Der Irak-Krieg im chinesischen Web

Die Kriegsberichterstattung ist zugleich ein Internetkrieg zwischen Chinas News-Websites

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Der Nachrichten- oder News-Krieg in der chinesischen Internetbranche besteht schon seit langer Zeit. Die "News-Zentren" verschiedener kommerzieller Websites bilden dabei ein Schlachtfeld des Kampfes um die Internetnutzer. Der Irak-Krieg ist in die heiße Phase gekommen; hitzig ist inzwischen auch der Internetkrieg in China.

Peking, am 20. März 2003, um 10:35: Der Newsticker von sohu.com.cn veröffentlicht in China die erste Kriegsnachricht: "Bagdad wurde von den US-Streitkräften bombardiert. Der zweite Golfkrieg ist ausgebrochen." Eine Minute später erhielten schon hunderttausende Nutzer von "sohu.com.cn" per SMS dieselbe Nachricht. Ausgebrochen war der Krieg um 10:34. Innerhalb einer Stunde wurden mehr als 500 Nachrichten gesendet, 1,3 Millionen Nutzer angezogen, man verzeichnete mehr als 100 Millionen Pageviews. "Nach der News-Sendung umarmten wir uns in der Redaktion", sagt Herr Li Shanyou, Leiter des News-Zentrums von Sohu. "Wir wurden zu lange Zeit von den Konkurrenten in den Schatten gestellt. Nun sind wir wieder da." Jeder Insider weiß, wen er mit "Konkurrenten" meint.

Wer ist der Erste?

Der alte Konkurrent von Sohu ist ein anderes Megaportal, sina.com.cn: schon länger der führende kommerzielle Provider in China. "Sina" ist natürlich nicht bereit, klein beizugeben, und behauptet, man habe zur gleichen Zeit die erste Kriegsnachricht gesendet und auch per SMS hunderttausende Nutzer erreicht. In den ersten zwei Stunden habe die News-Site von "sina.com.cn" bereits mehr als 10 Millionen Pageviews gehabt. Ebenfalls in den zwei Stunden nach Kriegsausbruch sind als 'feed back' bereits zigtausende BBS (Botschaften auf den bulletin boards) von den Sina-User veröffentlicht worden. Der Kampf zwischen "Sina" und "Sohu" um den "ersten Platz" ist im Pulverrauch des Kriegs brennend akut geworden.

Unter den 'Kämpfenden' der Internet-Szene sind noch Netease.com, Tom.com, oder auch die Website der staatlichen Nachrichtenagentur Xinhua zu nennen. Immer geht es darum: Wer war der erste? - Anscheinend eine wichtige Frage für die Zahlenfetischisten. Angesichts der Erfahrung, dass manche Provider die Zeit, zu der sie eine bestimmte aktuelle Nachricht erstmals brachten, manchmal nachträglich korrigieren, ließ "Sohu" diesmal rechtzeitig, wie schon seinerzeit bei der Nachricht über das Auseinanderbrechen der amerikanischen Raumfähre "Columbia", den Zeitpunkt der Sendung der Nachricht vom Kriegsausbruch beglaubigen. Es war also ein Kampf um Minute und Sekunde, um damit als Nummer Eins bei den Online-News gelten zu können.

"Wir haben uns schon ein halbes Jahr auf diesen Krieg vorbereitet", so Li Shanyou, der wegen der den Konkurrenten zuvorkommenden Sendung der Nachricht vom Beginn der Kriegshandlungen seine Kollegen umarmte, wie absurd dies auch klingen mag. Sohu ist allerdings nicht der einzige derartige Akteur. Wenn man in diesen Tagen in den Kriegs-Sites der chinesischen Megaportale surft, bekommt man in der Tat den Eindruck: Die Kriegsvorbereitung der Medien war perfekt. Man sieht im Moment dort wohl die längsten und auch komplettesten Sites in der Welt, mit allen möglichen Links zum Kriegsgeschehen, den Hintergründen, Kriegsgeräten, Protagonisten, Expertenanalysen, natürlich noch mit unendlich vielen Flashs und Icons; eingesetzt wird natürlich auch die audio-visuelle Technik. Sobald ein Apache-Kampfhubschrauber abgeschossen wurde, kann der Nutzer direkt die Daten des Hubschraubers abrufen. Simulationskampf veranschaulicht die Berichterstattung. Die News-Quellen sind nicht nur Reuters, CNN oder al-Dschasira, sondern man findet Berichte aus allen Ecken der Welt.

Auch das chinesische Fernsehen geht neue Wege

In den ersten drei Tagen sah man nach dem Anklicken der URL-Adressen von "sina.com.cn" und "sohu.com.cn" statt der vertrauten Einstiegsseiten prompt die in professionellem Layout gemachten, gleichsam nach Schießpulver riechenden Kriegs-Sites: "Der Krieg ist ausgebrochen!" Also eine Art Web im Web. Dass man zugunsten eines "großen Ereignisses" auf die Einstiegsseite "verzichtet", geschieht wohl das erste Mal in der Web-Entwicklung. Beeindruckend ist auch yahoo.com.cn. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass das Design der Kriegs-Site von "yahoo.com.cn" wohl das Design ihrer eigentlichen Einstiegseite zu korrigieren beabsichtigte.

In kürzester Zeit haben sich die Bestellungen von Mini-News bei den drei Megaportalen "Sina", "Sohu" und "Netease" vervielfacht. Sohu hat zum Beispiel in den ersten Stunden nach Kriegsbeginn pro Stunde mehr als 10.000 neue Kunden gewonnen, die über den Service "Brennpunkt" und "Golfkriegsbericht" Mini-News bestellen möchten. In den Straßen schicken die aufgeregten Internetnutzer per Handy die Kriegs-News weiter.

Das Tempo ist die Stärke der Online-News, zumindest in China. Die erste Nachricht über das Ereignis am 11. September kam von "Sina", und zwar 10 Minuten nach der Terroraktion in New York, 14 Minuten danach die Nachricht per SMS, während die Nachrichtenagentur Xinhua wahrscheinlich noch lange Zeit mit der Formulierung der Nachricht beschäftigt war. Das erste Bild und die erste Nachricht über den amerikanischen Militärschlag in Afghanistan kam ebenfalls von "Sina" - 2 Minuten danach. Das Bombardement der chinesischen Botschaft in Belgrad am 8. Mai 1999 (um 5.45) brachte "Sina" auch als erster Anbieter in einer "Eilmeldung" um 6.24 Uhr, um 6.40 einen langen Bericht, während das 'an der Quelle sitzende' People's Daily erst um 9.44 Uhr die erste Nachricht veröffentlichte, natürlich in "www.peopledaily.com.cn". Bei solchen großen, plötzlichen Ereignissen haben die offiziellen Nachrichtenagenturen Chinas oft Schwierigkeiten mit ihrer Reaktion wegen verschiedener Vorschriften und nicht zuletzt "wegen der Politik".

Es ist das erste Mal, dass China nun dem staatlichen Fernsehen China Central Television (CCTV) erlaubt, bei der Berichterstattung über den Irak-Krieg ein Ereignis von internationaler Tragweite weitgehend ohne politische Einflussnahme wiederzugeben. Damit erprobt das staatliche Fernsehen erstmals im großen Stil internationale TV-Standards. Die Berichterstattung über den Irak-Krieg läuft beinahe Nonstop. Noch nie hat man so viel CNN-Bilder im chinesischen Fernsehen gesehen wie seit dem Kriegsausbruch. Ansprachen von George W. Bush, Tony Blair und anderen Kriegsherren werden live gesendet und simultan übersetzt. Genau so viele Bilder kommen von al-Dschasira. Im Medienrausch sprengt der Irak-Krieg die Grenzen der bisherigen Parteipropaganda. Dies ist das politische Milieu auch für die unzensurierte Irak-Berichterstattung im Internet.

Internetprovider auf dem Höhenflug

Begehrt sind die drei chinesischen Provider nun auch bei Nasdaq. Man erinnert sich an die Zeit, in der - nachdem die New Economy in den Keller gegangen war - Aktien wie die von "Netease" für lange Zeit sogar unter einem US$ zu bekommen waren. Am 24. März 2003 erlebte der Nasdaq infolge schlechter Kriegsnachrichten wieder einen 'Erdrutsch'. Aber die drei chinesischen Internet-Unternehmen, die sich im Höhenflug befinden, haben alle am 25. März mehr als 20% zugelegt, wobei "Sohu" mit einem Kurswert von inzwischen 12 US$ sogar um 26% zulegte und damit den Rekord vor zwei Jahren gebrochen hat. Die Schlussnotierung von "Netease" war 17,12 US$ und nährt sich damit ihrem historischen Höhepunkt von 17,90 US$.

Der Hintergrund dieser Kursentwicklung ist ein Bericht von "Wall Street Journal" am 25. März, wonach "Sina" und "Sohu" prächtig von dem Irak-Krieg profitiert hätten. Mit Online-News und SMS entwickele sich das Internet geradezu mit einem rasanten Tempo zu einem führenden Medium in China. Dies bedeute zugleich einen schnellen Zuwachs der Einnahmen bei den Megaportalen durch SMS-Service und Werbung. In der Tat kämpften und kämpfen große nationale und internationale Unternehmen um einen Platz für ihre Werbung in den Kriegs-Sites. Also ist der Internetkrieg nicht zuletzt auch ein Kampf um den Kurswert.

Die chinesischen Megaportale bemühen sich schon seit langer Zeit, die Online-News zur ersten Wahl ihrer Nutzer als Nachrichten-Quelle zu machen. Zur Charakterisierung des Internet übernimmt man in China den berühmten Begriff des 'Info-Superhighway', fügt noch hailiang hinzu, - ein Wort, das im Chinesisch "ungewöhnlich trinkfest" bedeutet, bestehend aus zwei Zeichen: hai (das Meer) und liang (Volumen). Im Kontext des Internet muss man dieses Wort offensichtlich in seinem etymologischen Sinne verstehen. Die Anbieter von Online-News streben explizit nach Simultanität, Interaktivität und hailiang.

In den Foren und Chaträumen wird heftig diskutiert

Nach der neuesten Statistik gibt es Ende 2002 bereits 59,1 Millionen Menschen, die in China das Internet nutzen. Es sind dies zwar nur 4,6% der Gesamtbevölkerung Chinas. Und ohne Zweifel bleibt bislang das Fernsehen die wichtigste Informationsquelle für die meisten Chinesen. Denkt man aber an die zu erwartenden Auswirkungen des Einstiegs in eine globale Kommunikationsgesellschaft seitens vieler, immer schneller hinzukommender chinesischer Internetnutzer, so wird das Internet in China immer mehr an Bedeutung gewinnen, zumal es in bezug auf die Interaktivität den alten Medien weit überlegen ist.

Sehr beliebt sind zum Beispiel die verschiedenen Foren und Chatrooms, wo man angeblich in der Tat seine Meinung sagen kann, dies wohl insbesondere während des Krieges: Da ist die Hölle los und wird heftig um die erfolgreiche Artikulation, wenn schon nicht Durchsetzung, von Meinungen gekämpft. Und auch hier tobt ein asymmetrischer Krieg. Der Haupttenor ist: "Tötet einen Amerikaner mehr!" Der Nationalismus, oder auch Patriotismus, der in China neuerdings wieder ganz groß geschrieben wird, findet hier ein Ventil, aber auf was für eine erschreckende Weise: "China braucht einen Saddam." "Das ist ja der lang vermisste Nationalgeist." Oder: "Saddam gegenüber muss die feige chinesische Regierung sich schämen."

Manche Teilnehmer, die um das Schicksal Chinas besorgt sind, denken schon ein bisschen längerfristig: "Heute Irak, morgen China." Und appellieren an ihre Gegenüber: "Chinesen, warum geht ihr nicht auf die Straße?" Abgezielt ist hier natürlich wieder auf die Regierung, die keine Demonstration zulässt, welche außer Kontrolle geraten könnte. Aber der Unmut kann sich mindestens noch im Chatroom Luft machen. Man ist empört, dass "Blair beinah das Schlachtfeld als Paradies dargestellt hat", und fragt Bush, ob er Beweise hat, dass Saddam Massenvernichtungswaffen besitzt: "Klar. Alle Lieferscheine habe ich aufbewahrt - antwortet Bush," intoniert man. Nicht wenige sind auch traurig. "Noch nicht befreit, schon zerfetzt", so sagt einer. Und: "Die live-Übertragung der Tötung von Menschen ist eine Tragödie der Menschheit."

In der Kampfpause wird im Chatroom noch diskutiert: "Würden diesmal Präzisionswaffen noch einmal eine chinesische Botschaft bombardieren?" Oder man erzählt - angesichts der mehrfach unter "Beschuss seitens der Freunde" (friendly fire) gekommenen Briten - ein paar Witze: "Warum haben die amerikanischen und englischen Streitkräfte ausgerechnet den Irak ausgesucht, um sich dort zu bekämpfen?" "Bush tadelte seine Berater: 'Warum habt ihr mir nicht vor dem Krieg gesagt, dass es im Irak außer Wüste noch Städte gibt? " Eine neue Nachricht von der Eroberung einer irakischen Hafenstadt lässt die Teilnehmer dies folgendermaßen kommentieren: "Umm Qasr erobert. Das ist aber schon die vierte Stadt mit dem Namen Umm Qasr, die die Allierten hatten besetzt wollen."

Weigui Fang ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des medienwissenschaftlich-sinologischen Forschungsprojekts "Das Internet in China" an der Universität Trier.