Der Mann, der George Smiley war

Tinker Tailor Soldier Spy

Eine Spurensuche in zwei Teilen

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People die and memories fade

John Bingham, The Hunting Down of Peter Manuel

Seit in Venedig Tomas Alfredsons Verfilmung von John le Carrés Meisterwerk Tinker Tailor Soldier Spy uraufgeführt wurde, ist die Diskussion darüber eröffnet, wer der bessere George Smiley ist: Gary Oldman in der Leinwandversion oder Alec Guinness im legendären TV-Mehrteiler der BBC von 1979? Während die Fans von John le Carré noch darauf warten müssen, sich selbst eine Meinung bilden zu dürfen (der deutsche Kinostart von Alfredsons Film ist für Februar 2012 angekündigt), könnten sie die Zeit nutzen, um den Mann zu entdecken, der das reale Vorbild für George Smiley war. Er hieß John Michael Ward Bingham, arbeitete jahrzehntelang für den britischen Geheimdienst und veröffentlichte als John Bingham ein Sachbuch über einen Serienmörder und 17 Romane, die noch immer sehr lesenswert sind.

Struktur der Falle

Wie führt man in das Werk eines Autors ein, der zu Lebzeiten von den Kritikern gefeiert wurde und heute weitgehend vergessen ist, weil zwischen literarischer Qualität, kommerziellem Erfolg und Nachruhm kein ursächlicher Zusammenhang besteht? Vielleicht, indem man ihn mit jemandem vergleicht, den jeder kennt. Hitchcock bietet sich an, weil so ein Vergleich deutlich macht, dass John Bingham kein Schlechter ist und weil die beiden in der Tat einiges gemeinsam haben. Nehmen wir Hitchs letzten Film. In Family Plot fahren Blanche und George, das Liebespaar, in ihrem roten Taxi durch die Nacht. Plötzlich muss George bremsen, weil vor ihnen eine Frau im schwarzen Mantel und mit schwarzem Schlapphut die Straße überquert.

Family Plot

In jedem anderen Hollywoodfilm würden wir anschließend mit Barbara Harris und Bruce Dern die Fahrt im Taxi fortsetzen, weil sie als Identifikationsfiguren eingeführt wurden und weil man das so macht. Hitchcocks Kamera dagegen lässt das rote Auto in der Nacht verschwinden und folgt nun Fran (Karen Black), der Frau in Schwarz, die bald mit ihrem Komplizen Arthur (William Devane) einen Bischof entführen wird. Damit scheinen wir ganz unerwartet in einer völlig anderen Geschichte mit anderen Figuren gelandet zu sein. Das kann sehr verwirrend sein, weil es unseren Erwartungen widerspricht und wir gelernt haben, dass das eigentlich gar nicht passieren dürfte.

Bingham macht es in mehreren seiner Bücher genauso. Er beginnt mit einer Hauptfigur, um diese mitten in der Handlung - scheinbar - an den Rand der Geschichte abdriften zu lassen und durch eine neue abzulösen. Das ist sehr wirkungsvoll, weil es uns zwingt, eine andere Perspektive einzunehmen und unser bisheriges Urteil zu überprüfen. So etwas mahnt zur Wachsamkeit und stimuliert das Denken, ist somit eine schöne Alternative zur die Bestsellerlisten verstopfenden Krimi-Konfektion.

Natürlich besteht zwischen den beiden Paaren in Family Plot eine Beziehung, die wir nur noch nicht kennen. Hitchcock hat für das Bauprinzip seines Films ein schönes Bild gefunden. Maloney, der Blanche und George ermorden wollte und dabei selbst ums Leben kam, wird beerdigt. George will nach der Zeremonie mit der Witwe sprechen, Mrs. Maloney will das auf keinen Fall. Also folgt sie einem Weg, der von George wegzuführen scheint. George nimmt einen anderen. Hitchcock zeigt aus der Vogelperspektive, dass sich George und Mrs. Maloney treffen werden, weil der Friedhof so angelegt ist, dass sich die Wege nach einigen Richtungswechseln begegnen, auch wenn es zunächst nicht so aussieht.

Family Plot

Manchmal, demonstriert Hitchcock mit dieser Szene, macht es den Eindruck, als wären die Figuren in der falschen Richtung unterwegs. Trotzdem werden sie zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein, weil hier ein souveräner Geschichtenerzähler am Werk ist, der dafür Sorge trägt, dass das Ende im Bezug zum Anfang steht. Auch Bingham handhabt seine Krimiplots mit der Souveränität eines erfahrenen Strippenziehers, der die Übersicht behält, wenn sich seine Figuren in Situationen verlieren, die mitunter bizarr sind und mitunter so banal, dass das Alltägliche weit schrecklicher wirkt als jede Verschwörung sinistrer Mächte. Beide, Hitchcock wie Bingham, interessieren sich für die Struktur der Falle, in die sich ihre Charaktere unweigerlich begeben, wenn sie gegen die Gesetze der Moral verstoßen. Angesichts einer aus den Fugen geratenen Welt (Bingham und der Hitchcock ab Shadow of a Doubt reflektieren Auschwitz und dessen Konsequenzen für das Menschenbild immer mit) beziehen sie etwas Trost aus der Überzeugung, dass die Kunst noch eine Struktur vorgeben kann, die es sonst nicht mehr gibt und dass das eigene Gewissen der strengste Richter ist. Am Ende bezahlen die Täter - ob gerichtlich belangt oder nicht - mit dem Gefühl der Schuld, die sich in ihre Seele frisst.

Dritte Haut

Binghams erster Roman, My Name is Michael Sibley (1952), fängt damit an, dass der Ich-Erzähler Besuch von der Polizei bekommt, worauf sein Leben, das gerade noch so geordnet schien, im Chaos zu versinken droht:

Ich schätzte sie als erstklassiges Team ein: der Inspektor, eine kompetente, unbarmherzige Polizeimaschine; gründlich, die Routinemethoden der Verbrechensaufklärung beherrschend, sehr erfahren. Und der Sergeant, geistig elastischer, subtiler, unterstützt durch die phantasievolle Veranlagung in seinem keltischen Blut.
Als ich die Tür geschlossen hatte, sagte der ältere der beiden Männer: "Wir sind von der Polizei." Er stellte sich und seinen Kollegen vor, und während er das tat, griff er mit der rechten Hand in die Tasche seines Jacketts, zeigte kurz einen Dienstausweis in einem Lederetui und steckte ihn zurück in die Tasche. Die Bewegung war gewandt und lief ab wie geschmiert, synchron zu den Worten. Es entstand der Eindruck eines Mannes, der so viele Jahre seines Lebens damit verbracht hatte, dasselbe zu tun, dass es ihm zur zweiten Natur geworden war. Man konnte ihn vor sich sehen, wie er Tag für Tag sagte: "Wir sind von der Polizei", und wie er auf diese Worte die rasche Bewegung mit dem Dienstausweis folgen ließ.
Wahrscheinlich hatte noch nie jemand den Mut gehabt und darum gebeten, den Ausweis genauer ansehen zu dürfen. Mir kam der Gedanke, dass es genauso gut eine Zählkarte beim Golf oder ein Wäschezettel hätte sein können. Der Inspektor sagte: "Es handelt sich um den Tod von Mr. Prosset, Sir."

Prosset war Michael Sibleys Schulfreund. Sibley hat ihn am Abend zuvor in dem Landhaus am Meer besucht, in dem die Leiche entdeckt wurde. Das will er den Polizisten auch gleich sagen, aber dann möchte der Inspektor erst seine Personalien aufnehmen, weil das zur Routine gehört, und als Sibley klar wird, dass Prosset ermordet wurde, behält er den Besuch lieber für sich. Das ist der Beginn eines raffiniert konstruierten Psychothrillers, in dessen Verlauf uns Sibley seine Geschichte erzählt. Wir erfahren, dass er sich von Kindheit an von Prosset dominiert und gedemütigt fühlte, dass Prosset mit seiner Verlobten geschlafen hat, dass er Prosset gehasst hat und dass er ihn um ein Haar ermordet hätte, was jetzt aber ein anderer erledigt hat.

Unterbrochen wird diese Beichte durch weitere Verhöre, bei denen Sibley Stück für Stück zugeben muss, was wirklich passiert ist und immer neue Aussagen unterschreibt ("freiwillig", also von den Polizisten geschickt unter Druck gesetzt), in denen er zuvor gemachte Angaben korrigiert. So wirkt er umso schuldiger, je ehrlicher er ist, und als er endlich alles gesagt hat und glaubt, es damit hinter sich zu haben, wird er unter Mordanklage gestellt. Mit solchen Inhaltsangaben verdirbt man keinem Leser den Spaß an der eigenen Lektüre, weil sie höchstens an der Oberfläche von Binghams Büchern kratzen. Solche Zusammenfassungen lassen nicht die ebenso sorgfältig vorbereiteten wie überraschenden Wendungen seiner Plots erahnen, und ohnehin entwickelt Bingham Spannung aus der psychologischen Verfassung seiner Charaktere heraus und nicht aus der Frage nach dem Mörder.

"Am Whodunnit", meint John le Carré, "war er nicht interessiert. Aber als Meister des Verhörs und als Erforscher der menschlichen Motive wollte er das Whydunnit wissen und ob der Gerechtigkeit Genüge getan wurde." Es geht bei Bingham nicht primär darum, wer der Mörder ist, sondern um die Gründe für menschliches Verhalten, und es geht auch nicht darum, wie der Gerechtigkeit zum Sieg verholfen wird, sondern ob überhaupt. My Name is Michael Sibley spielt am Vorabend des Zweiten Weltkriegs, aber geschrieben wurde der Thriller mit dem Wissen um das, was danach geschah. Die einfachen Sicherheiten einer Agatha Christie (am Anfang geschieht ein Mord und am Ende liefert der unbestechliche Hercule Poirot die Auflösung) gibt es bei Bingham nicht mehr.

In The Third Skin (1954) beteiligt sich der junge Les an einem Einbruch, um an Geld für die anspruchsvolle Cynthia zu kommen, die ihm schöne Augen macht. Der Einbruch geht schief, ein Hausmeister wird getötet, und von da an entwickelt sich das Buch, das als Krimi über jugendliche Straftäter anfängt, zu einer Studie darüber, welche Folgen ein Gewaltverbrechen für die Beteiligten hat: von den Tätern über die Angehörigen bis zur Polizei. Das ist wieder sehr geschickt konstruiert, und am Ende gibt es eine überraschende Wendung, die sogar dem zunächst nur reißerisch anmutenden US-Titel seine Rechtfertigung gibt: Murder is a Witch.

Emotionales Zentrum des Romans ist Les’ alleinerziehende Mutter Irene, die den frühen Tod ihres Mannes verarbeiten musste und dabei eine Theorie zur Beschaffenheit der Menschen entwickelt hat:

Es gab die erste Haut, die aus den Charakterzügen bestand, welche die Leute der Welt präsentierten und von denen sie hofften, dass sie die Welt täuschen würden.
Dann gab es die zweite Haut, bestehend aus den durch die erste verdeckten Fehlern und Schwächen - die Selbstgefälligkeit hinter dem zur Schau gestellten Mangel an Selbstvertrauen, die durch die Eitelkeit verursachte Schüchternheit hinter der zur Schau gestellten Aggressivität, die verschlagene und kalkulierende Wesensart unter dem Anschein von Gutmütigkeit und Jovialität.
Viele waren stolz darauf, eine zweite Haut zu erkennen. Wenige wussten von der Existenz einer dritten Haut. Es erforderte Zeit und einen gewissen Grad an Übung, um dahinterzukommen, wie man sie erkennt. […] Sie dachte: Die dritte Haut ist das Kind in allen Männern und Frauen, so gut oder schlecht sie auch sein mögen; das Kind, das Sandburgen baut und Angst vor der Dunkelheit hat. In Kriegszeiten sieht man es auf Bahnhöfen, wo sich ein Soldat von seiner Frau verabschiedet. Da sind sie dann wieder zwei Kinder, die gesagt haben: "Wir gehen zum Sandkasten im Garten und bauen uns eine Sandburg und spielen und sind glücklich."
Die Verkrustungen von vielen Jahren, der Zynismus und die Selbstsucht, die durch enttäuschte Hoffnungen entstandene Abgestumpftheit werden abgestreift und ihnen wird bewusst, dass das, was sie wirklich wollen, die einfachsten Grundlagen sind, die man braucht, um glücklich zu sein, das Lebensnotwendige, und die Nähe zu anderen Menschen, das Geben und Erhalten von Zuneigung.

Aus so einer Theorie ließe sich das Rezept für eine dieser Schmonzetten herstellen, mit denen ARD und ZDF ihr Programm zumüllen, und auch der Papst würde manches finden, mit dem sich begründen lässt, warum alles so bleiben muss, wie es ist. Bei Bingham ist das anders. Morde und Besuche von der Polizei brechen bei ihm die "Verkrustungen von vielen Jahren" auf, und das eröffnet ihm die Möglichkeit, zur dritten Haut vorzustoßen. Ihre Spannung beziehen die Romane nicht zuletzt daraus, dass man bis zum Schluss nicht sicher weiß, welche Schicht man schon erreicht hat. Bingham nimmt einen mit an Orte in der Psyche seiner Charaktere, zu denen man nicht will und wo man, einmal dort angekommen, doch immer weiterliest, weil man wissen will, was hinter der nächsten Ecke noch alles lauert und wo der eigentliche Abgrund ist.

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