Der Krieg, der sich selbst zeugt

Eine alte Debatte wurde in Linz wiederbelebt

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Es gab eine Zeit, da mußten wir uns an Rauschen, an sein stetiges Wachstum gewöhnen. "Lärm und Zank auf allen Kanälen" nannte Bernhard Siegert dies einmal. Seitdem wird die Forderung nach Wissensmanagern laut. Aus dem Meer von Ereignissen, Aufzeichnungen und Dokumenten, die Tag und Nacht durch die Datennetze schießen, sollen sogenannte "trail blazer" (V. Bush) die für Gesellschaften und ihre Diskurse relevanten Daten auswählen und sie der Öffentlichkeit in knappen, aber einprägsamen Sätzen verständlich machen.

So mancher traditionelle Übermittler, dem diese zweifelhafte wie ehrenvolle Aufgabe zufällt, fühlt sich damit überfordert. Weniger mit der Komprimierung der Daten und deren Übersetzung als mit der Kanalreinigung. Wie kann er Information vom Rauschen unterscheiden? Wie kann der media fallout rationiert werden? Und wie kann das Gerücht vom Sachverhalt, der fake von Wahrheit, das Belanglose vom Mitteilungswerten geschieden werden?

Vor allem Leute mit engen und beschränkten Horizonten und Weltbildern tun sich mit Ungewißheiten und Kontingenzerfahrungen schwer. Dazu zählen wir alle Gutmenschen, Besserwisser und Bedenkenträger. Dazu zählen wir aber in der Hauptsache Geheimdienste und Militärs, die ein großes Interesse an "Gesamtübersichten", an übersichtlichen Strukturen und klar konturiertem Wissen haben. Angesichts grassierender Informationsfluten, die der gestiegene private und individualisierte Datenverkehr mit sich bringt, fürchtet man dort den Verlust der Kontrolle und der Informationshoheit wie der Teufel das Weihwasser.

Der Feind hört mit

Andererseits wissen aber gerade diese Schattenmächte um den hohen Informationswert von Rauschen. Seine Zunahme kann, Claude Elwood Shannon sei's gedankt, nämlich auch heißen, daß Dritte in den Datentransfer eingegriffen und ein Signal von hier nach dort, von einem zum anderen, abgefangen, verändert und/oder nochmals überschrieben haben. Zunahme von Rauschen kann mithin beides bedeuten: Nullinformation und größtmögliche Komplexität der Information. In dieser paradoxen Lage kommt es deshalb vermehrt auf den Schutz vor oder die Abwehr von unerwünschtem Informationsbeschuß durch den anderen an. Und es kommt auf den Besitz des richtigen Codes an, durch den derartiger Datensalat geknackt oder gehackt werden kann. Informationssicherheit und die Verwundbarkeit der Datennetze gehören demnach zusammen, sie sind die zwei Seitenformen des Infowars.

Seitdem die militärischen mit den zivilen Netzen verbunden sind und die Nachrichten durch die selben Leitungen gejagt werden, könnte dieser Dritte jeder sein, der über Netzanschluß und PC verfügt, überall, sogar im Innern der Systeme, lauern und die Informations- und Kommunikationssysteme angreifen. Die Angst und die Sorge der Militärs vor Netzangriffen durch unidentified subjects ist daher durchaus begründet. Vor allem in Amerika, wo God's own country allen Star Wars Phantasien zum Trotz kein "Sanktuarium" (F. Kittler) mehr ist. Die Bombenangriffe in Oklahoma oder auf das World Trade Center beweisen dies. Deswegen hat man dort als erstes den taktisch-strategischen Wechsel von Hierarchien zu Netzwerken eingeleitet und die hierarchische C2-Struktur (command and control) um heterarchische, topologische und vernetzte Sichtweisen, Taktiken und Strategien erweitert. Nur wer hierarchische Kommandostrukturen mit Netzwerkprinzipien erfolgreich verknüpft, also Dezentralisierung mit der Gesamtschau kombiniert, wird im Infowar die Nase vorn haben.

"Medien sind die Waffen des Journalismus" (Peter Arnett)

Durch die Umwandlung der Rechen- in Kommunikationsmaschinen erreicht der information fallout sozusagen auch die letzten Winkel der Erde. Rauschen wird "planetarisch" (C. Schmitt). Vernetzung und Digitalisierung transformieren die Welt und geben den Weltläufen eine andere Richtung. Jeder private Haushalt kann sich jetzt über laufende Ereignisse in Echtzeit informieren. Das World Wide Web bewirkt, daß der Medienkonsument sich zeitgleich bei denselben Nachrichtenquellen bedienen kann wie jeder andere Journalist auf dieser Welt auch.

Das jüngste Beispiel dafür lieferte der Kenneth Starr Report. Bis der Redakteur sich durch das über 450 Seiten starke Werk gequält hatte, um es für die Leser anderntags lesbar zu machen, konnte der User mit ein paar Klicks oder durch geschickte Eingabe bestimmter Keywords die pikantesten Stellen des Berichtes nachlesen. Selegieren und Aufbereiten, Reflektieren und Räsonnieren, Werten und Kommentieren veraltern. Welche Auswirkungen dies auf die Öffentlichkeiten und Institutionen der Gesellschaften oder die Demokratie überhaupt haben, werden wir erst in ein paar Jahren begreifen, wenn derartige Ereignisse die Norm und die Regel werden.

Dieser jüngste "Unfall" (P. Virilio) macht aber noch auf einen weiteren Umstand aufmerksam. Nicht bloß das Verbreiten von Gerüchten oder die Direktabnahme von Informationen aus dem Netz, der Zeitfaktor überhaupt spielt künftig die entscheidende Rolle. Echtzeit, nach Virilio die absolute Zeit, wird zum Informationsmaß für Messages, Zeitgewinn zum Informationsvorsprung. Ihn gegen andere Konkurrenten zu verteidigen, treibt seitdem die Branche an. Beweglichkeit und Schnelligkeit, nach Sun Tse die entscheidenden Faktoren bei Kriegshandlungen, bestimmen sowohl die Übertragung als auch die Art und die Form der Berichterstattung.

Auf diese veränderten Bedingungen reagieren nicht bloß die Streitkräfte, wenn sie jetzt kleine, mobile und autonom operierende Eingreiftruppen aufstellen, sie mit spezifischen Waffensystemen ausrüsten und sie für die Bewältigung sogenannter Low-Intensity-Konflikte trainieren. Auch Medienmultis vom Schlage CNNs und BskyBs, die sich als "Garant und Bewahrer der Wahrheit und Realität" (P. Arnett) verstehen, stellen mobile und motorisierte Infotrupps aus Reporter, Techniker und Kameramann zusammen, die ständig an den neuralgischen Punkten der Erde operieren. Satellitentelefone, Wearcoms und GPS-Systeme versetzen diese Avantagarden der Information in die Lage, die Weltöffentlichkeit wie die Regierungen sofort über Unfälle zu alarmieren, und wenn nötig, unter Druck zu setzen.

"Wir sind vor Ort, wenn eine Krise ist", so umschrieb Peter Arnett das Programm von CNN in Linz. Passiert unterdessen woanders ein neuer Unfall, können diese Einheiten sofort per Signal umdirigiert und von einem Kontinent zum nächsten bewegt werden. In welcher Geschwindigkeit dies vonstatten geht, war kürzlich erst wieder zu beobachten. Als der Klatschkolumnist Matt Drudge das Gerücht über die Lewinsky-Geschichte auf seiner Homepage in Umlauf gebracht hatte, reiste die Journalistenschar, die sich anläßlich des Papstbesuches bei Il commandante in Havanna versammelt hatte, flugs nach Washington und belagerte dort das Weiße Haus.

Krieg auf allen Kanälen

Inzwischen ist, wie die Beispiele belegen, aus Rauschen Krieg geworden. Anstelle von "Zank und Lärm" herrscht Krieg auf allen Kanälen. Gemeinhin gilt der Krieg am Golf als der Sündenfall. Bekanntlich attackierte dort die Allianz, bevor sie mit den eigentlichen Kriegshandlungen begann und die Kommunikations- und Verkehrszentren bombardierte, zuerst die Radarschirme und den Funkverkehr der Irakis. Ganz nebenbei bemerkte das Publikum die militärische Herkunft von Kommunikationstechnologien. Live und zur prime time wurde es Zeuge der zunehmenden Militarisierung des Kommunikationsapparates. Die Echtzeitkommunikation brachte es mit sich, daß Bürger wie Regierungen denselben manipulierten Bildern und Berichten, die CNN in die Welt ausstrahlte, zusahen. Gott bekam einen Markennamen, er war amerikanisch.

Mit der Beendigung des Krieges verschwanden diese Einsichten bald aus dem Bewußtsein der Leute und der Massenmedien. Der Kommunikationskrieg war einfach vergessen worden, Jean Baudrillards viel belächelte Aussage, wonach der Golfkrieg nicht stattgefunden habe, wurde wahr. Trotzdem sich Serben, Bosnier und Kroaten Jahre später mit ähnlichen Betrugstechniken (Desinformation, psychologische Kriegführung, Bezichtigung von Massakern an der Zivilbevölkerung) bekämpften, um a) den Feind mental zu schwächen und b) die westliche Medien auf ihre Seite zu ziehen, war der Infowar hierzulande immer noch Anathema. Auch dann noch, als die westlichen Medien endlich Partei ergriffen, sich auf die Seite einer Kriegspartei schlugen und mit blutigen Bildern die Staatengemeinschaft zum Eingreifen anstifteten.

Mit der Lewinsky-Affäre erreicht der Infowar einen neuen Höhepunkt und endlich auch - die freien Kanäle. Was sich zwischen Anwälten und Gegnern des amerikanischen Präsidenten öffentlich abspielt, macht dem Begriff Infowar alle Ehre. Der Unterschied, der einen Unterschied macht, hat dort seine reinste Form angenommen. Information ist nicht mehr Mittel, um die Aufmerksamkeit des Publikums zu erregen, sie ist vielmehr zum Einsatz eines Krieges geworden, der den Gegner vernichten will. Gekämpft wird um die Gunst der amerikanischen Öffentlichkeit. Um sie zu erobern, ist jedes Mittel recht. Zwar kennt diese Öffentlichkeit keiner genau. Doch weiß man von ihr, daß sie durch Umfragen, durch permanentes Abtasten und Massieren des Gesellschaftskörpers und seiner Münder ge- und erzeugt wird. Eine Schleife also, die durch Abfragen und Einholen von Meinungen sich selbst bezeugt und durch nichts und von niemanden unterbrochen werden kann, es sei denn durch Abschalten, Stromausfall oder Durchtrennen der Glasfaserkabel mit einem Bolzenschneider, was allenfalls zur Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln, keinesfalls aber zu seiner Beendigung führt.

Im Kuriositätenkabinett

Angesichts dieser Vorgaben geriet, wer die müde Debatte und das fade Thema des letzten Jahres noch in Erinnerung hatte, die Ars Electronica heuer zum Glücksfall. Den Infowar auf die Agenda gesetzt zu haben, eine längst schwelende Diskussion neu entfacht und damit die Diskussion darüber verbreitert zu haben, dafür verdienen die Veranstalter ein dickes Lob. Verlief die Netzdiskussion noch überaus enttäuschend, weil sich die Teilnehmer mit Animositäten und Wertedebatten selbst blockierten, so entschädigte das Symposion für dieses Blabla.

Die Referenten zeigten sich diesmal, was in den Jahren zuvor nicht immer selbstverständlich war, als gut vorbereitet und in der Sache kompetent. Redlich bemühten sie sich, sich dem in ein Wortspiel gekleideten Thema: "information.macht.krieg" argumentativ zu nähern und seine gesellschaftliche Relevanz mit harten Daten und Fakten zu begründen. Weiter geizte das Symposion auch nicht mit abstrusen Ansichten und Meinungen, die nebenbei tiefe Einblicke in die Befindlichkeiten ehemaliger Kalter Krieger gewährten. So wartete etwa der Infowarrior Shen Weiguang aus China mit der Nachricht auf, sein Land bereite sich bereits intensivst auf den Infowar vor und sei für diese Auseinandersetzung mit dem Westen bestens gerüstet. Auf die listige Frage Manuel deLandas, worauf sich diese Behauptung angesichts der elektronischen Rückständigkeit und Unterlegenheit Chinas stütze, gab der Infowarforscher nur ausweichende Antworten. Wer noch die Bilder vor Augen hatte, wie China jüngst die Flutkatastrophe am Jangste-Fluß gemeistert hat, und zwar nur durch den Einsatz gewaltiger Menschenmassen, konnte daraus entweder schließen, daß es sich hier um einen groß angelegten Bluff handle, oder daß China trotz der Vereinbarung mit den USA nach wie vor hemmungslos Hardware nachbaue, skrupellos Software kopiere und an der Proliferation heißer Technoware mitwirke.

Die andere Absonderlichkeit formulierte der Russe Igor Panarin, der sich als Mitglied der politischen Elite Rußlands ausgab, die in ein paar Jahren die Macht dort übernehmen werde. Genüßlich malte er das Menetekel eines Zerfalls des amerikanischen Territoriums in vier oder fünf Regionen um das Jahr 2010 an die Wand. Der moralische Verfall des Imperiums, der sich seit längerem in der steigenden Kinderkriminalität, der öffentlichen Demütigung des Präsidenten und dem Anwachsen der Selbstmordrate unter Kriegsveteranen äußere, deuteten unmittelbar darauf hin. Indes nannte er Behauptungen, wonach weitere Angriffe auf die russische Währung, wie sie seiner Ansicht nach der Spekulant und führende westliche Vertreter des Infowars George Soros kürzlich inszeniert hatte, nuklear beantwortet werden könnten, als unverantwortlich. Spürbar war allerdings sein werbendes Bemühen um eine Eurasierung Europas. Ziel künftiger russischer Politik sei die Realisierung eines alten kontinentalen Traums: die Loslösung Europas von Amerika und die Vereinigung Rußlands mit Zentraleuropa.

Überraschenderweise spielten die öffentlich-wahrnehmbaren Formen des Infowars nur eine untergeordnete Rolle. Obwohl gerade sie die öffentliche Meinung zunehmend in Beschlag nehmen, beließen es die Redner meist beim Verdacht und Hinweis. Beispiele wollte niemand geben, obschon eine historisch exakte Rekonstruktion der Lewinsky-Affäre, die das Diffundieren und die Veralltäglichung des Informationskrieges in den öffentlichen Raum zeigt, sich geradezu angeboten hätte. Stattdessen setzten sie sich lieber mit militärischen Doktrinen, globalen Kriegsstrategien und dem Kampf der Kulturen auseinander. Dies lag auch nahe, gab der Bericht zweier Meisterdenker der RAND-Corporation, John Arquilla und David Ronfeldt, doch den Anlaß für die Konferenz. Den beiden Chefstrategen zufolge fürchtet die einzige Weltmacht seit Beendigung des Kalten Krieges und der Freigabe des Datennetzes an die Öffentlichkeit Attacken auf die materielle Infrastruktur ihres Landes. Nicht mehr nur Botschaften und Bürger im Ausland, auch Zentren der Wirtschaft und der Information (Banken, Versicherungen, Verkehrssysteme) sind seitdem leicht zu treffende Ziele für Angriffe potentieller Gegner geworden. Ein Virus beispielsweise in ihre Kreisläufe gesetzt, könnte volkswirtschaftlich betrachtet mehr Schaden anrichten als jeder Bomberangriff. Als Attentisten kommen in ihrem Bericht neben muslimischen "Schurkenstaaten" auch nichtstaatliche Akteure in Frage: religiöse Banden, Mafiosi, Drogenschmuggler, Hacker oder bürgerbewegte NGOs.

Vielleicht war es dieser Vergleich, der bei vielen Teilnehmern Unmut erregte. Mit Terroristen wie dem Araber bin Laden wollten Netzaktivisten nicht in einen Topf geworfen werden. Als Hacker, Codebrecher oder Störer elektronischer Ordnungen vertritt man stets "gute Absichten". Man kämpft um die Aufrechterhaltung des free flow of information, deckt verborgene Informationen auf und tritt für die Weitergabe von Software ein. Oder man attackiert die Websites böser Multis, müllt die Homepages von Präsidenten voll und fordert die User zur Abfassung von Kettenbriefen oder zu virtuellen Sit-ins auf. In der Hacker-Sektion zeigte man sich denn auch sehr verwundert darüber, daß trotz der Verwundbarkeit der Netze und der Leichtigkeit, mit der Netzattacken heute möglich seien, die Intention für solche Aktionen fehle.

Versteckter und offener Infowar

Im Kern ging es in Linz aber um die Frage, wie die "Waffengattung Informatik" (G. Stocker) und die Computerisierung die Beziehungen der Staaten und der Menschen zueinander verändert haben. Der Medienhistoriker Friedrich Kittler aus Berlin, wieder einmal fälschlicherweise als deutscher Medientheoretiker in Oberösterreich angekündigt, weigerte sich zunächst, im Infowar irgendetwas Neues zu erkennen. Zu allen Zeiten hätten Organisationen, Staaten oder Imperien versucht, mit Desinformation, Spionage oder anderen Täuschungsmanövern, die Meinungshoheit über die Wissens- und Mentalitätssysteme des Feindes zu gewinnen. Neu sei aber, daß Kriegsspiel, Informationsbeschaffung, Simulation und soziale Kommunikation auf einer Oberfläche erfolgten. Durch das Internet sei das amerikanische Imperium mit dem Rest der Welt verbunden. Daraus resultiere seine Verwundbarkeit für Attacken aus dem Off der Netze. Die Chance konkurrierender Mächte steige, durch geschickte Nutzung der Ressource "Information" an der Hegemonie Amerikas zu kratzen.

Dies sei möglich, weil Machtsysteme, die heutzutage mit Betriebssystemen zusammenfielen, auf der Ebene des Codes anfällig würden. Hier werde Turings Satz relevant: Alles was eine Maschine tut, kann von einer anderen Maschine rückgängig gemacht werden. Die Stunde der Künstler-Ingenieure schlage, die die Maschinen programmierten und sie, gegebenenfalls, auch wieder zum Absturz bringen könnten. Der ungeklärte Absturz des Airbusses über Chicago, dem Elaine Scarry vor einiger Zeit eine wunderbare Studie gewidmet hat, bewegt seitdem die Phantasie der Militärs, der Wissenschaftler und auch die Kittlers. Zum ersten Mal wurde das Kardinalproblem des Infowars gestreift. Wie lassen sich Verschwörungstheorien mit guten Gründen dekonstruieren?

Kittlers kurzer Abriß über die Geschichte des Infowars endete mit zwei bekannten Hinweisen. Zum einen sah auch Kittler das Ende jener Macht für gekommen, die staatlich und territorial verfaßt ist. Nicht mehr Parteien, Regierungen oder andere staatliche Institutionen bestimmten in Zukunft über Wohl und Weh der Welt, sondern Condottieri wie Bill Gates, Andy Grove oder Scott McNealy. Nach der Zerschlagung des staatlichen Telekommunikationsmonopols stünde das Take-Over der Nationalstaaten selbst unmittelbar bevor.

Das war zwar schön formuliert, klang aber nicht sehr überzeugend. Immerhin muß der Condottieri Gates derzeit lieb Kind bei den Regulierungsbehörden machen und um sein Imperium fürchten. Die regulierenden Möglichkeiten des Staates (Recht) sollte man nicht unterschätzen. Zum anderen muß seiner Meinung nach die Digitaltechnik keineswegs das Ende der Geschichte bedeuten. Die Aufregung um Molekular- und Quantencomputer zeige, daß die Natur keineswegs eine berechenbare Maschine sei und digital simuliert werden könnte. Hier läge die Zukunft, die Chance der Geschichte und die Herausforderung für neue Mächte, die amerikanische Macht mit einer überlegeneren Maschine als der zweiwertigen zu toppen.

Dem Militärtheoretiker George Stein gelang es, den Blick auf das neue strategische Denken des amerikanischen Militärs zu lenken und einige Einblicke in ihre Wahrnehmungs- und Denkstrukturen zu geben. Keine Überraschung war es zu hören, daß die Militärs dazu übergegangen sind, die Besetzung des elektromagnetischen Spektrums für ebenso wichtig wie die Beherrschung des Territoriums zu halten und "Informationsüberlegenheit" mit "Luftüberlegenheit" gleichzusetzen. Peu à peu würde deshalb die Command and Control Warfare (2CW) durch Information Operative Warfare ergänzt. Infowar sei heute ein integriertes Konzept, das Hard- und Softwar kombiniert und die Zerstörung der Hard- und Software des Gegners im Auge habe.

Als "Heiligen Gral" der Militärs bezeichnete Stein die Fähigkeit, den Krieg bereits gewonnen zu haben, ehe er überhaupt begonnen habe. Damit würde der Feind von vornherein von jeder Feindseligkeit abgehalten. Dieses Bewußtsein beim Gegner zu schüren, darauf zielten derzeit alle direkten und indirekten Maßnahmen des Infowars hin. Zu den indirekten Operationen zählte Stein alle Manipulationen, die vom Gegner wahrgenommen werden müssen, um wirksam zu werden: ein getürkter Funkspruch etwa oder die Finte auf dem Schlachtfeld. Unter direktem Infowar verstand er dagegen das Vermögen, Informationen zu verändern, ohne daß der Feind diese Manipulationen wahrnehme. Computerviren, die den Ziellauf von Kanonen manipulierten, gehörten dazu, aber auch Meme, die die Wahrnehmung und Mentalität der Bürger anderer Nationen strukturierten. Hollywood, McWorld und Popkultur dürften demnach zu den besten und erfolgreichsten Exportschlagern in Sachen Infowar zählen, weil sie nicht bloß die Beobachtungskomponenten (indirekte Wirkung), sondern auch die Orientierungsphasen (direkte Wirkung) des Feindes berühren, auf deren Grundlage dann die Verantwortlichen entscheiden und handeln, weswegen der direkte Infowar hauptsächlich auf die Mediatoren, d. h. die Verbreiter von Nachrichten (Massenmedien) zielen.

Dennoch konnte und wollte Stein den darüber beunruhigten Zuhörern nicht jede Hoffnung rauben. Vieles von dem, was derzeit durch die Kanäle geistere, sei Spekulation, da man keinen Zugang zu den inneren Zirkeln der Militärs habe. Zumindest wüßte man, daß nirgendwo sonst auf der Welt der Glaube an die Wirksamkeit von Weltanschauungen oder Memen so weit verbreitet sei wie in der Neuen Welt. Andererseits gäbe es aber auch unter den Militärs keine einhellige oder gar abschließende Meinung über den Infowar. Nicht alle seien von der Bedeutung und Wichtigkeit des Information Warfare überzeugt. Immer noch wollten manche Teilstreitkräfte mehr Geld in alte Waffengattungen stecken und neue Panzer und Flugzeuge anschaffen. Auch hier lähmten, wie anderswo in der Gesellschaft auch, Trägheit und Schwerkräfte jeden Innovationswillen.

Auch Georg Schöfbanker, österreichischer Militärhistoriker aus Wien, warnte anderntags vor einem Infowar-Hype. Seit dem Fall der Mauer und dem Ende der kommunistischen Regime im Osten stürzen regelmäßig neue modische Theorien den zeitgenössischen Diskurs hierzulande in Depression oder Aufregung. Ähnlich wie vor Jahren die New World Order-Politik der Bush-Regierung von der End of history-Debatte begleitet wurde, werde jetzt der Clash of Civilizations durch Cyber-, Net- und Infowar-Szenarien flankiert. Schöfbanker warf die Frage auf, ob es sich hierbei vielleicht nicht um ein von den Amerikaner bewußt verbreitetes Mem (selfullfilling prophecy) handeln könnte, um die bestehende technische und kulturelle Hegemonie Amerikas auch mental zu festigen.

Blutige Kriege zwischen demokratischen Staaten um Ressourcen oder Territorien schloß er in naher Zukunft aus. Auf der Agenda stünden vielmehr Stammesgefechte und Verteilungskriege. Die künftige Frage wird sein, wer als Ordnungsmacht die Rolle des Weltpolizisten übernähme und mit oder ohne Mandat der UNO Feind und Angreifer niederschlage. In den neuesten Doktrinen der Generalstabschefs (Joint Pub 3-13; Joint Vision 2010) jedenfalls werden alle möglichen Konfliktniveaus und -szenarien (Info-Terrorismus, psychologische Kriegsführung, Proliferation von Massenvernichtungswaffen) der Zukunft bis hin zum Nuklearkrieg akribisch aufgelistet, mit Eskalationsstufen versehen und den entsprechenden Krisenreaktionskräften zugeordnet. Hollywoodfilme wie jüngst Armageddon oder der letzte Bondfilm zeigten, daß die Infowarszenarien bereits die Unterhaltungsindustrie erreicht hätten. Birgit Richard bestätigte diesen Trend später, aber in umgekehrter Perspektive. Die Militärs bedienen sich, wie sich anhand des Videospieles "Creatures" zeigen lasse, am freien Markt. Sie kaufen kommerzielle Software, um Bomberpiloten oder anderes militärisches Personal simulativ üben zu lassen, um sie so auf Kampfsituationen vorzubereiten.

Dem Infopeace eine Chance!

Immerhin wollte Schöfbanker auch dem Infopeace eine Chance geben. Sein Plädoyer für offene Medien, den ungehinderten Zugang zu ihnen und den Schutz des Menschenrechts auf Information und elektronische Privatheit brachte in der Sache wenig Neues. Auch Ute Bernhardt vom "Forum InformatikerInnen für den Frieden und gesellschaftliche Verantwortung" (FifF) konnte nichts Weltbewegendes verkünden. Als Gegengift zur zunehmenden Militarisierung des Denkens empfahl sie eine Zivilisierung und Demokratisierung der Information. Grundlage einer solchen zivilen Kultur müßte die Verbreiterung von Krypthographieverfahren sein, was mehr Informationssicherheit für alle bedeuten würde. Bislang hätten die Militärs dies aber erfolgreich verhindert. Die Gefahr einer Panoptisierung der Gesellschaft sah sie nicht. Wer für mehr Informationssicherheit eintrete, dem ginge es weder um "Gesamtübersichten" noch um die Totalalternativen Macht oder Ohnmacht, Kontrolle oder Nicht-Kontrolle, sondern um die Form.

Überraschenderweise spielten Metaphern wie global citizenship, Weltöffentlichkeit, Weltgerichtshof etc., worauf vor allem die Vertreter der "Zweiten Moderne" alle Hoffnungen setzen, um den Infowar des freien Marktes zu zähmen, keine Rolle. Schön, daß wenigstens der Medienkünstler Ingo Günther die Diplomatie als friedliche Variante des Infowars betonte. Den Massenmedien, insbesondere CNN, riet er, ihre Kameras auf die Kundschafter und ihr Verhandlungsgeschick auszurichten, statt fliegende Cruise Missiles, Opfer und Blutorgien aufs Korn zu nehmen. Der Aufruf von Shen Weiguang, Foren und Komitees zur Erhaltung des Weltfriedens zu gründen, erinnerte dagegen an die hohlen Gesten und Rhetoriken kommunistischer Vergangenheit.

Der General erscheint

Höhepunkt sollte nach Willen der Veranstalter eine Videokonferenz mit Paul Virilio werden. Und dies gelang auch. Doch es waren weniger die News und Erzählungen Virilios, die überraschten: Die Bilder des Schreckens, die er malte, waren sattsam bekannt und wieder einmal breit gestreut. Sie reichten von der Infobombe, die Wirtschaft, Politik und die Wissenssysteme erfaßt hätte, über den Krieg um Beschleunigung, das Verschwinden des öffentlichen Raums durch die Zeit und die Überwachung des Bürgers durch elektronische Armbänder oder Handys, bis hin zur Kybernetisierung sozialer Beziehungen und der Einsicht, der Mensch habe genetisch das Ende der Fahnenstange erreicht.

Viel mehr beeindruckte Virilio durch Outfit und Auftreten. Das olivgrüne Hemd mit Schulterklappen, das er trug, die Überlebensgröße, die er auf der Leinwand vermittelte, der Tonfall von Stimme und Sprache, die keinen Widerspruch oder gar alternative Sichtweisen dulden wollten, verliehen seinem Auftritt etwas Erhabenes. Hier saß der Generalstabschef der Kritik, der mal milde, mal entrüstet auf Fragen aus dem Off der Kamera reagierte. Egal ob Murdoch, Turner oder Virilio, vor dem Bildschirm werden sie alle gleich. Unschwer war zu erkennen, daß der Dromologe Distanz verloren und Aufklärer, Moralist und Kunstkritiker der Technik geworden ist. Ihn amüsierte beispielsweise, daß seine Texte inzwischen an Elitehochschulen des Militärs gelesen werden. Der Katholik kam durch, als er meinte, niemand sei unschuldig, aber verantwortlich für das, was er von sich gebe. Empörung brach aus ihm heraus, als er an einige Vorzüge moderner Technik erinnert wurde. Von elektronischen Halsbänder oder Strichcodes, die einen offenen Strafvollzug erlauben, oder von Aktionen wie "Operation Kathedrale", durch die kürzlich ein internationaler Kinderpornoring gesprengt wurde, die Kindern helfe, wollte Virilio nichts hören. Ihn interessierte das Apokalyptische an der Technik. Als Angehöriger (Jahrgang 1932) jener Generation, die die Schrecken des Krieges am eigenen Leib erfahren hätte, nahm er sowohl das Recht als auch die Verpflichtung für sich in Anspruch, mit Empathie gegen die Begeisterung und Euphorie, die in und durch die Medien geschürt werde, anzugehen.

Dieser Hinweis saß. Wer wollte da noch widersprechen? Vor allem nachdem Virilio zum Letztschlagargument ausholte und, jetzt in Fahrt gekommen, das 20. Jahrhundert als das schlimmste von allen bisherigen bezeichnete.

Der Infowar hat schon stattgefunden

Viel Optimismus in Sachen neuer Medien konnte der Beobachter von dieser Konferenz nicht mitnehmen. Das war neu in Linz. Vehement wurde dieses Mal die Euphoriebremse getreten. Und das war wohl auch die Absicht Gerfried Stockers, den Künstlern und Medienaktivisten einmal den Spiegel vorzuhalten, ihnen bewußt zu machen, daß die Gegenstände, mit denen sie tagtäglich hantieren, allesamt Abfallprodukte einer waffentechnologischen Eskalation sind.

Anderen dürfte hingegen klar geworden sein, daß mit der Vernetzung und der Digitalisierung des Datenverkehrs eine klare Grenze zwischen zivilen und militärischen Bereichen nicht mehr zu ziehen ist. Infowar, so diffus und unklar der Begriff auch in Linz blieb, ebnet die Unterschiede ein. Was für das Private und das Politische in Mediendemokratien zutrifft, gilt auch hier. Eine Vermengung und Amalgamierung zwischen Bürgern und Militärs findet statt. Jeder User wird, sobald er an das globale Datennetz angeschlossen ist, mögliches Angriffs- und Zielobjekt des Infowars. Nur wer Nordkoreaner ist oder Bewohner Madagaskars, bleibt nach Lage der Dinge davon verschont, vorerst wenigstens. Wo kein Netzanschluß oder Screen im Haus, dort auch kein Cyber-, Net- und Infowar. Andere Medien übernehmen dort die soziale Bindung an das Regime.

Andererseits ist all das weidlich bekannt. Schon immer dienten Medien wie Verkehrssysteme, Flußläufe, Landschaften, Stromleitungen, Fernübertragungen zuallererst den Bedürfnissen, Interessen und Zwecken der Militärs. Nach Harold Adams Innis hat ein Imperium nur solange Bestand, wie es ihm gelingt, mithilfe verschiedener Medien die Dominanz über Raum und Zeit auszuüben. Nicht von ungefähr benutzten bei den Römern Kuriere wie Kohorten die gleichen Wege. Also doch nichts Neues unter der Sonne?

Zu warnen ist jedenfalls vor jeder Überdramatisierung. Gewiß, die Gleichung Kommunikationssysteme = Informationswaffen ist im Hinterkopf zu behalten. Auf den Wandel und "die Zukunft des Krieges" hat, unbeachtet allerdings von der Öffentlichkeit, Martin van Creveld bereits 1991 in seinem gleichnamigen Buch (auf deutsch jetzt bei Gerling Akademie Verlag) aufmerksam gemacht, während hierzulande noch heftigst über Posthistoire und Postmoderne gestritten wurde. Das Verdienst Arquillas und Ronfeldts mag es gewesen sein, dies auf die Infosphäre übertragen und in ein Gesamtbedrohungsszenario eingebunden zu haben, das einige Amerikaner und ehemalige Gegner in helle Aufregung stürzt.

Infowar findet aber nicht hauptsächlich auf dem Schlachtfeld statt, sondern im Kopf. Hat er einmal das Bewußtsein der Leute erreicht, wirkt er dort wie ein Mem. Eine eigenartige Dynamik entsteht: ein Krieg, der sich selbst zeugt, sich via Hirn und Maschine.kopiert und repliziert. Der Krieg als Form zwischenstaatlicher Auseinandersetzung erfaßt den Alltag. Der "Ausnahmezustand" wird zum Normalzustand, die Gesellschaft in eine permanente Mobilmachung versetzt. Gegen den Gast (host), der ein Feind ist, werden Frühwarnsysteme installiert, an den territorialen Grenzen genauso wie in den virtuellen Netzen. Eine Paranoia breitet sich aus, die Mär vom "großen Bruder", der alles hört, sieht und speichert. Gefördert wird all das durch die Globalität und Durchlässigkeit des Netzes. Dort wimmelt es nur so von Memetikern, Paranoikern und Verschwörern, die Gerüchte streuen und hinter allem Betrug, Manipulation und Verschwörung vermuten. Wer hier noch seinen Augen trauen und bei Verstand bleiben will, tut sich schwer.

Woran kann der Beobachter dann glauben, woran sich orientieren? Gar mancher schaltet inzwischen ab oder kehrt wieder zu alten Medien zurück. Er beschreibt alte Zettelchen, meidet das Handy oder benutzt bewährte Mittel wie tote Briefkästen. Andere wiederum setzen auf Adressen. Glaubwürdigkeit ersetzt dort Realität. Kein Allheilmittel, aber eine mögliche Form, sich vor der Paranoia zu schützen, bietet vielleicht die Kybernetik zweiter Ordnung. Sie schlägt vor, anstelle von Schirm, Welt oder Maschine den Beobachter zu beobachten, wie er beobachtet. Auf diese Weise wird Distanz zwischen sich und den sich selbst stimulierenden Texten, Bildern und Spielen gebracht, die nötig ist, um der autosuggestiven Kraft der Infowar-Rhetorik nicht zu erliegen.

Nachdenklicher als alle Aufgeregtheiten stimmten mich während dieser Tage zwei Beobachtungen am Rande. In früheren Jahren trafen sich, zumindest an schönen Tagen, die Leute in der Mittagspause zum Sonnenbad auf den Stufen des Brucknerhauses zum gemütlichen Plausch. Diese Zeiten sind offenbar vorbei. Junge Netzwerker und Infokrieger haben dafür nichts mehr übrig. Trotz strahlendem Wetter und angenehmen Außentemperaturen hockten sie hinter ihren Maschinen und probten den Bottom Up Information Warfare. Tags zuvor wiederum, als es wie aus Kübeln schüttete, suchte ein Nomade des real life mit Einbruch der Dunkelheit nach einem trockenen und warmen Plätzchen. Von dieser besonderen Form von Infowar in den Städten nahm niemand Notiz.