Der Feldherr und seine Vordenker

Putins geistige Väter und sein Bruch mit dem Westen. Europa ist nicht nur Zaungast, sondern auch unaufrichtig

56 Minuten lang übte sich Russlands Präsident Wladimir Putin am 21. Februar in Frontalunterricht in Sachen russischer Geschichte. So sprach er in Bezug auf die Ukraine von einem "spirituellen Raum". Die Ukraine, so Putin, sei integraler Bestandteil der russischen Kultur.

Das Land spiele jedoch die Rolle eines willfährigen Schergen des Westens, "von den Streitkräften der Nato-Ländern kolonisiert". Diese hätten Russland umzingelt:

Sie haben uns betrogen.
Wladimir Putin, 21. Februar 2022

"Audiatur et altera pars"

Die Schweizer Regionalzeitung La Liberté aus Fribourg druckte Putins Rede am 5. März auszugsweise in Form einer Anzeige ab. Über dem Inserat in der französischsprachigen Zeitung prangte als lateinische Überschrift: "Audiatur et altera pars", zu Deutsch: "Auch die andere Seite werde gehört". Man sieht es dokumentarisch, nicht politisch-propagandistisch.

Et altera pars: Es scheint so, dass eine eurozentrierte Wahrnehmung wie selbstverständlich von einer Seite des Guten und einer Seite des Bösen ausgeht. Noch gut kann ich mich aus eigener Erfahrung daran erinnern, dass in meinem Elternhaus diese Tradition gepflegt wurde.

Meine katholisch erzogene Mutter zum Beispiel las das kirchliche Nachrichtenblatt, das wöchentlich im Briefkasten landete, und dieses Blättchen hörte nicht auf, Russland als Feind und als Bedrohung von Glauben und Freiheit zu brandmarken. Das war in den 1960ern; mit einem deutlichen Nachklang der braunen Vergangenheit, die den Bolschewismus um jeden Preis auslöschen wollte.

Schaltet man derzeit, anno 2022, Radio und Fernseher ein, so glaubt man sich zurückversetzt, so krank ist die unkritische Darstellungsweise und das Loblied auf eine "westliche Wertegemeinschaft", die es in Wahrheit in der propagierten Form nie gab und die überdies auf eine blutige Tradition zurückblickt, die in der Welt ihresgleichen sucht. Man lese einmal bei Walter Benjamin nach, was er über den "Engel der Geschichte" schrieb.

Dies soll und kann selbstverständlich keine Entschuldigung für Putins Einmarsch in die Ukraine mit der ihm eigenen Gewaltausübung und Zerstörung von Menschenleben und Dingen sein. Auch die Fahndung nach möglichen geistigen Vätern Putins dient insoweit nicht einer versteckten Legitimierung oder Relativierung. Sie kann vielleicht helfen, den Blick zu schärfen für eine Geisteshaltung, die sich aus Quellen nährt, die westlichen Gemütern nicht so ohne Weiteres zugänglich sind.

Putin, daran kann kein Zweifel bestehen, bedient mit dem, was er tut und sagt, auch einen semantischen Raum.

Frage: Gehört Russland zu Europa? Im Moment scheint diese Frage definitiv beantwortet zu sein, kaum jemand würde sich finden, der sie bejaht. Aber geht man nur einen Schritt zurück, stellen sich weitere Fragen ein. Und brennende noch dazu.

Hier ein etwas längerer Auszug aus Putins Rede:

Außerdem werde ich etwas sagen, was ich noch nie öffentlich gesagt habe, ich werde es jetzt zum ersten Mal sagen. Als der damals scheidende US-Präsident Bill Clinton im Jahr 2000 Moskau besuchte, fragte ich ihn, was Amerika von einem Beitritt Russlands zur Nato halten würde.
Ich werde nicht alle Einzelheiten dieses Gesprächs preisgeben, aber die Reaktion auf meine Frage war, sagen wir, eher zurückhaltend, und die wahre Einstellung der Amerikaner zu dieser Möglichkeit lässt sich in der Tat an ihren nachfolgenden Schritten in Bezug auf unser Land ablesen.

Wladimir Putin, Rede vom 21. Februar 2022

Russland: "Eine Welt an sich"

"Russland ist kein regelrechter europäischer Staat, es ist eine Welt an sich", befand der russische Schriftsteller und panslawistische Programmatiker Nikolai Danilewski (1822–1885), zitiert bei Konstantin Leontjew, und letzterer fügt hinzu1:

Ja – das stimmt, und nur jemand, der von der Geschichte keine Ahnung hat, kann damit nicht einverstanden sein.

Danilewskis Opus "Russland und Europa", 1871 in Petersburg erschienen, wird auch die "Bibel" des Panslawismus genannt. Dieser Autor macht wesenhafte Unterschiede in der Mentalität und dem Charakter zwischen dem "germanisch-romanischen Kulturtyp" und einer (in seinen Augen) zu errichtenden slawischen Zivilisation aus, die er einander diametral gegenüberstellt.2

Und interessant: Als ein gemeinsames Wesensmerkmal aller Völker des germanisch-romanischen Kulturtyps erkennt Danilewski die Gewaltsamkeit. Die Werte von Individualität und Persönlichkeit seien, so der Autor, bei Menschen dieses Kulturkreises unverhältnismäßig ausgeprägt, so dass deren Überzeugung und die eigenen Interessen so hochstünden und sie versuchten, ihre Ansichten anderen gewaltsam aufzuzwingen.

Dazu habe die römische Kirche ihren Beitrag geleistet, mit ihrer religiösen Intoleranz gewissermaßen sogar das geistesgeschichtliche Fundament für jene Art Gewalt und Grausamkeit gelegt und dabei – so der Autor – unter der Hand das grundsätzlich gewaltlose Christentum für die eigene Sache instrumentalisiert.

So weit Danilewski.

Zurück zu Putin: Es ist gerade Danilewski, der mit zunehmender Amtsdauer von Wladimir Putin zitiert und in Russland vermehrt gelesen wurde, worauf Walter Laqueur aufmerksam machte. Laqueur, 1921 als Jude in Breslau geboren, überlebte in Palästina, wo er auch Russisch lernte. Als Historiker befasste er sich u.a. mit Russland, Deutschland und Israel.

Putin, der ehemalige Geheimdienstler, liebt es offenbar, teils obskure Autoren zu zitieren und sich auf ihre Entwürfe und, was Europa angeht, Gegenentwürfe zu berufen. Seine Zitierweise ist dabei oft recht eigenwillig, hinterlässt aber ihre charakteristische Spur.

Der französische Philosoph Michel Eltchaninoff stellte in seinem Buch In Putins Kopf 2016 einige der von Putin bevorzugten Autoren vor.3 Damit, so warb der Verlag, liefere Eltchaninoff auch eine "intellektuelle Biographie dieses Profis der Maskierung". Putin, der geglaubt haben soll, sein Land werde in die Nato aufgenommen, verstand sich womöglich über einen längeren Zeitraum als proeuropäisch.