Der Geist - eine komplizierte Maschine?

Der amerikanische Philosoph Paul Churchland stellt in seinem neuen Buch seine umfassende materialistische Theorie des menschlichen Gehirns vor, behauptet, Persönlichkeit und Geist seien letztlich emergente Eigenschaften von Synapsenverbindungen, und diskutiert die Folgen eines solchen Verständnisses des Menschen.

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Was intelligentes Verhalten ist, erschließen wir aus dem, was wir kennen. Daher sind intelligente Organismen und natürlich wir selbst das Vorbild für jede Konstruktion einer intelligenten Maschine. Möglicherweise würden wir andere Formen der Intelligenz gar nicht erkennen, wenn sie sich nicht ähnlich wie die unsere äußert.

Intelligenz steckt für uns im menschlichen Geist, egal ob man ihn materialistisch als organische Maschine oder idealistisch als komplizierten Mechanismus von irgendwelchen Regeln oder als ein transzendentes Vermögen betrachtet. In den Zeiten vor der Neurobiologie und vor dem Computer schien Intelligenz mit bewußter Vernunft identisch zu sein, die wir aus Introspektion kennen und die sich in expliziten Regeln der Informationsverarbeitung niederschlägt. Entsprechend wurden die ersten Systeme Künstlicher Intelligenz gebaut. Nachdem die Neurobiologie das Gehirn als kompliziertes und rückgekoppeltes Netz von chemisch und elektrisch kommunizierenden und sich beeinflussenden Neuronenpopulationen versteht und immer detaillierter beobachten kann, und nachdem sich technisch vereinfachte Netze bauen lassen, die manche der Funktionen von Neuronennetze simulieren können, hat sich die Annahme verdichtet, daß Intelligenz auf einer bestimmten Konfiguration von Verbindungen einfacher Zellen oder Knoten und aus deren Aktivitätsmuster beruht. Aus diesem Grund scheint Intelligenz und alle anderen geistigen Vermögen, einschließlich der Seele und des (Selbst)Bewußtseins, prinzipiell technisch auch auf anderer Grundlage simulierbar oder emulierbar zu sein, wobei sich Neurobiologie und computergestützte Kognitionswissenschaft wechselseitig ergänzen.

Auch wenn sich über die Möglichkeit einer technischen Realisierung aller "geistigen" Eigenschaften und Vermögen die Wissenschaftler noch streiten mögen, so herrscht doch mittlerweile weitgehend Konsens darüber, daß "Geist" eine emergente Eigenschaft des Gehirns ist und auf materiellen Prozessen beruht, also letztlich physikalisch beschrieben werden kann, selbst wenn dem die Komplexität Grenzen setzt. Der amerikanische Philosoph Paul Churchland hat schon lange die erkenntnistheoretische Wende zur Neurobiologie vollzogen und so den noch dem philosophischen Paradigma den Rücken gekehrt, mit dem die Philosophie in diesem jahrhundert durch den "linguistic turn" aus der unergiebigen Metaphysik und Introspektion befreit und zu einer Wissenschaft geistiger Vermögen erhoben werden sollte. In seinem neuesten Buch legt Churchland programmatisch die Grundlagen für ein materialistisches Verständnis des Geistes als einer "Vernunftmaschine", die gleichzeitig der Sitz der Seele ist. Als Maschine verstanden, kann Vernunft oder Geist prinzipiell technisch simuliert und beeinflußt werden. Daher will Churchland mit seinem Buch nicht nur über die neuen neurobiologischen und neurotechnologischen Erkenntnisse informieren, die mit der Aussicht auf eine "umfassende Theorie" erklären, wie unser Gehirn funktioniert, sondern er glaubt auch, daß diese Erkenntnisse und Technologien tief in unser Leben und in unseren Alltag eingreifen werden.

Gleich vorneweg sei gesagt, daß Churchland an seinem Anspruch scheitert, die Auswirkungen der Theorie der "Vernunftmaschine" und der Neurotechnologie über einige konkrete Anwendungen hinaus als Alternative zu den mit der immateriellen Seele verbundenen Vorstellungen auszuführen. Wir werden immer detaillierter in unser Gehirn und damit in unsere Persönlichkeit eingreifen können - zur Behebung von geistigen Krankheiten und Funktionsstörungen, zur Leistungssteigerung, vielleicht aber auch zur Kontrolle und Behandlung von "Kriminellen", wie Churchland meint. Man greift eben in das völlig zum Organ gewordene Gehirn mittels Chemie, Operationen oder Prothesen ebenso selbstverständlich wie in jedes andere ein, wenn man beispielsweise "kriminelle" Veranlagung lokalisiert hat und sie dann beseitigen will. Diagnosen komplizierter Krankheitsbilder überläßt man vielleicht mehr und mehr den lernenden neuronalen Netzen, und wenn lokalisierbare und meßbare kognitive Funktionen eine Persönlichkeit ausmachen, könnte man sich kortikozentrisch auch überlegen, ob man nicht das Todeskriterium noch weiter nach vorne verlegt, beispielsweise schwer an Alzheimer erkrankte Menschen schon für tot erklärt - und so vielleicht die Kosten des Gesundheitssystems senkt oder an Organe zur Transplantation kommt. Man muß dabei nicht gleich an faschistische Eugenik denken, aber viele unserer ethischen Grenzen werden dadurch doch verschwimmen.

Ob wir uns allerdings besser verstehen werden, wenn wir wissen, welche Synapsenkonfigurationen und neuronale Aktivitäten dieses oder jenes Verhalten, einen Wunsch oder ein Gefühl hervorrufen, ist fraglich - und Churchland gibt dafür auch keinerlei Hinweise, sondern kritisiert nur die sicher schwammigen Erklärungen der Psychoanalyse. Ebenso fraglich ist, was die Beispiele mit dem möglichen Umgang mit Kriminellen oder Alzheimer-Patienten zeigen, ob das Verständnis der Mitmenschen als komplizierte "Vernunftmaschinen" unser Zusammenleben fördert und nicht einem ingenieursmäßig-administrativem Umgang Vorschub leistet, auch wenn der Mensch tatsächlich nichts weiter als eine komplizierte Maschine mit einem komplexen Gehirn ist.

Solche Bedenken können natürlich keine Einwände gegen die wohlbegründete, auf vielen empirischen Erkenntnissen und durch immer leistungsfähigere neuronale Netze begründete Theorie des Geistes als emergente Eigenschaft von interagierenden Neuronenpopulationen sein. Ein menschliches Gehirn besteht ungefähr aus 100 Milliarden Neuronen, die möglicherweise 100 Billionen Verbindungen untereinander aufweisen: eine ungeheure Komplexität also, wobei viele Verbindungen sich weiterhin verändern können.

Das Gesamtmuster der Verteilung und Stärken der Synapsen legt die charakteristischen Merkmale eines jeden Individuums fest. Das Verbindungsmuster der Synapsen bestimmt, wie ein Gehirn auf sensorische Informationen und emotionale Zustände reagiert und sein zukünftiges Verhalten plant.

Paul Curchland

Daß dies vermutlich in etwa so ist und Einwände von philosophischen Kollegen wie John Searle oder Thomas Nagel oder Wissenschaftlern wie Roger Penrose in dieser Frage nicht weiterführen, kann Churchland mit großer Eindringlichkeit, Anschaulichkeit und Glaubwürdigkeit zeigen. Tatsächlich heißt etwa die Kritik, daß es eine unübersteigbare Subjektivität gebe, nicht schon, daß Geist nicht materiell sei und sich daher nicht im Prinzip auch naturwissenschaftlich erklären ließe. Aber die Tatsache, daß wir eine einzigartige Konstellation von Neuronenverknüpfungen sind und dies für uns auch als Bewußtsein der Einzigartigkeit gegeben ist, läßt sich so auch nicht wegerklären. Natürlich gehen die Verteidiger des Geistes als eines nicht-reduktionistischen Phänomens für das Subjekt in die Falle, wenn sie wissenschaftstheoretisch für irgendeine Form des Dualismus argumentieren, aber Churchland scheint doch in seinem enthusiastischem Überschwang zu vergessen, daß wir uns selbst in maschinellen Metaphern nie ganz Zuhause fühlen werden. Wenn ich jemanden liebe, dann mag das bestimmte Neuronenpopulationen aktivieren und sich in bestimmten sensomotorischen Vektoren niederschlagen, aber unser Gefühl geht nicht in der Erkenntnis auf, daß die Areale x, y und z erregt sind oder diese oder jene Verbindungsmuster zwischen Neuronen vorliegen. Unser bewußtes Erleben ist, Emergenz hin oder her, von den Vorgängen in unserem Gehirn abgeschottet. Sollten wir uns also permanent etwa an ein funktionelles Magnetresonanz-Spektroskop anschließen und unser Verhalten danach ausrichten, was wir hier an Aktivitätsmustern beobachten können, oder diese umgekehrt durch die Erzeugung magnetischer Felder gezielt beeinflussen?

Eine grundsätzliche, wenn auch weit verbreitete Schwäche des von Churchland überdies stillschweigend vorausgesetzten neuronalen Dogmas, die sich auch auf die mögliche Simulation des Bewußtseins durch neuronale Netze auswirken könnte, ist die Vernachlässigung der "flüssigen" Kommunikation und Selbstorganisation des biologischen Gehirns. Während das neuronale Dogma von einer massiv parallelen Verarbeitung von Informationen in Netzwerken von lokal verbundenen und rückgekoppelten Neuronen ausgeht, gibt es jedoch auch eine großräumige Selbststimulation etwa durch die Ausschüttung von Hormonen, die gleichzeitig viele mit entsprechenden Rezeptoren versehene Neuronen beeinflussen. Das ist vermutlich noch nicht mit künstlichen neuronalen Netzen simulierbar, die zudem zwar verschieden gewichtete Verbindungen miteinander haben können, aber, anders als die Zellen im Gehirn, gleichförmig sind.

Um nicht gleich eines überschwenglichen Reduktionismus beschuldigt zu werden, der sich anheischig macht, daß demnächst der "Geist" völlig transparent und beherrschbar sein wird, bekennt Churchland - rhetorisch oder nicht - gleich zu Beginn: "Unser Gehirn ist bei weitem zu komplex und launisch; wir werden sein Verhalten - wenn überhaupt - nur in groben Grundzügen und stets nur für sehr kurze Zeiträume vorhersagen können. Ein biologisches Gehirn reagiert so außergewöhnlich dynamisch, daß es wohl nie ein Gerät in diesem Universum geben wird, das unser Verhalten und unsere Gedanken exakter als lediglich statistisch voraussagen kann." Aber das ist beim Wetter oder bei Aktienkursen auch nicht anders.

Paul M. Churchland: Die Seelenmaschine. Eine philosophische Reise ins Gehirn. Spektrum Akademischer Verlag 1997, 396 Seiten.