Der Hornberger Bug

Nachträgliche Vermutungen zu Y2K

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Natürlich ist das jetzt leicht: Sagen, dass man es eh gewusst hat. Das kommende Millennium hat nicht mit einem Computerchaos begonnen. Neben der Erleichterung über funktionierende Straßenlaternen und eine warme Dusche am Silvestermorgen macht sich die ein oder andere Erkenntnis zum Stellenwert digitaler Technik und deren kultureller Verwurzelung breit. Das bleibt vage weil so komplex wie die fast unmögliche Fehlervorhersage noch am 31.12.99.

Zehn Merksätze, die erst nach dem 1.1.2000 locker auf einer Festplatte landen können:

1. Schön ist, was unauffällig ist.
Fast war man ein bisschen enttäuscht. Die Straßenlaternen haben nicht einmal geflackert. Das ungeheuerliche Ereignis, dass NICHTS passierte, manifestierte sich maximal unauffällig. Menschen nehmen Veränderung, nicht den andauernden Zustand wahr. Deshalb war die schönste Nachricht, dass es keine Nachricht gab und scheinbar niemand dieses Fehlen im Silvestertaumel registrierte. Für die Feuilletonisten unter uns: Zeit für Ekstase per Lichtschalter ab 00.01 Uhr. Wer hat daran gedacht?

2. Es hätte wenn dann anders kommen können.
Besitzer von älteren Betriebssystemen haben sich nicht 1900, sondern 1980 wiedergefunden. Weiter zurück reicht der Irrtum nicht. Und davon ging die Welt nicht unter. Die Bild-Zeitung schrieb davon: Krisenstäbe langweilten sich. Besser so herum. Sie hätten im Falle einer globalen Krise NICHTS tun können. Machen wir uns nichts vor.

3. Der Y2K-Bug war der soziale Katalysator zum Y2000 schlechthin.
Während die ersten Sektkorken in Australien eher exotisch weit weg hochgingen und die letzten Millenniumsfeiern im Pazifik schon wieder langweilten, war nur die Aussicht auf einen globalen Millenniums-Bug wirklich weltumspannend. Die Angst vor einem Fehler war konvergent in allen Kulturen formuliert worden. Eine andere weltweite Vision zum 1.1.2000 war nicht zu verzeichnen. Der Rest der Datumsumstellung zerfiel in Einzelevents.

4. Zum ersten Mal hat das Szenario negativer Folgen einer weltweiten Vernetzung konkrete Auswirkungen gezeigt.
Gerade durch die erfolgreichen Umstellung zur Verhinderung von Y2K-Bugs ist das Bewusstsein für die Auswirkungen vernetzt agierender Computersysteme enorm gewachsen. Künftig wird es zur Standardfrage im Umgang mit Netzen gehören, welche immanenten und schnittstellenspezifischen Auswirkungen eine Vernetzung zeigen kann. Nicht unwichtig angesichts der Schwelle zum mobile Internet, an dem wir dieses Jahr stehen.

5. Kunden stehen in der Verantwortung
Nicht nur der Lazarus Act zeigt, dass letztendlich Computerkunden sich nicht aus der Verantwortung im Einsatz von digitalen Produkten stehlen können. Es wäre absurd, sich auch Jahrzehnte nach dem Kauf einer Software auf den Hersteller zu berufen. Support-Telefone ersetzen nicht die Übersicht über die eigene Vernetzungswelt und die Umsicht in deren Einrichtung.

6. Digitale Technik besitzt bereits heute einen nicht mehr kalkulierbaren Grad der Vernetzung.
Die am meisten gehasste Frage in der Zeit vor dem 1.1.2000 war sicher "Glaubst Du, dass was passiert in dieser Nacht?". Niemand wusste das, denn die Verknüpfungen digitaler Systeme sind nicht mehr durch einen Menschen einschätzbar. Dieser Grad an Komplexität wird noch zunehmen. Es bleibt die Luhmann'sche Erkenntnis, dass eine Theorie des Systems immer komplexer sein wird als das zu beschreibende System. Was sollen wir tun?

7. Wir haben keine Lebenserfahrung außerhalb unserer Systeme.
Wer sich in den Tagen vorher als gut vorbereitet vorkam, weil er 400,- DM mehr vom Automaten abgehoben hat, weil er 3 Extrapackungen Knäckebrot im Regal stapelte, der hat sich ungeheuer ins Fäustchen gelogen. Er impliziert in seinen Vorkehrungen, dass im Falle einer Katastrophe Geld noch seinen Wert behalten hätte und ein Zusammenbruch nur 3 Tage dauern würde. Im Fall eines Zusammenbruchs der Logistik wären Plünderungen die einzige Chance gewesen, wenigstens kurzzeitig zu überleben.

8. Die Gewinner stehen fest.
Der Aktienmarkt wird wohl bei Computerwerten wieder fester werden. Das wäre er vielleicht im Falle einer Katastrophe auch geworden. Änderungen sind gut für Kapitalmärkte. Die Richtung der Entwicklung scheint hier nebensächlich.

9. Die Computerindustrie ist in dieser Nacht ein bisschen mächtiger geworden.
Das Urvertrauen in Technik hat sich weiter manifestiert. Jetzt scheinen die Horrorszenarien von Angsthasen gemacht worden zu sein. An "der Technik" kann es scheinbar nicht gelegen haben. Dabei gibt es keinen Grund zu feiern, dass eine Technik doch nicht versagt hat. Niemand feiert, dass beim Einschlagen eines Lenkrades ein Wagen wirklich eine Kurve macht. Das darf man ruhig voraussetzen. Was ist also so toll daran, dass Computer eine Jahreswende überbrücken konnten? Es ist ihr Job.

10. Y2k ist ein Modewort
Artikel wie diese wirken so uralt wie das Wort zum Sonntag vom letzten Jahr. Also: vergessen wir's, die CeBIT biegt um die Ecke. Die Angst von gestern ist jetzt kalter Kaffee.