen wir diese Erklärung doch praktischerweise Praktisch-Theorie. Zwar fordert Ockhams Skalpell von wissenschaftlichen Theorien, möglichst wenig Annahmen vorauszusetzen (eine Forderung, die die Praktisch-Theorie glänzend bestehen dürfte), doch Wissenschaftler geben sich nicht gern mit kurzen Erklärungen ab.

Sie wollen die ganze Wahrheit, nichts als die Wahrheit, und tun sich doch immer wieder schwer damit. Denn eigentlich, das haben wir mal in der Schule gelernt, sind doch Materie und Antimaterie genau gleich, bis auf den kleinen Unterschied? Quantenmechanik und Relativitätstheorie, so der damalige Stand, geben jeden Teilchen sein gegensätzlich geladenes, aber ansonsten exakt gleiches Antiteilchen an die Hand. Hat hier unser Physiklehrer geirrt, oder er wollte uns nicht die ganze Wahrheit zumuten? Es ist tatsächlich in all den schönen Theorien nicht viel Platz für die Asymmetrie, die wir praktischerweise im Weltall beobachten. Teilchen und Antiteilchen müssen sich manchmal (wohl immer, wenn wir nicht hinschauen) auf ganz unscheinbare (um nicht zu sagen arglistige) Weise unterschiedlich verhalten.

Dazu treibt sie anscheinend die Schwache Wechselwirkung, eine der Grundkräfte der Physik, die nur über sehr kleine Abstände hin wirksam ist. Bei ihr kann es nämlich unter Umständen zur CP-Verletzung kommen, einer Verletzung der Spiegelbildlichkeit jeglicher physikalischer Prozesse. Im Standardmodell der Teilchenphysik ist die CP-Verletzung bisher aber nicht erfolgreich verankert. Die Physiker haben zwar Ideen dazu entwickelt, diese aber bisher noch nicht komplett im Experiment nachweisen können.

Als hervorragende Kandidaten dafür gelten die B-Mesonen, relativ schwere Teilchen mit ungefähr fünffacher Protonenmasse, die ein Bottom-Quark (oder Bottom-Antiquark) enthalten und für gerade einmal zwei Billionstel Sekunden überleben. Gleich zwei Hochenergie-Experimente, BaBaR in den USA und Belle in Japan, beobachten nun seit einiger Zeit genau, wie B-Mesonen zerfallen.

Dass geladene B-Mesonen anders zerfallen als ungeladene, konnten die Forscher schon 2002 nachweisen. Nunmehr gelang es den japanischen Wissenschaftlern, die Genauigkeit der Messergebnisse um den Faktor 1,7 zu verbessern, wie sie im Wissenschaftsmagazin Nature berichten. 535 Millionen Paare aus B- und Anti-B-Mesonen ließen die Forscher dafür miteinander reagieren, in einem Teilchenbeschleuniger, der ein Quadrat von einem Zentimeter Kantenlänge pro Sekunde mit 1,7 * 10 hoch 37 Teilchen (eine 1 mit 37 Nullen) bombardieren könnte.

Sind wir damit der Lösung des Kriminalfalls ein Stück näher gekommen? Ein begleitender Artikel in Nature beraubt uns aller Illusionen. Das Modell, das die Forscher mit BaBar und Belle gerade nachzuweisen versuchen, produziert lediglich Asymmetrien, die um zehn Größenordnungen (!) zu klein dazu sind, die Ungleichverteilung von Materie und Antimaterie im Kosmos zu erklären. Woher kommt das Ungleichgewicht dann? Eine Quelle könnte die Existenz noch größerer, bisher unentdeckter Elementarteilchen sein, meint der Nature-Autor. Die Suche nach ihnen beginnt demnächst in der Schweiz - am Large Hadron Collider des CERN.